Disclaimer:
1. Ich habe mir die
meisten Charaktere und die Grundidee von Tsukasa Hojo geklaut, alles
andere ist meiner eigenen Fantasie entsprungen.
2. Ich habe die ganze
Sache etwas umgebogen, habe nämlich das Café gestrichen
und aus den dreien einfach normale Studenten gemacht.
Ein mögliches Ende nach der 73. Folge
by Merle Globisch
1. Was vorher meiner Meinung nach geschehen sein kann
Michael
Heintz wird am 03.07.1928 in Berlin geboren (seine Mutter ist kurz
nach seiner Geburt gestorben, er wird von seinem Vater erzogen). 1939
muß er wie so viele andere Maler zur Nazizeit aus Deutschland
fliehen (sein Vater vertraut ihm seinem Onkel an; Vater bleibt in
Deutschland zurück, obwohl er selber befürchten muß
von den Nazis gefaßt zu werden, da er als Journalist für
die Nazis "unbequeme" Ansichten in seinen Artikeln äußert).
Michael flieht also '39 in die damals ja neutrale Schweiz. Wenig
später muß er aber erfahren, daß sein Vater von der
Gestapo im Schlaf überrascht und getötet wurde.
Michael
Heintz wandert 1959 aus den USA nach Japan aus und heiratet zwei
Jahre später dort. Am 15.07.’62 wird Nami geboren, am
28.10.’64 Hitomi und am 12.01.’69 Love. Allerdings kommt
die Mutter der drei und seine Frau 1971 bei einem schweren Autounfall
in Boston, USA (sie war dort für einige Wochen in ihrem Beruf
als Dolmetscherin tätig) um.
1981
hält sich Michael über den Sommer für einige Wochen in
Bern auf, wo er ein paar Vorträge an der Kunstakademie halten
soll. Er hat dort auch eine Zweitwohnung, und auch einen Großteil
seiner Sammlung lagert er dort, nur wenige Stücke sind Zuhause
in Japan.
Die
Geschwister werden von einem dort lebenden Freund ihres Vaters
benachrichtigt, daß Michael plötzlich spurlos verschwunden
ist, und seine Sammlung ebenfalls...! Die drei fliegen sofort mit
einem Freund der Familie (Herr Nagaishi) auch nach Bern. Und dort
erfahren sie von diesem Freund, daß Michael vermutlich von
Leuten verfolgt wurde (und wird), und daß die Gründe und
die Antworten in der Vergangenheit ihres Vaters zu suchen seien. Der
Freund weiß selber nichts genaues über Michael’s
Vergangenheit, weil er ihn dafür noch nicht lange genug kennt.
Ihr
Vater scheint vor irgend welchen geheimnisvollen Leuten geflohen zu
sein und versteckt sich jetzt vor denen. Aber warum wissen sie nicht.
Aber
sie finden heraus, daß seine Sammlung scheinbar in großer
Eile verkauft wurde, und ihr Vater hat das nicht selbst getan, jedoch
scheint auch der eigentliche Verkäufer (dessen Namen sie bald
erfahren) spurlos verschwunden...! Und zunächst finden sie
nichts genaueres über den Verbleib der Bilder heraus.
Auch
in der Folgezeit sieht es nicht viel besser aus, sie versuchen zwar
die Vergangenheit ihres Vaters zu durchleuchten, finden aber
niemanden mehr, der darüber genauer Bescheid weiß. Auch
sie selber wissen nur daß ihr Vater aus der Schweiz geflohen
ist, dann in die USA, und danach nach Japan übergesiedelt ist.
1983,
und bis jetzt haben sie im Ganzen nicht sehr viel mehr herausfinden
können. Sie wissen ja nicht einmal, ob ihr Vater noch lebt,
geben ihn aber trotzdem nicht auf. Er versteckt sich vor irgend
welchen Leuten, vor augenscheinlich ziemlich mächtigen Leuten.
Und sie müssen etwas mit der deutschen Vergangenheit ihres
Vaters zu tun haben.
In
der Zeit von ‘81-’83 tauchen immer mehr Kunstwerke aus
der Sammlung ihres Vaters bei privaten Sammlern und Museen - vor
allem in Japan - auf. Mit Hilfe ihres Freundes Herrn Nagaishi
überprüfen sie das. Die Kunstgegenstände müssen
in direktem Zusammenhang zu dem Verschwinden ihres Vaters stehen.
Besonders die privaten Sammler scheinen allzu oft Verbrecher zu sein.
Sie
spüren, daß sie nur über die Sammlung den Grund für
das Verschwinden, die geheimnisvollen Verfolger und Michael selbst
lebend wiederfinden werden. Und so werden sie schließlich zu
Dieben. Wer die Idee zuerst hatte, weiß hinterher keiner mehr
so genau. Herr Nagaishi agiert dabei im Hintergrund, er besorgt ihnen
die nötigen Informationen und Mittel um die Sache durchzuziehen.
Es wird bald klar, daß Michael indirekte Hinweise auf seine
Verfolger und damit den Grund seines Verschwindens gegeben hat,
besonders in den früheren Werken.
Ende
des Jahres 1984. Sie erfahren durch einen Sammler, der wohl kein
Krimineller zu sein scheint, und den sie bestehlen wollen, von einem
anderen Kunststudenten, mit dem sich Michael ab 1944 in Bern eine
Wohnung geteilt hatte. Der Vater des Sammlers war Lehrer an der
Kunsthochschule in Bern und hatte auch Michael als Schüler. Der
Sammler kannte Michael selbst nicht, und auch nur seinen Mitbewohner
flüchtig. Aber er erfuhr durch Zufall etwas von den schmutzigen
Geschäften, die dieser Mitbewohner mit einer Gruppe von Nazis
trieb. Jedoch wurde dieser Ende 1944 brutal ermordet, regelrecht
hingerichtet, aufgefunden. Und kurz darauf verschwand auch Michael.
Der Vater des Sammlers stellte danach selbst einige Nachforschungen
an, weil er vermutete, daß da etwas nicht stimmte.
Und
er fand etwas für ihn sehr gefährliches heraus, denn einige
Tage später übergab er seinem Sohn einen Umschlag mit den
Worten, er solle ihn gut verstecken und auf keinen Fall einem anderen
zeigen. Danach verschwand er und wurde wenige Tage später mit
durchschossenem Schädel in einer Gasse aufgefunden...!
Der
Sohn wußte, daß der Tod seines Vaters etwas mit dem
Umschlag zu tun haben mußte. Er öffnete ihn und fand
Listen einer deutschen Behörde, in denen Lieferungen von
Nazigold an Schweizer Banken der letzten zwei Jahre aufgelistet
waren. Er entnimmt den Listen und einigen Randbemerkungen außerdem,
daß hier eine ziemlich große Summe Gold unterschlagen
wurde. Außerdem den Namen eines bedeutenden Vorstandsmitgliedes
der Bank, für die die Goldlieferungen bestimmt waren. Der hatte
wohl bestimmten Leuten geholfen das Gold unbemerkt zur Seite zu
schaffen und hing selber bis zum Hals in der Sache mit drin.
Michael’s Mitbewohner hatte dabei wohl als eine Art Handlanger
fungiert.
Der
Sohn wußte, daß er da eine brisante Sache in Händen
hielt, und daß sein Vater dafür sterben mußte. Er
behielt den Umschlag zwar, versteckte ihn aber und stellte keine
weiteren Nachforschungen mehr an, die auch ihn das Leben kosten
könnten...!
Die
Kinder vermuten jetzt, daß Michael auf irgendeine Weise in die
Sache verwickelt ist, obwohl sie nicht glauben, daß er auch in
der Ermordung ihres Freundes mitdrinhängt. Er scheint wohl eher
über seinen Mitbewohner etwas über die Geschäfte der
Nazis mitgekriegt zu haben und ist deshalb 1945 aus der Schweiz in
die USA geflohen. Aber da muß noch mehr sein, und diese Sachen
zusammengenommen scheinen auch der Hintergrund für sein jetziges
Verschwinden zu sein...!
Er
wußte schon von Anfang an zu viel und wird schon die ganze Zeit
von den Leuten, die damals ihre Hände im Spiel hatten ,
verfolgt.
Das
war ein äußerst wichtiger Schritt für die Katzen,
weil sie jetzt zumindest eine ungefähre Spur haben und wissen,
in welcher Richtung sie suchen müssen - nämlich in der
Vergangenheit. Gleichzeitig ist das Ganze aber auch ziemlich
beunruhigend, weil sie es mit einer sehr gefährlichen Sache zu
tun zu haben scheinen. Und weil sie noch nicht einmal annähernd
abschätzen können, wie weit diese Geschichte noch reicht,
die ihre Wurzeln in dunkelster Vergangenheit zu haben scheint, wer
alles mitdrinhängt und in wie weit ihr Vater etwas damit zu tun
hat...!
Juni
1985:
Bei
einer Aktion nimmt ein Mann Kontakt mit den Katzen auf, der sagt, daß
er ein alter Freund ihres Vaters sei. Er sagt, er habe Michael
kennengelernt, als der noch in Amerika lebte. Und er sagt, Michael
habe ihn gebeten sie zu finden und ihnen eine Botschaft zu
überbringen. Michael tut es unendlich leid, daß er auf
diese Weise verschwinden mußte und er täte nichts lieber
als den ganzen Spuk einfach zu beenden und wieder zurück in sein
altes Leben mit ihnen zu kommen. Doch noch geht das nicht, denn er
wird immer noch verfolgt, aber er denkt, daß eine Chance
besteht, und daß sie gemeinsam wieder ein normales Leben führen
können. Aber sie müssen ihm helfen diese Geister der
Vergangenheit zu vertreiben. Er kann ihnen nicht die ganze Geschichte
erzählen, weil sie das zu sehr in Gefahr bringen würde.
Doch er gibt ihnen einen Hinweis auf einen Mann, von dem er denkt,
daß er ein wichtiger Schlüssel ist. In seiner
gegenwärtigen Lage sei es viel zu gefährlich für ihn
selbst Nachforschungen über diesen Mann anzustellen, aber er
weiß, daß seine Töchter als Katzen das schaffen
können.
Der
Freund, der ihnen das alles von ihrem Vater erzählt hat, fügt
noch hinzu, daß der Mann, ein Westdeutscher Anwalt mit Namen
Karl-Heinz Reimers, in den späten 60ern längere Zeit für
die Schweizer Bank gearbeitet hat, von der sie wissen, daß sie
in die Unterschlagungen des Nazigoldes in den 40er Jahren verwickelt
war.
Er
soll auch Geschäftsbeziehungen mit einer Mafiaorganisation in
den USA haben. Er ist zur Zeit in Japan, und er hat vor, hier ein
wichtiges Drogengeschäft über die Bühne zu bringen,
bei dem er als Kontaktmann fungieren wird. Er hat schon seit längerem
Kontakte zu hiesigen Käufern, und kennt sich im Lande recht gut
aus. Die Drogen sollen an Bord eines Navy-Schiffes geschmuggelt
werden, das in wenigen Tagen in Tokio ankommen wird. Zahlungsmittel
wird neben einer Summe Bargeld auch ein Gemälde aus der Sammlung
ihres Vaters sein.
Wenn
sie irgendwie herausfinden können, was Reimers weiß, oder
was geschehen ist, werden sie einen großen Schritt weiter auf
dem Weg gegangen sein, der sie zu der Wahrheit führt, die vor
über 40 Jahren ihren Anfang nahm. Und nicht zuletzt werden sie
auch die Chance haben ein weiteres Stück aus der Sammlung ihres
Vaters wieder zurückzubekommen.
Doch
es kommt alles ganz anders. Denn die Polizei hat Wind von der
Übergabe bekommen, und die kippen die Veranstaltung. Alle, außer
Reimers, werden verhaftet. Reimers flieht und setzt sich ins Ausland
ab, sie können ihn nicht die in die Finger bekommen und auch
nicht verfolgen. Das Bild bekommen sie zwar hinterher noch in die
Hände, doch Reimers scheint für sie - zumindest vorerst -
außer Reichweite zu sein.
Trotzdem
kann ihnen eine nochmalige gründliche Überprüfung von
Reimers Vergangenheit folgendes sagen: Der Bankkonzern, für den
Reimers gearbeitet hat, war laut den Listen, die sie von dem Sammler
bekommen haben, in die Unterschlagung von über 350 Millionen
US-Dollar verwickelt. Reimers war eine Zeit lang einer von drei oder
mehr Anwälten, die den Konzern in Rechtsfragen vertraten. Dabei
muß er wohl etwas über die Gruppe von Nazioffizieren, die
ihrerseits die Unterschlagung hauptsächlich in die Wege geleitet
hatten, herausgefunden haben. Von etwa dem Zeitpunkt an muß er
mit diesen Leuten in Kontakt getreten sein.
Wenig
später erreicht sie ein Brief von Reimers:
„Ich
kann eigentlich nur vermuten, daß Sie die Kinder des Mannes
sind, dem diese Leute nun schon so lange hinterherjagen. Ihr Vater
ist ein verdammt zäher Bursche, und ich muß zugeben, ich
bewundere ihn ein bißchen. Aber glauben Sie nicht, daß
ich Ihnen diesen Brief hier schreiben würde, wenn ich nicht
wüßte, daß mir nicht mehr sehr viel Zeit bleibt.
Ich
weiß, daß ein Killer auf mich angesetzt wurde. Ob nun von
den Leuten, mit denen ich Geschäfte gemacht habe, und die jetzt,
da ich fliehen muß, fürchten, daß ich rede um meine
Haut zu retten; oder von denen, die einmal meine Geschäftsparter
waren und Ihren Vater jagen, ist eigentlich einerlei. Kriegen werden
sie mich vermutlich sowieso.
Aber
bevor ich abtrete, will ich, daß diese Größenwahnsinnigen
nicht mit ihrem Haufen voller Geld und ihren Gespenstern der
Vergangenheit so einfach leben können, wie sie das gerne tun
würden, wenn ihr Vater ihnen nicht immer noch im Weg wäre.
Je
länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, daß
es einer von denen war, der mich hat hochgehen lassen, und daß
ich niemals meine Seele an diese Teufel hätte verkaufen sollen.
Ich kann mit dem, was ich weiß, einige mächtige Leute zu
Fall bringen. Die haben Präsidenten sterben sehen, und die
werden auch über meinen Tod lächeln.
Am
Anfang habe ich sie erpreßt, mit dem, was ich über ihre
Geschäfte mit unterschlagenem Nazigold im Werte von mehreren
hundert Millionen Dollar herausgefunden hatte. Dann bin ich ihr
Partner geworden; man könnte sagen, daß ein - zwar
wichtiger, aber dennoch entbehrlicher - Kontaktmann zur
amerikanischen Mafia war. Bald ist mir klar geworden, daß
Gespenstern wie denen Hilter’s Geister immer noch im Kopf
herumspuken. Auch wenn das in der heutigen Zeit, 40 Jahre nach dem
Krieg, vielleicht unwahrscheinlich klingen mag, aber es ist so. Ich
bin ein Verbrecher, man könnte sogar sagen, daß ich mein
Schicksal verdient habe, aber diese Geister sind nichts für
mich.
Ich
kann Ihnen nur zwei Namen nennen. Den einen werden sie wahrscheinlich
schon kennen. Sebastian Steiner war Vorstandsmitglied in der Bank,
für die ich in den 60ern gearbeitet habe. Bis zu seinem Tod
Mitte der 50er ist er der Einflußreichste im Vorstand gewesen,
und ich fand heraus, daß er um das unterschlagene Gold und
einiges mehr wußte. Das alles gab er vor seinem Tod seinem
Neffen, Günther von Kapp, weiter. Kapp übernahm auch seine
Position im Vorstand und hat seitdem in der Gruppe - soweit sie nach
dem Krieg noch existierte - das Erbe seines Onkels angetreten. Ich
habe für Kapp gearbeitet, er war auch mein wichtigster
Verbindungsmann zu der Gruppe.
Außer
von Kapp sind mindestens noch zwei weitere Mitarbeiter der Bank in
die Sache verwickelt, und auch ein paar hochrangige DDR-Offiziere
hängen mit drin. Die Gruppe ist nach dem Krieg fast aufgelöst
worden, aber sie wurde von einem geheimnisvollen Anführer, den
selbst ich nie zu sehen bekommen habe, zusammengehalten und wieder
neu aufgebaut. Und diese Gruppe macht Jagd auf Ihren Vater.
Mehr
Informationen kann ich Ihnen nicht geben. Falls ich überlebe,
führt das zu sehr in meine Nähe, und wenn die mich
umbringen, nehme ich das Wissen wohl mit in mein Grab.“
Wenig
später findet Herr Nagaishi über seine Verbindungen heraus,
daß Reimers nur einen Tag nachdem der Brief datiert ist tot in
seinem Hotelzimmer in Rio de Janeiro aufgefunden wurde. Die Polizei
vermutet die Mafia dahinter, aber die Katzen glauben, daß es
die ‘Gruppe’ war.
Die
Sache wird langsam äußerst brisant...! Reimers hatte
angedeutet, daß diese Gruppe aus mächtigen Personen
besteht, die Visionen davon haben, so etwas wie das III. Reich wieder
zum Leben zu erwecken...! Auch wenn das, wie Reimers selbst gesagt
hatte, heute fast unmöglich wäre, macht es diese Leute
nicht weniger gefährlich - im Gegenteil. Die Geldmittel, die
Verbindungen und die Macht, die diese Gruppe zu haben scheint,
verschaffen ihnen die Möglichkeiten ihre wahnsinnigen Vorhaben
vorzubereiten...
Diese
Leute scheinen sehr gefährlich zu sein, und sie ziehen eine
blutige Spur hinter sich her. Und Michael scheint am Anfang Zeuge
ihrer Verbrechen geworden zu sein, und muß sich seitdem ständig
vor ihnen in Acht nehmen und sich verstecken. Er kann mit seinem
Wissen - vielleicht sogar mit Beweisen - diese Leute in große
Gefahr bringen.
Aber
sie haben immer noch nicht den direkten Auslöser dafür,
warum ihr Vater 1981 verschwunden ist, denn mehr oder weniger scheint
er sich schon sein ganzes Leben zu verstecken. Irgend etwas scheint
in diesem Sommer vorgefallen zu sein, das ihn zwang, erneut zu
fliehen und seine Spuren zu verwischen. Und der Schlüssel
scheint mehr denn je in der Vergangenheit zu liegen; besonders in der
Schweiz, der BRD und der DDR, wo alles seinen Anfang zu haben
scheint.
Im
Jahr 1986 passiert nicht sehr viel, sie kommen einfach nicht weiter,
obwohl sie jetzt schon so viele Hinweise haben. Und über von
Kapp finden sie nur heraus, daß er immer noch im Vorstand sitzt
und vermutlich finanzielle Geschäfte für die ‘Gruppe’
abwickelt.
Über
ihn könnten sie an die Gruppe heran kommen, aber er ist zur Zeit
unauffindbar, sozusagen auch verschwunden.
Erst
im März/April 1987 kommt wieder Bewegung in die Sache. Bei einer
Aktion bekommen die Katzen ein Bild in die Hände, von dem nur
der Rahmen von ihrem Vater stammt, und daher ist auch nur er für
sie von Interesse. Der Rahmen ist eine relativ frühe Arbeit von
ihm, ungefähr aus den Anfang 50ern.
Im
Rahmen versteckt finden sie ein kleines Stück Papier, auf dem
ein zunächst unverständlicher Teil einer chemischen Formel
notiert ist. Sie finden heraus, daß es ein Teil einer Formel
für extrem gefährliches Giftgas ist!
Das
könnte ein Schlüssel dafür sein, warum Michael damals
(1944) aus der Schweiz geflohen ist, denn aus irgend einem Grund
wußte er von der Formel.
Aber
es ist gleichzeitig auch sehr beunruhigend, weil sie nur vermuten
können, daß das Giftgas von deutschen Wissenschaftlern
entwickelt wurde. Und sie haben keine Ahnung, wie ihr Vater an die
Formel gekommen ist und wie tief er in die Sache verwickelt ist...!
Wenig
später taucht bei ihnen ein Mann auf, der behauptet, der frühere
Lehrer ihres Vaters zu sein. Er habe eine lange Zeit damit zugebracht
sie zu suchen, und jetzt, da er sie gefunden habe, habe er nur eine
Bitte an sie: sie sollen als Katzen eine Weinflasche stehlen, die
demnächst auf einer Auktion in Tokio versteigert werden wird.
Das Etikett auf dieser Flasche hat ihr Vater gemalt, das ist noch in
seiner Zeit in der Schweiz gewesen. Und er wolle sich noch einmal „an
diesem Meisterwerk von Heintz erfreuen“.
Es
ist erst kürzlich als einzige noch heile Flasche von zwanzig
anderen aus einem Anfang 1945 gesunkenen deutschen U-Boot geborgen
worden. Es sollte damals als besonderes Geschenk von Deutschland an
seine Verbündeten, die Japaner gehen.
Doch
der Mann erzählt ihnen, was die wirkliche Absicht dieser Sendung
gewesen ist. Denn die Weinflaschen sollten nur als Vorwand dienen, um
ein äußerst geheimes und schändliches Vorhaben zu
decken. Auf den Weinflaschen sollte die Giftformel, die sie schon aus
dem Rahmen ihres Vaters her kennen, von Deutschland nach Japan
gebracht werden, es sollte ein Gemeinschaftsprojekt von Nazis und
Japanern sein. Und in Japan sollte das Gas dann endgültig
hergestellt werden...!
Der
Mann erzählt ihnen auch, daß Michael den Auftrag die
Etiketten zu malen angenommen hat, ohne daß er von dem
wirklichem Zweck der Sendung wußte. Und als er es
herausgefunden hat, war es schon zu spät. Dennoch hat er damit
gedroht, die Leute öffentlich anzuprangern. Und als er dann auch
noch Zeuge wurde, wie sein Mitbewohner, aus welchen Gründen auch
immer, erschossen wurde, mußte er endgültig fliehen.
Die
Katzen stehlen die Weinflasche, und auch die vollständige Formel
findet sich darauf. Doch sie müssen bald feststellen, daß
der Mann sie belogen hat. Denn er will die Formel für sich
alleine haben, ist, nach eigenen Worten, sogar ein ehemaliges
Mitglied dieser Gruppe, und will mit der Formel seine ganz eigenen
„Ideen“ verwirklichen.
Er
nimmt ihnen die Flasche, doch bald darauf können sie sie wieder
zurückholen. Bei dieser Aktion verunglückt der Mann und
stirbt. Vorher nennt er ihnen aber noch einen Namen:
Viktor
Berger. Er ist der geheimnisvolle Anführer der Gruppe, der sie
damals zusammengehalten hat, und er ist es auch gewesen, der
höchstpersönlich den Mitbewohner von Michael umgebracht
hat. Er ist schon sehr alt, über 80, aber er leitet diese Gruppe
immer noch, und er ist hinter ihrem Vater her.
Das
ist der Stand der Dinge, an dem das folgende einsetzt.
2. Meine Vorstellung der „Quadratur eines Kreises“
Donnerstag, 10. September 1987
Tokio, Japan
„Nein,...das
kann nicht sein!“ Hitomi hoffte, dass sie nur träumte.
Reiko saß ihr in einem Café gegenüber, und Hitomi
blickte ihre Freundin wie erstarrt an. Das konnte doch alles nur ein
Traum sein, das war keine Realität. Sie war in einer
entsetzlichen Traumwelt gefangen.
Ihre
Freundin riß sie aus ihren Gedanken. „Doch, es ist wahr,
Hitomi. Die Katzen haben das Gemälde kaltblütig gestohlen,
obwohl sie wahrscheinlich gewußt haben, dass man meinen Vater
dafür zur Verantwortung ziehen wird.“ Hitomi nahm die
Geräusche oder sonst irgend etwas um sich herum nicht mehr wahr,
Reiko’s Worte klangen in ihrem Kopf nach. Beinah wäre sie
aufgesprungen. Sie wollte Reiko sagen, dass sie das unter keinen
Umständen gewollt hatte. Sie hatte ihre Freundin niemals da mit
hineinziehen wollen.
Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatte ihre
Schwestern gebeten, es nicht zu tun, und sie hatten nach einer Weile
eingewilligt. Dennoch hatten sie es getan ohne ihr auch nur ein Wort
zu sagen und ihr Versprechen gebrochen. Sie hatten das Gemälde
ihres Vaters gestohlen, obwohl sie von Hitomi gewußt hatten,
dass sie Reiko’s Vater damit in den Ruin treiben würden.
Der war Direktor des Nakameguro- Museums, und das Gemälde war
dem Museum nur ausgeliehen worden. Das bedeutete, wenn das Bild
gestohlen wurde, würde er als Direktor des Museums dafür
aufkommen müssen. Hitomi kannte ihn und wusste, dass er ein
ehrlicher Mann war, der es durch ehrliche Arbeit zu diesem Posten
gebracht hatte.
Jetzt
waren ihre Schwestern eindeutig zu weit gegangen. Sie hatten mit
ihren Aktionen nie Personen schädigen wollen, die es nicht
ohnehin verdient hatten. Niemals hatten sie andere absichtlich
verletzt, wenn es nicht sein musste. Es war ja wahr, sie stahlen, das
konnte man nicht leugnen. Aber sie hatten damit niemals einen
ehrlichen Menschen so sehr schädigen wollen, wie sie das jetzt
ohne Zweifel getan hatten. Reiko’s Vater würde persönlich
für den Schaden aufkommen müssen, und damit würde er
alles verlieren, was er besaß. Bis auf seine einzige Tochter,
ihre Freundin Reiko, würde er alles verlieren. Nami und Love
hatten das gewußt, aber sie hatten es trotzdem getan!
„Können
die Katzen so herzlos sein? Ich habe zwar gewußt, dass sie
Verbrecher sind, aber ich dachte bisher, dass sie wenigstens noch
einen kleinen Funken Moral und Ehrgefühl hätten. Wie können
die sowas tun, Hitomi?!“, fragte Reiko jetzt leise. Ja, genau
das war die richtige Frage: wie hatten sie sowas tun können?
„Ich
weiß es nicht.“ Sie hatte wirklich keine Ahnung. Am
Liebsten wäre sie sofort mit der U-Bahn nach Hause gefahren um
ihre Schwestern zu fragen, was um alles in der Welt sie sich dabei
gedacht hatten. Obwohl sie und Reiko jetzt schon lange befreundet
waren, ahnte Reiko nichts von Katzenauge, bzw. wer dahinter stand.
Sie kannte auch ihre beiden Schwestern, und dennoch ahnte sie nichts
von alledem.
„Ich habe keine Ahnung, was jetzt werden
wird.“, meinte Reiko wieder leise, doch Hitomi hörte sie
nur mit einem Ohr. Sie spürte die Wut in sich aufsteigen. Ihre
grünen Augen wurden fast schwarz, wie sie das immer wurden, wenn
etwas sie sehr erschreckte oder wenn sie wütend war. Es hatte
einige Gelegenheiten gegeben, an denen sie eine ihrer Schwestern oder
gleich alle beide zusammen am Liebsten auf den Mond geschossen hätte,
aber das hier war schlimmer als das. Sie hatten sich immer felsenfest
aufeinander verlassen können, das war eine ihrer Stärken,
doch jetzt hatten die beiden ihr Versprechen gebrochen, das sie
Hitomi gegeben hatten. Was immer die beiden dazu sagen würden,
sie konnten sich auf etwas gefasst machen.
Sie unterhielt sich noch eine Weile weiter mit
Reiko, dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zu
der nahegelegenen U-bahn-Station. In weniger als 15 Minuten hatte sie
nur noch ein paar hundert Meter bis nach Hause zu gehen. Es war
beinah halb sieben Uhr abends und September, der Wind wehte schon
recht kühl für diese Jahreszeit. Sie war vollauf damit
beschäftigt sich auszumalen, was für eine Erklärung
sich die beiden wohl einfallen lassen würden. Die beiden kannten
sie, und sie konnten sich wohl denken, dass ihre Schwester wütend
sein würde.
Sie
trat durch die Haustür und sah dann ihre Schwestern in der Küche
am Tisch sitzen Sie sahen hoch, als sie ihre Schwester hereinkommen
hörten. Beide sahen danach zu Boden, sie wussten ganz genau,
dass sie ein Versprechen gebrochen hatten. Nami sah ein wenig hoch
und wollte mit einer Erklärung anfangen. „Weißt du,
Hitomi,...!“
„Sag
kein Wort, Nami!“, fauchte Hitomi sie an. „Warum? Warum
habt ihr das getan?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Ihr
habt es gewußt, ihr habt es ganz genau gewußt, ihr hattet
mir versprochen, dass ihr es nicht tut! Ist euch eigentlich klar, was
ihr da getan habt?!...Reiko’s Vater wird dafür voll
haftbar gemacht werden!“
Love
meinte leise: „Aber das Bild gehörte früher unserem
Vater, hast du das vergessen?“
„Nein,
das hab’ ich nicht vergessen! Aber ist dieses Bild so wichtig,
dass wir bereit sind in Kauf zu nehmen damit einen ehrlichen Menschen
und seine Tochter praktisch in den Ruin treiben?!“
„Wir
mussten es einfach tun. Versteh doch, es gab keinen anderen Weg!“,
sagte Nami jetzt.
„Ach
ja, gab es wirklich keinen? Das Bild war für unsere Suche nicht
wichtig, es hätte genauso gut im Museum bleiben können!...
Ihr seid verdammt egoistisch, wißt ihr das?! Wir wollten
niemals mit unseren Aktionen die Zukunft eines ehrlichen Menschen
zerstören, aber genau das habt ihr gerade getan!“ Sie war
verdammt wütend, und sie dachte nicht daran, die Sache jetzt als
nicht mehr zu ändern hinzunehmen.
Nami
senkte den Blick und meinte leise: „Tut mir leid. Aber du musst
uns verstehen,...wir...!“
Weiter
kam sie nicht. Ehe sie weiter darüber nachgedacht hatte, was sie
tat, hatte Hitomi ausgeholt, und schlug ihrer Schwester ein krachende
Ohrfeige ins Gesicht. Beide, Nami und Love, schraken zurück.
„Da
gibt es wohl nichts zu verstehen!“, fauchte Hitomi.
Doch
ehe sie sich versah, hatte auch ihre ältere Schwester ausgeholt
und schlug zurück, das ließ sie sich nicht bieten. „Das
reicht jetzt!“, zischte sie nun ihrerseits zurück.
Nami
sah ihre Schwester leicht nach hinten zurückweichen, aber Hitomi
sagte nichts. Sie zog nur die Augenbrauen finster zusammen, und ihre
Augen waren jetzt wieder fast schwarz. Schließlich wandte sie
sich wortlos um und wollte gehen. „Wohin gehst du?“,
fragte Nami sie.
„Das
wieder glattbügeln, was ihr angerichtet habt!“, antwortete
Hitomi ohne sich umzudrehen.
„Das
kannst du nicht!“ Nami stand auf.
Hitomi
fuhr herum und fauchte wieder: „Und ob ich das kann!...Willst
du es mir etwa verbieten?!“
„Wenn
es sein muß,...ja!“
„Dann
versuch doch mich aufzuhalten!“ Ehe sich die beiden versahen
war ihre Schwester schon zur Tür raus und aus dem Haus, in der
Dunkelheit verschwunden.
Nami
wollte ihr hinterherlaufen, doch sie fühlte, wie Love sie mit
einer Hand am Arm festhielt. „Nein, tu das nicht!“,
meinte ihre Schwester.
„Wieso
nicht? Sie wird das Gemälde zurückbringen!“ Sie riß
sich von der Hand ihrer Schwester los.
„Aber
vielleicht hat sie recht! Vielleicht war es wirklich falsch, was wir
gemacht haben! Hast du schon mal darüber nachgedacht?“
Damit wurde sie alleingelassen.
Ihre
jüngere Schwester ließ eine nachdenklich gewordene Nami
zurück. Sie war zwar immer noch wütend, das hätte
Hitomi nicht tun dürfen, aber irgendwie hatten die letzten Worte
von Love sie nachdenklich gestimmt.
Sie
hatte ihre Schwester selten so wütend erlebt, und Hitomi hatte
meistens gute Gründe dafür. Vielleicht war es wirklich
falsch gewesen. Vielleicht hatte Hitomi wirklich recht gehabt, als
sie gesagt hatte, dass sie egoistisch wären.
Aber
immerhin hatte dieses Bild ihrem Vater gehört! Wenn sie nicht
auf alles vorbereitet gewesen waren, dann hätten sie das Feld
niemals betreten dürfen. Das wusste Hitomi selbst am Besten.
Aber trotzdem....!
Vielleicht
hatte sie recht gehabt. Sie waren zwar Diebe, aber sie waren nicht
wirklich kriminell. War es nicht kriminell, die Zukunft eines
Menschen zu zerstören?
Im
Nachhinein wusste sie selbst nicht so genau, warum sie ihre jüngere
Schwester, die von Anfang an Bedenken dagegen gehabt hatte, dazu
überredet hatte, mit ihr die Aktion durchzuziehen. Sie wussten
beide, was Reiko ihrer Schwester bedeutete. Sie hatten ein
Versprechen gebrochen, etwas, was noch niemand von ihnen getan hatte.
Sie wussten, dass sie sich fest auf das Wort des anderen verlassen
konnten, also warum hatten sie es jetzt gebrochen?!
Vielleicht
waren sie alle im Moment unruhig und auch unvorsichtiger geworden,
diese Suche dauerte schon zu lange. Immer noch hatten sie keine
Ahnung, ob sie jemals in der Lage sein würden ihren Vater lebend
wiederzufinden. Die letzten Monate hatten nicht sehr viel neues
gebracht, sie wussten zwar schon den größten Teil dessen,
was ihrem Vater widerfahren war. Aber damit hatten sie ihn noch nicht
wieder, und der wichtigste Teil fehlte immer noch: wie konnte man
diese Leute, die ihn nun seit über 40 Jahren verfolgten,
kriegen? War das überhaupt möglich? Waren sie nicht schon
zu mächtig für sie?
Würde der ganze Spuk vorbei sein, wenn sie
ihn lebend bei sich hatten? Würde er jemals wieder in der Lage
sein mit ihnen ein normales Leben zu führen, oder würde er
sich weiter verstecken müssen?
Vielleicht
war gestern alles ein wenig aus dem Lot geraten, als sie das Bild
gestohlen hatten. Sie haßte es, sich mit ihren Schwestern zu
streiten, auch wenn sie es eigentlich nur sehr selten taten. Hitomi
war wirklich kein Mensch, der es darauf anlegte sich zu streiten,
aber manchmal schlug auch sie über die Stränge. Genauso,
wie sie selbst das vermutlich gerade getan hatte, auch wenn sie das
eigentlich nicht gewollt hatte. Sie wusste, dass Hitomi sich so oder
so nicht von dem abhalten lassen würde, was sie im Begriff war
zu tun. Sie kannte ihre kleinere Schwester sehr gut. Hitomi hatte den
Dickkopf ihres Vaters geerbt, wenn sie sich einmal etwas fest
vorgenommen hatte, brachte auch nichts und niemand sie mehr davon ab.
Vermutlich
war es ganz gut so. Auch wenn Hitomi und sie sich erst hatten
schlagen müssen, bevor sie es einsah. Ihre Schwester hatte wohl
allen Grund gehabt wütend zu sein.
Hitomi
hörte ihre Schritte relativ ruhig auf dem Pflaster des
Bürgersteiges entlanglaufen. Doch innerlich war sie nicht halb
so ruhig. Sie hätte ihren Schwestern liebend gerne noch einige
andere Sachen an den Kopf geworfen, aber das hätte zu nichts
weiter als einem wirklich handfesten Krach zwischen ihnen dreien
geführt. Das war wirklich sehr selten, es war ja sowieso schon
selten, dass sie sich stritten. Es war eben nicht immer einfach mit
ihnen dreien, und auch ihr Vater hatte sie manchmal scherzhaft ein
„Trio infernale“ genannt.
Ihr
geheimes Versteck, wo sie alle inzwischen zurückgeholten
Kunstwerke ihres Vaters aufbewahrten, lag in einer Lagerhalle am
Hafen. Es war von hier bis dorthin keine allzu weite Strecke, doch
man brauchte immerhin eine gute halbe Stunde um mit der U-Bahn
dorthin zu gelangen. Niemandem außer ihnen selbst war das
Versteck und der Zugang bekannt.
Sie
wusste eigentlich nicht genau, wie sie es anstellen sollte, dass
Gemälde wieder ins Museum zurückzubringen. Sicher, das
Museum würde heute abend nicht so gut bewacht sein, weil sie
sich nicht angekündigt hatten, wie sie das ja sonst immer taten.
Manche Leute mochten sie wegen dieser Angewohnheit auslachen, aber es
war nur fair den Polizisten gegenüber.
Mit
einem Anflug von Trauer dachte sie an Toshi. Sie hatte ihn wegen der
letzten Aktion vor zwei Wochen wieder anlügen müssen. Sie
konnte schon nicht mehr mitzählen, wie oft sie es jetzt schon
getan hatte, und wie oft sie ihm etwas verschwiegen hatte, damit er
von anderen Dingen nicht erfuhr. Sie liebte ihn, aber sie konnte ihm
davon nichts erzählen. Er durfte niemals etwas davon erfahren,
sonst war es aus. Nicht nur für Katzenauge, sondern auch
zwischen ihnen beiden. Es grenzte ja sowieso eigentlich schon an eine
reine Unmöglichkeit, dass eine Diebin die Verlobte eines
Polizisten war, der er in vielen Nächten hinterherjagte. Doch es
war leider die reine Wirklichkeit, und das schlimme war, dass sie
nicht mal etwas daran ändern konnte.
Erst
ein paar Ecken zu spät merkte sie, dass sie schon viel früher
hätte abbiegen müssen, um zur nächstgelegenen
U-bahn-Station zu kommen. Aus Gewohnheit war sie diesen Weg gegangen,
denn sie fand sich plötzlich vor dem Haus von Chang wieder.
Chang
war knapp 50 Jahre alt, er war ihr Meister. Den schwarzen Gürtel
in Karate hatte sie nicht von allein bekommen, drei Mal in der Woche
trainierte sie mit ihm in seiner eigenen kleinen Halle. Sie hatte
total vergessen, dass heute eigentlich Training war.
Wenn
man Chang sah, konnte man nicht glauben, dass er mühelos ein
Dutzend Männer allein auf die Matte schickte. Denn Chang war
seit einem schweren Motorradunfall gelähmt und saß im
Rollstuhl. Aber wenn er ernst machte, mochte sie es nicht mit ihm
aufnehmen. Er war ein alter Freund ihres Vaters, und er war auch
ihrer aller Freund geworden. Er kannte sie schon sehr lange, und er
wusste über die Sache Katzenauge Bescheid.
Sie
entschloß sich kurzfristig, ihre Pläne zu ändern, sie
würde ohnehin noch warten müssen, denn jetzt konnte sie
unmöglich schon in das Museum hinein. Sie ging über die
schweren Holzdielen, die zu seiner Haustür führten, kam
aber nicht dazu anzuklopfen.
Denn
ein Mann mittleren Alters, mit stoppelkurzen, immer noch
pechschwarzen Haaren und in einem Rollstuhl sitzend öffnete die
Tür. Er musste ihre Schritte mit seinem außergewöhnlich
guten Gehör schon vorher wahrgenommen haben.
Er
lächelte und sagte nur: „Du kommst spät.“
Sie
war seine Art gewöhnt und trat ein. Sie folgte ihm quer durch
das kleine Haus in die Halle. Sie kannte sich hier im Schlaf aus,
schon seit sie zehn war, war er ihr Meister. An seinen Wänden
hingen Rollbilder mit vietnamesischen Schriftzeichen darunter. Obwohl
sie den japanischen entfernt ähnlich waren, konnte sie die
Zeichen nicht lesen. Chang war gebürtiger Vietnamese, hatte aber
den größten Teil seines Lebens in Japan verbracht. Sie
kannte ihn jetzt schon so lange, aber trotzdem verstand sie einige
Teile an ihm immer noch nicht. Er redete nicht gerne über seine
Vergangenheit - also bevor er ihren Vater kennengelernt hatte - und
sie hatte ihn auch nie danach gefragt.
Wenig
später stand sie ihm gegenüber. Er hatte wie meistens
seinen kurzen Bambusstab in der Hand, mit dem er meisterhaft
umzugehen verstand. Er ließ sie einige Übungen machen, wie
er das immer tat. Aber sie traf mit den Füßen die Ziele,
die er ihr angab, nicht hundertprozentig und ihre Faustschläge
saßen zu locker. Sie merkte das selbst, aber sie konnte es
nicht ändern.
Auch
seinen guten Augen entging das nicht. „Konzentriere dich!“
Sie
versuchte es, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie musste immer
wieder an die Sache mit Reiko denken, sie konnte sie einfach nicht
aus dem Kopf kriegen. Er wiederholte es noch mal: „Na los,
konzentriere dich!“
Es
schien zu funktionieren, sie traf die Ziele jetzt besser und wurde
sicherer. Wenn sie das Bild nicht zurückbrachte, würde
Reiko’s Vater dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Plötzlich
spürte sie einen kurzen Schmerz in ihrem rechten Bein. Sie
merkte, wie der Boden unter ihr schwand - fast so, als würde er
ihr unter den Füßen weggezogen. Sie spürte, dass sie
unsanft auf den Boden fiel. Es war viel zu schnell gegangen, als dass
sie nur an Gegenwehr hatte denken können.
Jetzt
sah sie hoch und sah Chang vor sich in seinem Rollstuhl sitzen. Keine
Gefühlsregung zeigte sich in seinem Gesicht, nur den Bambusstab
wiegte er bedeutungsvoll in der Hand. Im selben Moment wusste sie,
was er getan hatte. Er hatte ihre mangelnde Konzentration gegen sie
selbst benutzt und sie so nur mit einem Stab zu Boden geschickt. Das
war seine Art ihr etwas zu sagen.
„Was
ist los mit dir? Ich habe dich selten so unkonzentriert erlebt.“
Sie
schüttelte den Kopf, blieb aber halb aufgerichtet auf dem Boden
liegen. „Nichts, es ist alles in Ordnung. Ich kann mich heute
nur nicht so gut konzentrieren, das ist alles.“
Er
sah sie lange an, dann meinte er: „Wenigstens ich kann dir noch
ansehen, wenn du lügst, Hitomi.“
„Ich
habe dir noch nie etwas vormachen können, oder, Chang?!“
Er wandte sich von ihr ab und fuhr langsam um sie herum, sie folgte
ihm mit den Augen.
„Meister
Chang, zumindest in diesem Raum.“ Nach einer kurzen Pause
fuhr er fort: „Weißt du noch, als ihr Katzenauge ins
Leben gerufen habt?!...Damals warst du wütend. Wütend auf
die Leute, die eurem Vater und meinem Freund das angetan hatten,
wütend auf dich selbst, weil du merktest, dass es so nicht
weiter gehen konnte. Du wusstest, dass das, was ihr vorhattet, im
Grunde genommen falsch war. Ich habe dich immer den Weg des Friedens
gelehrt, und nicht grundlos die Fähigkeiten zu gebrauchen, die
ich dir beibrachte. Du weißt, ich war nie ganz glücklich
mit dem, was ihr tut. Aber auch ich musste es als vielleicht einzige
Möglichkeit akzeptieren, Michael eines Tages wiederzusehen. Ich
kenne dich schon seit einer langen Zeit, und ich sehe dir an, wenn
etwas nicht stimmt. Also, was ist los mit dir?!“
Es
dauerte nicht lange, bis sie ihm erzählt hatte, was vorgefallen
war. Er saß ohne ein Wort zu sagen da und hörte ihr
aufmerksam zu.
Anschließend
meinte er: „Du folgst deinen Gefühlen. Das ist nicht gut,
weil es dich unvorsichtig und unkonzentriert macht. Es ist sicher
richtig, dass du das Bild zurückbringst, aber du musst
vorsichtig sein und darfst kein Risiko eingehen. Ich will dich nicht
in den nächsten Tagen hinter Gitter sehen müssen.“
Er
hielt ihr seine Hand hin und half ihr auf die Beine. „Für
heute ist das Training beendet. Du musst noch etwas wichtigeres tun.“
Sie nickte dankbar und trat aus dem Raum.
Wenig
später schon ging sie die Straße entlang, der
nahegelegenen U-bahn-Station entgegen. Nach einer halben Stunde war
sie endlich bei der Lagerhalle angekommen. Es war zwar erst Viertel
nach neun Uhr, aber trotzdem war nicht mehr sehr viel an den Kais
los; es war auch sowieso kein sehr belebter Teil des großen
Hafens. Sie betrat einen abgetrennten Teil der großen
Lagerhalle durch einen geheimen Zugang.
Drinnen
war es schon sehr viel wärmer, weil sie die kostbaren Kunstwerke
und Gemälde natürlich nicht der Feuchtigkeit und der Kälte
aussetzen wollten. Jedesmal, wenn sie diesen geheimen Raum betrat,
fühlte sie sich in einer anderen Welt. In jedem einzelnen
Pinselstrich der Gemälde oder in jeder Stelle einer seiner
wunderschönen kleinen Statuen konnte sie ihren Vater sehen. Es
fielen ihr hier viele Sachen aus ihrer Kindheit ein, die sie glaubte
vergessen zu haben. Sie mochte diesen Ort, und manchmal kamen sie nur
her, um ihrem Vater nah zu sein. Denn er war praktisch durch seine
Gemälde bei ihnen, auch wenn sie nicht wussten, wo er wirklich
war.
Jedes
einzelne Stück hier hatte seine eigene Geschichte, wie es
entstanden war, wie es oft durch viele Hände schließlich
in ihre gelangt war. Sie musste noch warten, bis sie das Gemälde
zurückbringen konnte. Das Museum war zwar schon geschlossen,
aber vor elf Uhr durfte sie sich dort unter keinen Umständen
hineinwagen. Es mochte zwar gefährlich sein, aber sie wusste,
dass sie es schaffen würde. Zumal niemand heute mit den Katzen
rechnete, und das war ihr kleiner, aber nicht zu unterschätzender,
Vorteil.
Sie
musste jetzt noch warten, aber dieser Ort war wie geschaffen zum
Warten. Sie sah das Gemälde, um das es ihr ging, es stand an
einer hinteren Wand auf einem Ständer. Sie kannte es, ihr Vater
hatte es ihnen einmal gezeigt, das musste schon ungefähr zehn
Jahre zurückliegen. Er hatte es noch in den USA gemalt, und
heute war es Millionen Yen wert. Das war irgendwie schon ziemlich
unglaublich, wie die ganze Geschichte um sie und ihre Familie
überhaupt ziemlich unglaublich war.
Sie
dachte noch an alles mögliche, auch an heute. Sie und ihre
Schwester hatten sich noch niemals geschlagen. Doch, einmal. Das war
jetzt aber schon über 16 Jahre her. Nami hatte ihr damals eine
Ohrfeige verpaßt, weil Hitomi in Wut bei einem Streit mit ihrer
Schwester zu weit gegangen und auch ziemlich unfair gewesen war. Sie
lächelte jetzt, sie hatte es damals wahrlich verdient gehabt.
Irgendwie
klang ihre Wut gegen die beiden ab, obwohl sie das eigentlich gar
nicht wollte. Keiner von ihnen konnte dem anderen wegen irgend einer
Sache sehr lange böse sein. Ehe sie sich versah, war es Viertel
vor elf Uhr. Sie bewahrten immer drei zusätzliche Anzüge
hier auf, für jeden einen.
Sie
zog sich den ledernen Motorradanzug über den Katzenanzug, denn
auch ein Motorrad gehörte zum ständigen Inventar der
kleinen Halle. Um fünf Minuten vor elf Uhr schwang sie sich auf
das Motorrad und fuhr durch ein ebenfalls geheimes Tor aus der Halle
heraus wieder in die Kälte. Nicht einmal Toshi hätte sie
jetzt noch erkannt. So fuhr sie durch den jetzt immer noch ziemlich
dicht fließenden Verkehr auf das Nakameguro-Museum zu.
Es
war schon fast halb zwölf, als sie die Maschine nahe dem
Museumsgebäude anhielt. Die Gänge waren videoüberwacht,
aber sie kannte das System von ihren Vorbereitungen zu ihrer Aktion
noch sehr gut. Sie hatten schon den Plan fertig gehabt, aber dann
hatte Hitomi von ihrer Freundin erfahren, dass Reiko’s Vater
für den Verlust des Bildes haftbar gemacht werden würde.
Sie dachte noch einmal an Chang’s Warnung und versprach sich
und ihrem Meister vorsichtig zu sein. Es hatte schon seinen Grund
gehabt, warum der weise Mann ihr das gesagt hatte.
Sie
ließ das Motorrad in einer dunklen Ecke stehen, wo sie leicht
aufspringen und losfahren konnte. Blitzschnell war sie ihren
Lederanzug los und kletterte über eine Feuerleiter auf ein
benachbartes Dach. Über verschiedene Dächer gelangte sie
schließlich recht schnell auf das Dach des Museumsgebäudes.
Sie sah auf die Uhr, wenn sie sich beeilte, konnte sie den Weg vom
Museumsdach bis zum Motorrad in zwei Minuten schaffen, und wenn sie
verfolgt wurde, sogar noch schneller. Aber sie legte es nicht darauf
an verfolgt zu werden, nicht heute nacht. Sie stahl nicht etwas,
sondern sie brachte etwas von ihnen Gestohlenes zurück. Das
Museum war zwölf Stockwerke hoch, ein noch ziemlich neuer Bau.
Doch trotzdem hatte sie keine Probleme, den Kameras und den
Wachleuten, die in den Stockwerken umher gingen, auszuweichen. Die
Gänge waren nur schwach von der Notbeleuchtung erhellt, doch sie
konnte mit ihren guten Augen alles genau erkennen. Sie wollte das
Bild nicht direkt in den Ausstellungsraum zurückhängen, das
wäre dann doch zu gefährlich für sie alleine geworden.
Statt dessen wollte sie es in das Büro des Direktors bringen.
Das lag im zehnten Stockwerk und wurde nicht überwacht. Das
einzige Problem bestand darin, dass Reiko’s Vater noch dort
sein konnte. Ihre Freundin hatte ihr davon erzählt, dass er -
nicht oft, aber manchmal - länger in seinem Büro blieb.
Sie
sah kein Licht unter der Tür durchschimmern, als sie endlich bei
ihrem Ziel angelangt war. Der Teppichboden dämpfte ihre
Schritte, sie trug das Bild unterm Arm, als sie sich noch einmal
vorsichtig nach allen Seiten umsah. Keine Menschenseele war zu sehen,
und so wagte sie es, vorsichtig und möglichst leise den Türknopf
herumzudrehen. Es war dunkel in dem Raum, und so öffnete sie die
Tür langsam, ganz langsam weiter. Schließlich trat sie
durch die Tür und schloß sie lautlos hinter sich wieder.
Ihre
Augen waren die Dunkelheit jetzt gewöhnt, und sie konnte sich
orientieren. Sie schaute zwar nach allen Seiten in das Dunkel hinein,
doch sie konnte nichts ungewöhnliches an diesem Büro
entdecken. Da stand ein großer Schreibtisch mit einem Gemälde
an der Wand dahinter. Auf dem Schreibtisch standen ein Telefon,
einige Dokumente und Briefe lagen darauf und sonstiges. Eine riesige
Palme stand an einem großen Fenster, dass jetzt allerdings
durch Fensterläden verschlossen war. Ansonsten war alles so, wie
man es im Büro eines Museumsdirektors erwartet hätte. Sie
ging leisen Schrittes auf den Schreibtisch zu. Sie würde das
Bild hinlegen, eine Karte mit einer Entschuldigung daneben und dann
so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen war.
Schon
wenige Minuten später sprang sie über die Dächer,
ihrem Motorrad entgegen. Es war alles ganz glatt gelaufen, niemand
hatte sie bemerkt und das Bild lag jetzt wieder auf dem Schreibtisch
des Direktors. Morgen würden sicher wieder in den Zeitungen eine
Menge Reporter darüber spekulieren, warum die Katzen ein Gemälde
zurückbrachten, das sie vor nicht einmal 24 Stunden gestohlen
hatten.
Er
sah die Frau langsam über das Dach laufen. Sie blickte nicht in
seine Richtung, und selbst wenn, sie hätte ihn niemals bemerken
können, denn er lag sicher im Dunkeln auf der Lauer. Er hatte
auf sie gewartet,
hatte
sie quer durch die halbe Stadt bis hier her verfolgt, so lange, bis
sich ein günstiger Moment wie dieser hier bot. Er überprüfte
zum wiederholten Male sein Gewehr mit Zielfernrohr. Die Frau wirkte
für eine Sekunde ein wenig geistesabwesend. Das war der
Augenblick, auf den er gewartet hatte. Blitzschnell legte er das
Gewehr an, das Zielen und Schießen war eine Bewegung.
Nur Sekundenbruchteile später bohrte sich ein
kleiner Pfeil in den Nacken der Frau. Sie schien erst verblüfft
zu sein und tastete mit einer Hand nach der Stelle, an der das Ding
sie getroffen hatte. Doch schon fing sie an zu wanken und stürzte
dann ohne einen Laut auf den Boden des Daches.
Sie
war bewußtlos. Es war ein sehr schnell wirkendes Mittel
gewesen. Zwei Schatten sprangen auf die Frau zu, hoben sie auf und
trugen sie mit sich davon. Es gab keine Zeugen, kein Geräusch
und auch sonst keinen Laut. Nur das ferne Rauschen des Verkehrs unter
ihnen.
Er
war müde und erschöpft, er wunderte sich wie er die Treppen
zu seiner Wohnung hatte erklimmen können ohne nicht wenigstens
einmal zu stolpern. Heute war ein ziemlich anstrengender Tag gewesen
und er erinnerte sich nicht daran, sich jemals so auf sein Bett
gefreut zu haben.
Aber diesmal waren ausnahmsweise einmal nicht die
Katzen der Grund seiner körperlichen Erschöpfung. Sie
hatten heute einen wichtigen Fang gemacht. Sie hatten einen
bedeutenden Mann gefaßt. Es war der krönende Abschluß
von monatelangen Vorbereitungen gewesen, die dazu notwendig gewesen
waren. Wieder einmal war ihnen einer der bösen Buben ins Netz
gegangen.
Er
fischte den Hausschlüssel aus seiner Jackentasche und steckte
ihn ins Schloß seiner Wohnungstür. Doch er kam nicht dazu
ihn herumzudrehen, denn auf einmal bemerkte er einen Schatten, der
wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Er sah den Schatten
nur sehr undeutlich und aus den Augenwinkeln heraus. Denn schon
gleich darauf spürte er einen heftigen Schlag ins Genick, und er
spürte, wie er sich dem Boden entgegen bewegte. Seine Sinne
schienen von dem Schlag mit einem Mal total lahmgelegt worden zu
sein, denn um ihn herum wurde alles schwarz. Er fühlte, wie er
auf den Boden aufschlug, aber danach war alles in tiefe Finsternis
gehüllt und er wusste nichts mehr von sich oder der Welt.
Der
frühe Abend hatte begonnen, der zweite Abend, seit Hitomi
verschwunden war. Noch hatte sie sich nicht wieder gemeldet, und Nami
hatte ein zunehmend ungutes Gefühl bei der Sache. Es war einfach
unüblich für Hitomi so lange wegzubleiben ohne sich nicht
wenigstens zu melden. Sicher, sie konnte gehen wohin sie wollte. Aber
wenn sie als Katze unterwegs war, tat sie das normalerweise nicht
ohne ihren Schwestern Bescheid zu sagen. Immerhin war sie ja gestern
abend Katze gewesen.
Nami
merkte jetzt erst, dass sie in Gedanken versunken war. Sie saß
nun schon seit einer Stunde an ihrem Schreibtisch und schrieb einige
Aufgaben nieder, die sie für den Unterricht an der Uni brauchte.
Sie hatte damals, als ihr Vater verschwunden war, die Ausbildung zur
Computeranalytikerin abgebrochen, hatte sie aber vor zweieinhalb
Jahren wieder aufgenommen. Es war nicht so schwer den Unterricht und
ihre zweite Identität als Katze unter einen Hut zu bringen, das
beherrschte sie inzwischen ganz gut.
Die
Aufgaben, die sie jetzt vor sich hatte, waren eigentlich ganz
einfach, aber sie brauchte länger dafür als sie erwartet
hatte, denn sie schweifte mit den Gedanken jetzt ein wenig ab.
Selbst
wenn Hitomi wütend auf ihre Schwestern war, würde sie nicht
so einfach verschwinden, das würde sie einfach nicht tun.
Das
erste, an das sie sich erinnerte, war dieses Etwas, das sie getroffen
und fast augenblicklich bewußtlos gemacht hatte. Nur für
eine Sekunde lang war sie unaufmerksam gewesen. Sie hatte keine
Ahnung, wieviel Zeit seit dem vergangen war, es konnten Stunden oder
auch Tage sein. Ihr war noch leicht schwindelig, und sie hatte
Kopfschmerzen, die aber langsam abklangen, je wacher sie wurde.
Sie
blinzelte in das schwache Licht, das als einziges den Raum erhellte.
Sie richtete sich langsam auf und sah sich um. Der Raum war nicht
sehr groß und die Wände bestanden aus roh behauenen
Steinblöcken. Der Raum besaß keine Fenster, sondern nur
einen Luftschacht, der aber viel zu klein war, als dass sich ein
Mensch hätte durchzwängen können. Die einzige Tür
bestand aus Stahl. Im Raum selbst stand nur ein Feldbett, auf dem
sie zur Zeit noch lag. Sonst gab es nur einen alten Stuhl und einen
Tisch. Sie befand sich allein in diesem Raum, der große
Ähnlichkeit mit einer Zelle in einem Kerker hatte.
Sie
hatte ungefähr tausend Fragen, auf die sie noch keine Antwort
fand. Wer hatte sie entführt? Sie nahm an, dass es mehrere
waren, aber wer waren die dann? Was wollten die von ihr? Man hatte
sie gelungen überrascht und mit dem Betäubungsmittel zu
Boden geschickt, ehe sie nur wusste, was mit ihr passierte. Was
danach geschehen war, wusste sie nicht.
Hatten
ihre Schwestern, als sie gemerkt hatten, dass etwas mit ihr geschehen
sein musste, schon eine Spur von ihr? War sie noch in Tokio? Wo war
sie überhaupt?
Diese
Fragen zu stellen und keine Antworten darauf zu bekommen, machte sie
unruhig. Sie haßte es, nicht genau zu wissen, was geschehen war
und wo sie war. Sie mochte diese Ungewißheit überhaupt
nicht.
Sie
verfluchte sich selbst, dass sie entgegen der Warnung von Chang nur
einen Moment unaufmerksam gewesen war, und dann war es auch schon zu
spät gewesen. Sie hätte seine Worte besser befolgen sollen.
Im
Moment schien es leider nicht so, als könnte sie irgend etwas
gegen ihre jetzige Lage unternehmen. Sie musste abwarten, was weiter
geschehen würde.
Man
hatte ihr ihre Armbanduhr genommen, deshalb konnte sie nicht genau
bestimmen, wie lange sie in dieser Zelle war, bis die Tür sich
öffnete. Die schwere Stahltür wurde aufgeschlossen und
schwang ohne Laut auf. Hitomi war aufgestanden und stand mitten im
Raum. Sie war nicht gefesselt worden. Herein kam ein Mann, ungefähr
Mitte 20, hochgewachsen und schlank, mit einem spanischen oder
mexikanischen Ton in seinen Zügen und einem schwarzen
Schnurrbart. Er hatte ein Maschinengewehr über der Schulter
hängen, das er jetzt auf sie gerichtet hielt.
Er
holte Handschellen aus seinem Gürtel, während er näher
an sie heran trat. „Kommen Sie mit, Sie werden erwartet!“
Er hatte einen deutlich spanischen Akzent in seinem jedoch flüssigen
Japanisch, das er sprach. Hinter ihm tauchte jetzt noch ein ähnlich
aussehender Mann auf, der ebenfalls sein Maschinengewehr auf sie
gerichtet hielt. Auch er war ein ähnlich finsterer Geselle wie
der erste.
Einer
forderte sie auf, ihm ihre Hände hinzuhalten damit er ihr die
Handschellen anlegen konnte. Sie musste ihnen wohl gehorchen, zwei
geladene und auf sie gerichtete Waffen waren Grund genug. Also legten
sich die beiden kühlen Metallringe um ihre Handgelenke und
wurden eingeklinkt. Jetzt bedeutete der Mann ihr mit einer
Handbewegung zu gehen. Sie ging und folgte dem zweiten Mann, der vor
ihr ging. Der andere schloß die Tür hinter ihnen und ging
dann wachsam hinter ihr her den langen Gang entlang. Der war nur
schwach erleuchtet, aber sie bemerkte, dass noch einige andere Türen
wie die ihre hier und da abgingen. Sie befanden sich wohl in so einer
Art Kellergewölbe. Die Luft roch relativ frisch, hier musste es
ein gutes Lüftungssystem geben. Hitomi fragte sich, was sie da
oben erwarten würde, oder wo immer man sie auch hinbrachte.
Sie,
ihre Schwestern oder sie alle drei zusammen waren während ihrer
bisherigen Zeit als Katzen schon mehr als einmal gefangen genommen
worden, von irgendwelchen Verbrechern, die meistens auf Rache oder
auf Profit aus waren. Doch schließlich war es ihnen immer
wieder gelungen zu entkommen. Was würde sie diesmal erwarten?
Niemand als sie selbst und ihre Schwestern konnte davon wissen, dass
sie noch einmal ins Museum zurückgekehrt war.
Sie
wurde eine Treppe aus Stein hinaufgeführt, anschließend
trat sie durch eine Tür in einen weiteren Gang hinaus. Der war
nach einer Seite hin nach draußen offen und wurde von schweren
Säulen getragen. Es war immer noch dunkel, oder schon wieder.
Denn sie hatte immer noch keine Ahnung, wie lange sie bewußtlos
gefangen gehalten worden war.
Regenwolken
verdeckten die Sterne, so dass sie nicht genau bestimmen konnte, wie
spät es gerade war. Sie blickte durch die Säulen auf einen
Park hinaus, der von Lichtstrahlern zum großen Teil
ausgeleuchtet wurde. Schatten und Zwielicht legten sich über die
Teile des Parks, die die Strahler nicht mehr ganz erfassen konnten.
Dort standen Palmen, Sträucher und Blumen; Kieswege führten
durch diesen wahren grünen und bunten Irrgarten aus Pflanzen,
die aber auch eine gewisse Ordnung aufwiesen.
Dann
wusste sie, woher sie das hier kannte, und wann sie es schon einmal
gesehen hatte. Es war jetzt ungefähr anderthalb Jahre her, als
sie als Katze schon einmal dieses Anwesen betreten hatte. Es gehörte
einem gewissen Akira Kubari.
Er
war ein sehr reicher und ein sehr skrupelloser Mann, der vor nichts
zurückschreckte, um wertvolle Kunstgegenstände in seinen
Besitz zu bringen. Damals hatten sie ihm ein Bild ihres Vaters
gestohlen, und schon damals hatte er den Katzen Rache geschworen. War
das jetzt seine Rache? Hatte er sie entführt um sich zu rächen?
Sie
konnte noch keine Antwort auf die Frage finden, aber sie war sicher,
die würde sie schon sehr bald bekommen. Ein gutes Gefühl
hatte sie dabei aber immer weniger.
Sie
wurde am Ende des Säulenganges in das Haus gebracht, das
ebenfalls aufs allerfeinste eingerichtet war. Rote Wandteppiche,
wertvolle Bilder an den Wänden und wertvolle Möbel.
Alles
war so, wie es auch vor anderthalb Jahren gewesen war. Obwohl es
damals noch dunkler gewesen war als jetzt, erkannte sie doch alles
wieder. Sie sah im ganzen nur ein paar Wächter in den Räumen,
durch die sie geführt wurde, ansonsten war niemand hier. Dann
kamen sie an einer großen Tür an, die mit Mahagoniholz
getäfelt war. Davor stand ein Wächter, der, als er sie
bemerkte, höflich an die Tür klopfte. Er wurde
hereingerufen und kam dann gleich wieder raus. Er machte eine
Handbewegung, und die Wächter führten Hitomi durch die Tür
hindurch.
Drinnen
sah sie ein großes Büro, in dem gleichen luxuriösen
Stil eingerichtet wie alles andere hier. Ein großer, wertvoller
Schreibtisch stand vor einer ebenfalls großen Fensterfront.
Auch die Gemälde, die an den Wänden hingen, erkannte sie
wieder.
Sie
musterte den Mann, der hinter dem Schreibtisch saß. Er war um
die sechzig Jahre alt, mittelgroß und hatte weißes,
schütteres Haar. Er war ein mächtiger, aber gänzlich
skrupelloser und habgieriger Mensch, in seinen Augen sah sie die
Grausamkeit, die Genugtuung, den Haß und den Hohn. Es bestand
kein Zweifel, sie hatte Akira Kubari vor sich. Zwar ein wenig älter
geworden, aber er war es.
Er
lächelte und winkte den Wächtern sie bis vor den
Schreibtisch zu führen. Danach zogen sich die Wachmänner
bis zum Eingang zurück und bezogen dort Stellung. Sie stand vor
diesem Mann und sah ihn an. Sie versuchte ihn mit ihren Blicken zu
durchdringen, doch er blieb undurchsichtig wie ein Stein.
„Setzen
Sie sich doch, Hitomi.“
„Ich
hoffe, Ihre Gorillas erschießen mich nicht, wenn ich es
vorziehe stehenzubleiben.“ Im Augenblick fiel es ihr gar nicht
auf, dass er sie bei ihrem Vornamen nannte.
Er lächelte immer noch. „Sie sind eine
bemerkenswerte Frau, das waren Sie damals schon. Leider habe ich den
Fehler begangen, Sie zu unterschätzen, das wird mir nicht noch
einmal passieren.“
Seine
Augen ruhten mit einem zufriedenen Ausdruck auf ihr. „Es hat
mich einige Zeit und ziemlich viel Mühe gekostet herauszufinden,
wer sich hinter den Katzen verbirgt. Aber schließlich habe ich
es geschafft, und Sie können mir glauben, dass es das
glücklichste Ereignis in meinem bisherigen Leben war. Denn
endlich habe ich die Möglichkeit, mich an Ihnen zu rächen
für das, was Sie mir genommen haben, als Sie mich bestohlen
haben!“
„Aber
Sie irren sich! Wir haben Ihnen das Bild nicht gestohlen, wir haben
es nur wiedergeholt. Weil es früher unserem Vater gehört
hat.“
„Wem
es früher gehört hat, ist mir egal! Sie haben es mir
gestohlen, und dafür werde ich jetzt endlich Rache bekommen. Es
hat schon viel zu lange gedauert, aber jetzt können Sie nicht
mehr entkommen, Katze!“ Er lachte höhnisch und lehnte sich
langsam in seinem Stuhl vor. Er fixierte sie mit seinem Blick. Sie
hatte das ungute Gefühl, dass er sich etwas besonderes für
seine Rache ausgedacht hatte. Dieser Mann war verrückt, und so
würde er auch handeln.
Er
wollte sie nicht einfach nur umbringen, das war für ihn zu
einfach. Aber was wollte er dann tun?! Wollte er nicht sie, sondern
ihre Schwestern töten? Oder Toshi? Wenn er das tatsächlich
vorhatte...!
Ein
häßliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Es
war nicht einfach, etwas geeignetes für Sie zu finden. Sollte
ich Sie der Polizei ausliefern? Nein, viel zu simpel. Aber dann habe
herausgefunden, wie Sie zu einem gewissen Polizisten namens Uzumi
stehen.“
Nein,...das
durfte er nicht tun! Ihre Gedanken waren im ersten Moment ein
einziger Schrei. Nicht er! Er konnte Sie töten oder sonst etwas
mit ihr tun, aber nicht er!
Er
lachte wieder höhnisch. „Ich kann mir gut vorstellen, was
Sie jetzt denken!...Was hat er vor?! Will er ihn umbringen?!
Ich sage es Ihnen: ihn umzubringen wäre viel zu einfach gewesen.
Deshalb habe ich ihn auch hier herbringen bringen lassen. Er wird
erst wissen, wer Sie in Wirklichkeit sind, dann wird er gemeinsam mit
Ihnen zur Hölle fahren.“
Hitomi
war, als hätte ihr jemand einen heftigen Schlag verpaßt.
„Das...das können Sie nicht tun!“ Ihr war gar nicht
bewußt, dass sie das sagte. Zu sehr hoffte sie, dass er nur
bluffte.
„Doch,
Hitomi, genau das werde ich tun!“ Man hörte seiner Stimme
die höhnische Freude an.
Plötzlich fuhr sie auf und trat ihm einige
Schritte entgegen. Sie ballte die Fäuste und spürte die
ohnmächtige Wut in sich. Sie wusste, sie konnte nichts gegen die
unternehmen, solange sie noch die Waffen hatten. Ihre Gedanken
schrien immer noch: Nein! Das kann nicht sein!
Dann kam sie nicht mehr weiter, denn Kubari hatte
seinen beiden Leuten einen Wink gegeben, und die traten von hinten an
sie heran. Die beiden hielten sie mit eisenharten Griffen fest und
zerrten sie rückwärts. Sie versuchte, sich dagegen zu
wehren, aber sie waren zu stark.
Kubari
stand jetzt aus seinem Stuhl auf und ging zur Tür. Die beiden
Wächter führten die Wehrlose hinter ihm her.
„Meine
Schwestern werden mich finden, und dann gibt es keinen Ort auf der
ganzen Welt, wo Sie sich noch vor uns verstecken könnten!“
Noch fast niemals in ihrem Leben hatte Hitomi sich so hilflos
gefühlt, und die Angst ließ sie alle Sinne konzentrieren
und alle Muskeln anspannen. Auch wenn sie wusste, dass es im Moment
überhaupt nichts nützte, diese Männer waren zu stark.
Kubari
blieb kurz stehen und drehte sich zu ihr um. Er grinste. „Das
glaube ich kaum!“
Love
war in der Schule, wie sonst auch. Aber sie bekam nur die Hälfte
des Unterrichts mit, denn sie machte sich Sorgen um ihre ältere
Schwester. Es war absolut nicht Hitomi’s Art so zu verschwinden
ohne ihnen wenigstens etwas davon zu sagen. Sie war mittlerweile
schon fast zwei Tage weg, und Love wusste, dass da was nicht in
Ordnung sein konnte.
Sie
mochte es überhaupt nicht, zu wissen, dass ihre ältere
Schwester wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckte, und sie konnten
ihr noch nicht einmal helfen. Was war, wenn Hitomi keine Zeit gehabt
hatte sie zu informieren? Was, wenn man sie einfach hinterrücks
niedergeschlagen hatte?!
Diese
Gedanken machten ihr Angst. Auch wäre sie nicht unschuldig an
der Sache. Wenn sie und Nami sich nicht über das Versprechen
Hitomi gegenüber hinweg gesetzt hätten, wäre das alles
gar nicht passiert.
Sie
hatte ihre Schwester selten so wütend erlebt, und sie hatte
meistens gute Gründe, wenn sie derart ausflippte. Sie waren
schließlich immer noch Geschwister, und da war es nur
natürlich, wenn es hin und wieder zu Reibereien kam, das war
wohl auch gut so. Aber wenn sie Katzen waren, durften sie sich das
einfach nicht erlauben, da musste jeder genau wissen, was zu tun war.
Auch
kannte sie Hitomi viel zu gut, um jetzt zu glauben, dass sie aus
freiem Willen seit zwei Tagen total vom Erdboden verschluckt schien.
Das tat sie einfach nicht, weil sie wusste, was für eine
Verantwortung - auch ihren Schwestern gegenüber - sie hatte,
wenn sie ihren Anzug trug.
In
einer Pause saß sie mit ihrer Freundin Akiko auf einem Wall und
beobachteten die anderen Schüler. Doch sie achtete nicht
wirklich auf sie, sondern dachte daran, was mit ihrer Schwester
geschehen mochte. Sie hätte am Liebsten den Unterricht
geschwänzt, damit sie nach ihr suchen konnte, doch sie musste
wohl weiter zur Schule gehen.
Ihre Freundin ahnte nichts von den Gedanken, sie
wusste auch nicht, dass sie ein Mitglied einer der zur Zeit wohl
gefürchtetsten Diebesbanden der Welt vor sich hatte. Obwohl sie
sie und ihre Geschwister jetzt schon lange kannte, ahnte sie nichts
davon.
„He,...was
ist los mit dir?!...Schon seit zwei Tagen scheinst du nicht ganz bei
der Sache zu sein.“
Love
wusste, dass das kein Vorwurf sein sollte, sondern eine besorgte
Frage einer guten Freundin. Trotzdem hatte die Frage von Akiko sie
aus ihren Gedanken gerissen, und sie antwortete angebundener als sie
hatte sein wollen: „Nichts! Das ist schon OK.“
Auf
den erstaunten Blick von Akiko hin, die sowas von ihrer Freundin
nicht gewöhnt war, meinte sie entschuldigend: „Tut mir
leid. Es ist nur...ich bin ziemlich unfair gegenüber Hitomi
gewesen.“ Das war noch nicht einmal gelogen.
Akiko
hakte da nicht weiter nach. Sie kannte ihre Freundin lange genug, um
zu wissen, dass sie ihr nicht gerne weitere Auskünfte gegeben
hätte. Überhaupt redete sie nicht viel über ihre
Familie. Akiko verstand das nicht recht, aber sie ließ das
Thema ruhen. Sie kannte auch die beiden Schwestern von Love, aber
irgendwie war da noch etwas rätselhaftes an ihnen allen, das sie
sich nicht erklären konnte.
Sie hätte sowieso keine Zeit zu weiterem
Fragen gehabt, denn in diesem Augenblick hörten sie alle das
Läuten, das die Schüler wieder in den Unterricht
zurückrief. Sie standen auf und gingen gemeinsam in Richtung
ihres Klassenraumes. Oft tat es Love leid, dass sie ihrer Freundin
nicht die ganze Wahrheit erzählen konnte, aber das war
unmöglich, und das wusste sie. Als sie damals die Entscheidung
getroffen hatten, Diebe zu werden, hatten sie alle gewußt, was
das nach sich ziehen würde. Sie hatten gewußt, dass es
nicht einfach werden würde. Für ihren Vater würde Love
noch sehr viel mehr auf sich nehmen, sie mussten ihn finden, das
mussten sie ganz einfach.
Sie
wischte diese Gedanken jetzt zur Seite und konzentrierte sich voll
auf den Unterricht. Doch nach kurzer Zeit begann sie wieder ein wenig
abzuschweifen, fast ohne dass sie es merkte. Sie dachte immer noch
über die Sache mit Hitomi nach. Ihre Schwester konnte oft
unheimlich witzig sein, sie brachte manchmal sogar ihren sonst so
ernsten Freund Hideo Nagaishi zum Lachen.
Ein
leichtes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als sie daran
dachte. Um so mehr leid tat es ihr jetzt, dass sie das große
Vertrauen, das Hitomi in sie hatte, leichtfertig zumindest für
ein Weile aufs Spiel gesetzt hatten. Wenn ihr jetzt mehr oder weniger
durch die Schuld ihrer Schwestern etwas zugestoßen war.
Ohne
noch ein Wort zu sagen, wandte Kubari sich wieder um und ging weiter,
die Wächter mit Hitomi folgten ihm. Sie folgten ihm den selben
Weg zurück in das Kellergewölbe, den Hitomi mit den
Wächtern schon einmal gegangen war. Je weiter sie durch den
dunklen Gang im Kellergewölbe vorwärtsging, desto mehr
Angst hatte sie vor dem, was sie am Ende erwarten würde. Sie
wusste, Kubari bluffte nicht, nicht er. Er würde genau das
durchziehen, was er zu ihr gesagt hatte, und er würde es
genießen.
Der
Gang war immer noch nur schwach erhellt, doch trotzdem sah sie die
gehässige Freude in den Augen dieses Mannes, als sie in der Nähe
einer weiteren Stahltür anhielten und er sich zu ihr umdrehte.
Sie sah ganz genauso aus wie all die anderen auch, und sie stand
offen. „Jetzt wird es zuende gehen, Katze.“
Nein,
das durfte nicht passieren! Niemals durfte er sie so sehen!
Sie
versuchte von den Wächtern loszukommen, doch das gelang ihr
nicht. Sie wehrte sich, doch die Männer hielten sie nur noch
fester. „Nein, nein, das können Sie nicht tun!“
„Ich
weiß, dass es fast nichts schlimmeres für Sie gibt, als
wenn Ihr Freund sieht, wer Sie wirklich sind: eine unverbesserliche
Kriminelle. Aber er wird es erfahren, bevor er mit Ihnen zusammen
stirbt. Sie werden nichts, gar nichts tun können um das zu
verhindern! Kein Ausweg mehr.“ Er lachte wieder sein höhnisches
Lachen, jetzt war es zu viel.
Hitomi
sammelte alle ihre Kräfte, all ihre Wut und ihren Haß, und
das alles explodierte in einer einzigen Bewegung. Mit einem Schrei
befreite sie sich aus den Händen der Männer, schlug dem
einen beide Hände ins Gesicht, so dass er vor Schmerz zischend
zurückwich. Dann rammte sie dem anderen beide Fäuste in den
Magen, so dass er stöhnend zusammensackte. Mit einem Fußtritt
schmetterte sie den ersten Wächter zu Boden, und fast mit der
selben Bewegung tat sie das auch bei dem anderen Wächter. Sofort
war sie zu Kubari gesprungen, ehe der auch nur daran denken konnte zu
reagieren. Mit voller Kraft schlug sie ihm ihre Faust erst ins
Gesicht, dass das Blut aus seinen Mundwinkeln floß, dann schlug
sie ihm mit der selben Hand ins Genick, so dass er fast ohne Laut
bewußtlos auf den Boden sackte. Sie nahm seine Schlüssel
für die Handschellen und öffnete sie damit.
Jetzt sah sie aus den Augenwinkeln einen anderen
Wächter aus der offenen Zellentür treten und reagierte
sofort. Mit einem gewaltigen Sprung und einem Salto war sie bei ihm.
Sie stieß ihm mit einem Kampfschrei den Lauf seiner eigenen
Waffe ins Gesicht, so dass er heulend zurücktaumelte. Sie dachte
nicht darüber nach, was sie eigentlich tat, sie durfte das nicht
zulassen!
Mit
einem weiteren Salto und einem noch in der Luft ausgeführten
Tritt streckte sie auch ihn zu Boden. Seine Waffe flog klirrend auf
den Boden, und er krachte auf den harten Steinfußboden. Noch in
derselben Sekunde zog sie eine Katzenkarte, die man ihr gelassen
hatte, und schleuderte sie in Richtung Lichtschalter. Sie war sich
nicht sicher, ob sie treffen würde. Sie hatten das sehr oft
geübt, doch das hier war eine extrem schwierige Position zum
Zielen. Gleich darauf war es bis auf den schmalen Lichtschimmer, der
durch die offene Tür hereinfiel, stockdunkel im Raum.
Sie
landete auf dem Boden und dachte jetzt zum ersten Mal wieder nach.
Das alles war automatisch abgelaufen; nur so konnte man so schnell
reagieren, wie sie das jetzt getan hatte. Man musste schneller
reagieren als die anderen, sonst war man verloren.
Ihre
guten Augen sahen noch einen Menschen im Raum, aber der war nicht
feindlich, jedenfalls nicht wirklich. Aber was sollte sie jetzt tun?
Wenn sie sich ihm zeigte, war genau das passiert, was ihr Entführer
gewollt hatte, und wenn sie beide jetzt nicht fliehen konnten, wurden
sie trotzdem umgebracht. Sie musste wieder äußerst schnell
eine Endscheidung treffen und handeln. Schneller sein als die
anderen.
Inzwischen
war ein ganzer Tag verstrichen und es war wieder Abend geworden,
immer noch war keine Spur von Hitomi zu sehen. Den Minisender, den
jede von ihnen während der Aktionen immer bei sich trug, hatte
Hitomi in dieser Nacht nicht getragen. Normalerweise konnte man
jemanden damit im Umkreis von 30 km bis auf einige Meter genau
finden, aber diesmal ging das nicht.
Nami
war bei ihrer Lagerhalle im Hafen gewesen und hatte dort nachgesehen,
ob sich irgendeine Spur von ihrer Schwester finden ließ. Sie
hatte aber bis auf die Kleidung, die Hitomi an dem Abend getragen
hatte, nichts gefunden. Außerdem hatten noch ein Motorradanzug
und das Motorrad gefehlt, mit dem sie meistens fuhr. Natürlich
fehlte auch das Bild, das sie hatte zurückgeben wollen. Sie
hatte es auch geschafft, denn heute Morgen hatte es in allen
Zeitungen gestanden. Auch bei dem Museum war sie gewesen, aber dort
hatte sie nicht das geringste gefunden, weder ihre Schwester, noch
das Motorrad, mit dem sie unterwegs gewesen war.
Nun
war sie wieder Zuhause. Es hatte sich durch Zufall ergeben, dass an
der Uni einige Termine und Vorlesungen ausgefallen waren, deswegen
hatte sie die nächsten paar Tage frei. Es waren jetzt über
zwei Tage vergangen, seit sie Hitomi das letzte Mal gesehen hatte.
Noch etwas ganz anderes beunruhigte sie: Toshi schien ebenfalls wie
vom Erdboden verschluckt. Seine Kollegen hatten sie gefragt, ob sie
wüsste, wo der Detective sei. Denn er sei nicht wie sonst immer
zum Dienst erschienen, und als sie in seiner Wohnung nachgesehen
hätten, hätten sie dort auch niemanden vorgefunden. Auch
für ihn war es äußerst ungewöhnlich vom Erdboden
zu verschwinden. Sie hatte den Polizisten nicht weiterhelfen können,
aber was sie gesagt hatten, hatte ihr eigenes ungutes Gefühl bei
der Sache nur noch verstärkt.
Es
hätte auch sein können, dass sie mit Toshi weg war, aber da
kannte sie ihre jüngere Schwester zu gut. Sie konnte sie in fast
jeder Situation einschätzen, und sie wusste, das würde sie
nicht machen, egal wie wütend sie auf ihre Schwestern auch sein
mochte.
Heute
vormittag war Chang hier gewesen und hatte nach ihr gefragt. Daran
hatte Nami gar nicht gedacht gehabt. Hitomi hatte an dem Abend
eigentlich Training bei Chang gehabt. Er hatte ihr erzählt, dass
sie an dem Abend tatsächlich noch bei ihm gewesen war und ihm
erzählt hatte, was sie tun wollte. Auch Chang war ziemlich
beunruhigt gewesen, und auf seine Einschätzung konnte man sich
verlassen. Irgend etwas stimmte da nicht, und das war inzwischen mehr
als nur eine vage Ahnung.
Nein,
sie mussten beide weg von hier, und zwar so schnell wie möglich!
Ohne noch weiter nachzudenken, schnappte Hitomi sich die Taschenlampe
und die Waffe des niedergeschlagenen Wächters und sprang zu
Toshi hin. Er hatte keine Handschellen an den Händen. Sie
fürchtete, wenn sie jetzt länger darüber nachdachte,
was sie tat, würde es zu spät sein, um sie hier beide noch
lebend raus zu bekommen. Also nahm sie seinen Arm und zog den völlig
überraschten Toshi mit sich zur Tür. „Kommen Sie,
wenn Sie leben wollen, vertrauen Sie mir!“
Schon
waren beide auf dem schwach erleuchten Gang. Sie sprangen über
die drei Körper der Männer, die Hitomi gerade eben
niedergeschlagen hatte. Noch hatte niemand der anderen Männer
bemerkt, dass etwas schief gelaufen war, und diese Situation mussten
sie ausnutzen. Denn wenn hier erst einmal alles in Aufruhr war,
hatten sie nicht sehr große Chancen lebend hier wieder
rauszukommen.
Toshi
lief hinter dieser Katze, die ihn gerade auf spektakuläre Weise
aus seiner Gefangenschaft befreit hatte. Eine Art und Weise, an die
man sich gewöhnte, wenn man als Polizist für den Fall
Katzenauge zuständig war. Er kannte diese Frau, die da vor ihm
lief, mit der Taschenlampe und der Waffe in den Händen, die sie
vermutlich einem der Wächter abgenommen hatte. Das hieß,
eigentlich kannte er sie auch wieder nicht, jedenfalls nicht
wirklich. Er wusste nicht, wer sie wirklich war, wer der Mensch
hinter dem Dieb war. Manchmal schon hatte er sich im Stillen gefragt,
ob er überhaupt ein Recht hatte, danach zu fragen.
Doch
diese Fragen waren jetzt alle irrelevant, er hatte sehr wohl
verstanden, was sie ihm gesagt hatte. Obwohl er nicht genau wusste,
warum er das tat, sprang er im Laufen auf sie zu, als er eine offene
Zellentür sah. Halb flogen sie, halb zog er sie in die Zelle
hinein.
Sie
rollte sich ab und ließ dabei die Taschenlampe fallen, konnte
die Waffe aber festhalten. Sie rollte sich zur Seite und sprang schon
wieder auf. Aber schon hatte er die Taschenlampe in der Hand und
stand langsam auf. Er hatte die Tür im Rücken, sie stand
mit dem Rücken an der Wand. Es war ganz klar, wenn sie hier raus
wollte, musste sie erst an ihm vorbei. In der Zelle war es finster,
bis auf den schmalen Lichtschein, der durch die Tür fiel. Aber
er reichte nicht bis zu ihr. Mit der Waffe in der Hand zog sie sich
immer weiter zur Wand zurück, bis sie direkt an der Mauer stand
und nicht mehr weiter konnte.
Hitomi
sah ihren Freund undeutlich im Lichtschein stehen, mit der
Taschenlampe in der Hand. Sie selbst hatte es geschafft die Waffe in
der Hand zu behalten.
Das
hätte sie ahnen müssen, er handelte jetzt doch als Polizist
und nicht als ihr Freund! Er hatte die Pflicht, ihre Identität
aufzudecken und sie zu verhaften, ob er das nun wollte oder nicht.
Wenn er jetzt das Gefecht mit ihr gewann...
Er
trat einen Schritt vor und ließ sie nicht aus den Augen, obwohl
er sie sicher nur als Schatten sehen konnte. Er machte die
Taschenlampe an, hielt den Schein aber noch auf dem Zellenfußboden.
Nein, das durfte er nicht tun!
„Vielleicht
sind wir ja in Gefahr, aber das ist mir im Moment egal!...Ich werde
Sie erst sehen, ich werde ihre Sache erst zuende bringen!“,
hörte sie ihn sagen.
Nein!
Sie hielt die Pistole auf ihn gerichtet, obwohl sie nicht gedacht
hatte, dass sie das jemals tun könnte. Sie hatte niemals
gedacht, dass sie ihn tatsächlich einmal mit einer Waffe
bedrohen könnte, selbst wenn er im Begriff war ihre wahre
Identität aufzudecken. Doch jetzt tat sie es.
„Machen
Sie die Taschenlampe aus, Detective!...Wir haben jetzt keine Zeit für
sowas! Wenn die uns wieder einfangen, werden sie uns töten!“
Er
trat noch einen Schritt vor. „Aber zuerst werde ich wissen, wer
Sie wirklich sind!...Sie werden nicht weitermachen!“
„Hören
Sie auf damit,...ich werde Sie lieber erschießen, das schwöre
ich Ihnen!“ Sie entsicherte die
Waffe. „Na los, dann
tun Sie es doch! Erschießen Sie mich! Aber vorher werde ich
wissen, wer Sie sind, Katze!“
Sie
spielte jetzt ein gefährliches Spiel. Sie hielt die Pistole mit
beiden Händen fest umklammert, während sie immer noch auf
seine Brust zielte. Er ließ nun den Strahl der Taschenlampe
immer weiter an ihr hochgleiten und beleuchtete langsam, aber sicher
ihren gesamten Körper. Sehr viel Zeit hatte sie nicht mehr. Sie
musste eine Entscheidung treffen. Aber sie hatte Angst davor.
Unheimliche Angst.
Sie
warnte ihn noch einmal: „Tun Sie das nicht! Ich werde schießen!
Verstehen Sie nicht, die Zeit läuft uns davon!“
„Das
ist mir egal!“ Er leuchtete immer weiter an ihr hoch.
Nein,
Sie konnte nicht!...Niemals würde Sie schießen können.
Sie konnte sich nicht mehr bewegen, auch die Hände nicht, mit
denen sie die Pistole hielt. Doch jetzt, fast wie in Trance, begann
die Waffe zu zittern. Sie bemerkte erst nicht, dass es nicht die
Pistole selbst war, sondern ihre Hände. Doch dann war es sowieso
zu spät, denn dann erreichte der Lampenschein ihr Gesicht und
ihre Augen...
Sie
riß die Augen auf, obwohl der Lichtschein sie blendete. Alles
in ihrem Kopf wirbelte umher, alles war ein einziges Chaos. Nein, das
durfte nicht so passiert sein! Es durfte noch nicht das Ende sein!
Keinen
Laut konnte sie hervorbringen, sie stand da wie versteinert, und auch
ihre Gedanken schienen versteinert, nur ein Gedanke war da: Aus! Aus
und vorbei!
Sie
hörte seine Stimme: „Hi...Hitomi! Nein, nicht du...!“
Sie ließ langsam die Pistole sinken, immer weiter ließ
sie sie sinken.
„Toshi!...Nein!“
Es war fast nur noch ein Flüstern, aber er hörte es
deutlich.
Plötzlich
sah sie einen Schatten hinter Toshi. „Runter!“
Dieses
einzige gerufene Wort von ihr genügte, und er warf sich zu
Boden, fast augenblicklich darauf reagierend. Eine Zehntelsekunde
später durchschnitt ein scharfer Knall den Raum, der Knall einer
Waffe. Er hörte ein scharfes Zischen und ein schmerzvolles
Aufstöhnen hinter sich, dann hörte er einen dumpfen Laut,
als ein Körper zu Boden sank. Noch immer auf dem Boden liegend
drehte er sich um und sah einen Wächter daliegen. Es war ein
sauberer Schuß durch die Schulter gewesen. Er verlor zwar Blut,
aber er würde es überleben.
Sie
hatte ihm gerade schon wieder das Leben gerettet. Langsam, immer noch
die Taschenlampe in der Hand, richtete er sich wieder auf. Er hatte
keine Ahnung, wie er es noch zustande brachte, sie in der Hand zu
behalten. Er sah ihren Schatten dastehen, die Waffe immer noch
angelegt.
Dann
ließ sie sie wieder sinken, immer weiter, bis sie sie
schließlich fallen ließ. Das schwere Metall schlug mit
einem dumpfen Klirren auf den steinernen Fußboden auf und
hallte noch lauter in seinem Ohr als der Schuß gerade eben.
Fast lautlos sank sie an der Wand zu Boden. Dann war Stille.
Er
hatte die Taschenlampe auch fallenlassen. Die wenigen Schritte zu ihr
kamen ihm unendlich lang vor, so als müsse er sich seinen Weg
dorthin kämpfen. Dann kniete er neben ihr.
Erst
langsam kam ihr zu Bewußtsein, was gerade eben geschehen war.
Sekunden später bemerkte sie, dass sie jemand an den Schultern
festhielt, sie konnte nur seinen Atem hören.
„Nein,...Hitomi!
Wie kannst du...wie kannst du Katzenauge sein!? Das ist einfach
unmöglich, Hitomi!“ Die Stimme ihres Freundes klang Hitomi
so vertraut, aber gleichzeitig auch wieder fremd.
Mit
eiskalter Gewißheit begriff sie, dass es nun aus war. Sie würde
ihn verlieren, sie würde ihre Schwestern verlieren, sie würde
ihren Vater verlieren. Aber was spielte das denn noch für eine
Rolle? Sie beide würden doch sowieso bald tot sein. Sie würden
von Kubari kaltblütig umgebracht werden, der spielte nicht.
Nur
mit Mühe konnte sie hervorbringen: „Es...es tut mir leid.“
Sie schaute zu Boden, während sie das sagte. Jetzt war wirklich
alles zu spät.
Er
faßte sie jetzt an den Handgelenken und zog sie hoch, so dass
sie ihn ansehen musste. Sie sah seine Augen im Dämmerlicht, und
ein Schreck durchfuhr sie. So einen Ausdruck hatte sie noch niemals
gesehen. Eine Mischung aus Mutlosigkeit, Hoffnung, Angst, Vertrauen
und Schmerz, die alle miteinander zu kämpfen schienen, aber
keines konnte die Oberhand gewinnen.
Er
sagte gar nichts, überhaupt nichts, nur seine Lippen zitterten,
als wollte er etwas sagen. Aber es schien so, als hätte er es
verlernt oder wusste nicht, was er sagen sollte oder wie.
„Toshi,...verhafte
mich endlich! Es ist zu spät, für uns alle ist es zu spät!“
Jetzt
fuhr er auf: „Nein, nein,...das ist nicht wahr, Hitomi!...Es
ist nicht zu spät!“
„...Das
kann es nicht sein...“, fügte er noch leise hinzu. So
wollte etwas erwidern, da hörten sie beide harte Schritte auf
dem Steinfußboden, und beide fuhren wie von einem Reflex
gezogen hoch.
Es
war zu spät, Hitomi hielt noch den Arm als Abwehr entgegen, aber
schon traf sie der gewaltige Schlag des Mannes. Sie taumelte gegen
die Wand zurück und riß Toshi dabei fast mit um. Sie
spürte, wie er von einem anderen Mann von ihr weggezerrt wurde.
Blut
lief aus ihrem rechten Mundwinkel, und sie war gleich vom ersten
Schlag zu benommen um dem zweiten Schlag ernsthafte Gegenwehr
entgegensetzen zu können. Das war es aber nicht alleine, sie
wollte nicht mehr kämpfen. Ihr ganzer Mut, ihre ganze Kraft,
Stärke und Schnelligkeit schienen weg zu sein, als sie erkannte,
dass gerade eben alles zuende gegangen war.
Sie
wurde mit brutaler Gewalt an eine Wand geschmettert, so dass sie Mühe
hatte auf den Beinen zu bleiben. Erst sah sie Sternchen vor den
Augen, dann konnte sie den Mann vor ihr sehen. Sie erkannte Kubari.
Er schlug sie noch einmal, so dass ihr das Blut aus der Nase lief,
doch das war ihr jetzt egal. Ihr war jetzt fast alles egal geworden.
Sollten sie sie doch erschießen.
„Hören
Sie auf damit, Sie bringen sie ja um!“ Toshi’s Stimme
verriet seine Hilflosigkeit und seine Angst um sie. Er versuchte sich
von dem Mann loszureißen, der ihn eben mit Handschellen fesseln
wollte. Dieses Rufen brachte ihm nur einen heftigen Fauststoß
in die Rippen ein. Aber der Mann hörte jetzt auf Hitomi zu
schlagen, er stellte sich statt dessen vor sie hin:. „Ich habe
Sie unterschätzt, Katzenauge! Ich hatte natürlich damit
gerechnet, dass Sie alles versuchen würden, um Ihren Freund zu
retten, aber das hier war schon eine wahre Meisterleistung.“
„Freut
mich, dass es Ihnen gefällt!“, antwortete Hitomi
sarkastisch und ignorierte das Blut, das ihr über das Kinn lief.
Kubari’s
Stimme hörte man die Genugtuung an. „Den ersten Teil
meiner Rache habe ich bereits erhalten, auf die eine oder andere
Weise, aber das ist ja egal. Der zweite Teil wird noch viel schöner
werden, denn ich werde das Vergnügen haben, Sie beide sterben zu
sehen.“
Er wandte sich Toshi zu. „Nun, Detective,
was ist das für ein Gefühl, wenn man bemerkt, dass einen
die eigene Freundin nach Strich und Faden belogen hat? Wissen Sie,
ich frage mich schon die ganze Zeit, wie dumm Sie eigentlich sind.
Haben Sie es nicht früher bemerkt, oder wollten Sie es nicht
bemerken? Haben Sie nicht bemerkt, dass sie Sie nur benutzt hat? Sie
hat Sie nur als Mittel zum Zweck gebraucht, vermutlich hat sie Sie
niemals wirklich geliebt.“
Das
reichte! Das war zuviel! „Nein!...Das ist nicht wahr!“
Ihre Stimme war fast nur noch ein Knurren.
Mit
einem einzigen Sprung stand sie neben ihm, und bevor es jemand
verhindern konnte, bevor überhaupt jemand reagieren konnte,
schlug sie mit einer Kombination aus zwei Faustschlägen zu. Er
taumelte zurück, und sie setzte noch einmal nach, so dass er zu
Boden stürzte. Dem neben ihm stehenden Wächter schmetterte
sie mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand und streckte ihn
mit dem nächsten Tritt zu Boden.
Sie
konnte sich jedoch nicht gegen alle wehren. Ein Mann stürmte von
hinten heran und schlug ihr mit seinem Schlagstock ins Genick, so
dass sie mit einem schmerzlichen Stöhnen zu Boden sank.
Toshi
kniete neben ihr. Er wollte ihr helfen, doch er konnte nicht. Ihm
selbst waren die Hände mit Handschellen gefesselt. Er konnte ihr
nicht helfen.
Hitomi
hob den Kopf und sah ihn mit mühsam offengehaltenen Augen an.
Ihr Blick war nicht mehr ganz klar, aber sie streckte ihre Hand aus
und berührte seinen Arm. „Das ist nicht wahr...Ich...ich
liebe dich...und ich habe dich immer geliebt.“
Es
war nur noch ein schwaches Flüstern. Dann sank sie schließlich
vollständig bewußtlos um. Jetzt lag sie da auf dem Boden,
eine Hand noch zu ihm hingestreckt. Toshi sah in diesen Momenten nur
sie, nichts anderes. Ihre Worte klangen in seinem Ohr nach, alle
anderen Geräusche ließ er jetzt nicht zu sich
durchdringen.
Schließlich
zerrte jemand ihn vom Boden weg. Er wollte sich dagegen wehren, und
der Wächter wollte ihn wieder schlagen. Diesmal hob der Mann,
den Hitomi auf so spektakuläre Weise niedergeschlagen hatte, die
Hand. Er wischte sich Blut, das ihm aus der Nase lief, vom Gesicht.
Ein
weiterer Mann nahm die bewußtlose Hitomi auf die Schulter und
ging voraus. Der andere führte Toshi in Handschellen hinterher.
Er wurde durch einige Gänge gebracht, die alle nur schwach
erleuchtet waren.
Er
wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte. Ihm und Hitomi hatte
man die Armbanduhren genommen, und hier unten schien man jedes Gefühl
für Zeit zu verlieren. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor,
die er jetzt schon auf Hitomi blickte, die immer noch bewußtlos
auf einer Pritsche lag, und er saß daneben.
Er
hatte ihr sanft das Blut vom Gesicht gewischt, Strähnen ihres
langen, schwarzen Haares hingen ihr in der Stirn. Ihre Gesichtszüge
wirkten seltsam entspannt, beinah so, als würde sie schlafen. Er
wünschte sich auch nichts seliger, als dass auch er jetzt nur
schlief und träumte. Dass das alles hier nur ein schrecklicher
Alptraum war. Das konnte nicht sein! Sie war doch seine Verlobte.
Es
musste doch eine andere Erklärung dafür geben, was hier
jetzt geschah. Wieso sie in diesem Anzug vor ihm lag. Aber je länger
er sie ansah, desto sicherer wusste er, dass es die grausame Realität
war. Er betrachtete noch einmal den dunkelblauen Anzug, den sie trug.
Es gab keinen Zweifel, das war der Anzug der Katzen, das war eine der
Katzen, denen er so lange hinterhergejagt war. Hitomi war eine der
Katzen. Verdammt, er wünschte sich so sehr, dass das alles nicht
wirklich geschehen war.
Jetzt
konnte er seine Augen nicht mehr von dem abwenden, was doch
eigentlich ganz unmöglich war. Sie war es gewesen, die mit ihm
gekämpft hatte auf diesem Dach in Yokohama vor zwei Jahren. Sie
war es wahrscheinlich auch gewesen, die er vor anderthalb Jahren im
Park des Museums von Komatsu gejagt und dennoch nicht gefangen hatte.
Sie
war es auch gewesen, die er vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Er
hatte sie dabei endlich in die Finger bekommen, aber er hatte sie
wieder laufen lassen ohne zu wissen, wer sie war. Er wusste bis heute
nicht genau, warum er das getan hatte. Niemand außer ihm und
den Katzen selbst wusste etwas von diesem Vorfall, und das war auch
gut so. Denn wenn seine Vorgesetzten das jemals erfahren würden,
würde er mit ziemlicher Sicherheit selbst verhaftet und
verurteilt werden.
Jetzt
lag diese Frau vor ihm, Hitomi lag vor ihm. Sie hatte ihm vorhin zum
wer weiß wie vielten Mal das Leben gerettet. Oft genug hatte
sie ihres riskiert, um seines zu retten. Er konnte sich ein Leben
ohne sie überhaupt nicht vorstellen, er liebte sie viel zu sehr.
Während
er sie so ansah, suchte er in ihrem Gesicht immer wieder nach
Antworten. Antworten, was geschehen war. Antworten, warum sie das
getan hatte. Er wusste, egal was sie getan haben mochte, er liebte
sie, und daran änderten nicht einmal die Katzen etwas. Er hatte
die Wahrheit in ihren Augen gesehen, als sie den Kopf gehoben hatte,
bevor sie bewußtlos zusammengebrochen war. Er hatte gespürt,
dass sie die Wahrheit sagte, dass sie ihn liebte und nicht benutzt
hatte, wie dieser Mann behauptete.
Was
war bloß furchtbares passiert, das sie und ihre Schwestern dazu
getrieben hatte, das zu tun, was sie getan hatten? Er stellte sich
diese Frage immer und immer wieder, aber er fand keine Antwort. Nein,
ganz stimmte das nicht. Er hatte schon eine Ahnung, aber er konnte
nicht richtig daran glauben, das war einfach zu unmöglich.
Er
erschrak fast ein wenig, als Hitomi aufwachte. Sie öffnete nur
langsam und scheinbar widerwillig sich der Realität zu stellen
die Augen.
Erst
langsam konnte sie wieder klar denken, und sie versuchte, sich daran
zu erinnern, was passiert sein mochte. Wieder tanzten ihr Sternchen
vor den Augen, und sie sah alles verschwommen. Endlich wurde ihr
Blick klarer, und sie hörte jetzt auch eine Stimme, die sanft,
beruhigend und irgendwie vertraut klang. In dem Moment, als sie sich
an alles wieder erinnern konnte, kam die Stimme ganz klar an ihr Ohr.
„Hitomi,
bitte wach auf! Du musst aufwachen!“
Sie
schrak hoch. Für einen unendlichen Augenblick starrte sie ihn an
und schien erst noch nicht richtig begriffen zu haben, wer da
wirklich vor ihr stand. Sie brachte keinen Laut über ihre
Lippen, sie stand einfach nur aufrecht da.
Ihre
Beine schienen am Boden festgezaubert zu sein, ihre Gedanken
wirbelten durch ihr Hirn, aber nur ein Gedanke beherrschte jetzt
wirklich ihr gesamtes Denken und Fühlen: Aus! Aus und vorbei!
Für immer. Jetzt war alles aus, alles war zu spät. Alle
anderen Sachen sah sie jetzt nicht, sie sah nur Toshi vor sich
stehen. Dann begann sich wieder alles um sie zu drehen, nur er blieb
als einzige Konstante im Raum stehen. Sie sank auf die Pritsche und
war wieder kurz vor der Bewußtlosigkeit, doch Toshi ließ
sie nicht. Er faßte sanft ihre Schultern und hielt sie
aufrecht.
„Nein,
Hitomi,...du wirst mir jetzt nicht noch einmal ohnmächtig!“
Sie
sah ihn müde an und hielt mit Mühe die Augen offen, ihre
Stimme war leise und mutlos. „Was...was hat das denn jetzt noch
für einen Sinn? Es ist vorbei, das weißt du doch genauso
gut wie ich.“
Er
strich ihr, wie um ihr das Gegenteil zu beweisen, leicht über
die Wange. „Bitte, so darfst du nicht reden!...Du musst
aufstehen!“
Er
faßte sie am Arm, und sie stand langsam auf. Dann lehnte sie
sich an die kalte Wand aus roh behauenen Steinblöcken. Doch
jetzt kam auch die Erinnerung, die Angst und das Entsetzen wieder. Es
hätte niemals passieren dürfen, aber es war passiert. Sie
und ihre Schwestern hatten genau gewußt, dass es eines Tages
passieren würde.
Toshi
trat jetzt zu ihr heran, sie wagte nicht seinem Blick zu begegnen.
„Es...es tut mir leid, Toshi.“ Ihre Stimme war leise, und
sie ließ die Schultern hängen. „Du musst mich
verhaften!...Es geht nicht anders,...es ist zu spät!“
„Nein,...nein,
das kann ich nicht, und das weißt du! Warum hast du nicht auf
mich geschossen,...es war die einzig logische Möglichkeit.“
„Ist
Liebe denn logisch?“
„Nein,
wahrscheinlich nicht.“
Plötzlich
sah sie ihn an. „Verstehst du denn nicht?!...Ich bin eine
Diebin, und du bist Polizist!...Ich wusste, dass es eines Tages so
kommen würde. Meine Schwestern haben mich gewarnt, aber ich hab
nicht auf sie hören wollen.“ Ihre Stimme begann zu
zittern, als sie leise fortfuhr: „Unzählige Diebstähle
und Einbrüche gehen allein auf unser Konto,...daran gibt es
nichts zu ändern. Ich...ich habe das nie gewollt, aber ich habe
dich belogen,...und das die ganzen Jahre lang, die wir uns jetzt
schon kennen. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig
machen, aber ich kann es nicht...“
Tränen
liefen über ihr Gesicht, und sie wollte sich abwenden. Doch er
legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie sanft zu sich
herum. Sie sah ihn an, und er nahm sie in den Arm. Er flüsterte:
„Verdammt, Hitomi, ich liebe dich, und nicht einmal Katzenauge
wird etwas daran ändern können! Es ist mir egal, was du
getan hast. Ich will dich nur nicht verlieren.“
„Dann
sieh mich doch an. Die Diebstähle, die Karten, die Anzüge,...die
Lügen. Es ist vorbei!“
Aber
jetzt fuhr er auf: „Hör auf damit! Bitte hör auf
damit, dir alle Hoffnungen zu nehmen. Es ist nicht vorbei, verstehst
du?!...Ich würde dich niemals aufgeben, und ich würde auch
uns niemals aufgeben, ganz gleich, was in den letzten Jahren und
jetzt passiert ist. Und das darfst du auch nicht tun!“
Sie
sah immer noch zu Boden. „Ich...ich hätte nicht
geschossen. Ich würde niemals auf dich schießen können,
niemals. Er hat gelogen, ich habe dich immer geliebt, und ich liebe
dich noch, das musst du mir glauben. Auch wenn ich dir all diese
Dinge verschweigen musste.“
„Ja,
ich weiß.“, antwortete er nur.
„Aber
das ist jetzt sowieso alles egal. Jetzt hat doch alles keinen Sinn
mehr.“ Hitomi’s Stimme klang noch mutloser. „Es ist
zu spät,...die Katzen sind geschlagen.“ Sie stieß
sich von der kalten Wand ab und setzte sich auf die Pritsche, nach
ein paar Sekunden setzte Toshi sich neben sie. Sie wagte wieder
nicht, ihn anzusehen.
„Du
hast mich geschlagen, Toshi!...Schon oft genug warst du nahe dran zu
sehen, wer die Katzen wirklich sind. Aber diesmal hast du es
geschafft...Jetzt ist es zuende.“
„Das
ist nicht die Katze, die ich kenne!...Die Katze, die ich kenne,
wusste sich immer noch zu helfen, auch wenn es noch so schlecht
aussah. Zumindest hat sie es versucht und nicht aufgegeben. Warum
gibt sie jetzt auf?“
Hitomi
lächelte leicht und meinte: „Du bist der Grund. Du warst
oft dichter an der Wahrheit dran als du dachtest, aber irgendwie hat
uns der Zufall immer noch geholfen.“
Ein
Ausdruck tiefer Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit trat in ihr
Gesicht, und sie wich seinem Blick aus. „Bitte, so darfst du
nicht reden!...Du darfst dich nicht selbst aufgeben, Hitomi!“
„Egal,
ob wir hier lebend herauskommen oder nicht, es ist doch vorbei.“
„Nein,
das ist es nicht. Wir werden einen Weg finden.“ Sie sah ihn an,
wollte etwas sagen, aber er legte ihr sanft einen Finger auf den Mund
und meinte leise: „Bitte, vertrau mir, Katzenauge!“ Er
sah kurz zu Boden, dann sah er sie wieder an und fuhr mit einem
ironischen Lächeln um die Mundwinkel fort: „Ich hätte
niemals gedacht, dass ich dich wirklich einmal so nennen würde.
Nur in manchen Alpträumen habe ich tatsächlich..., und
plötzlich ist das alles real.“
Sie
stand auf. „Ja, du hast mir vertraut,...und ich habe das
Vertrauen mißbraucht.“ Sie war einige Schritte in den
Raum hineingegangen und wandte sich jetzt zu ihm um. Sie hatte selber
keine Ahnung, wie sie die Kraft aufbrachte, ihm in die Augen zu
sehen, als sie ihn zu sich blicken sah. „Ich weiß nicht,
ob du die ganze Sache verstehen wirst,...ob du sie verstehen willst.“
„Versuche
es.“
Hitomi
schlug den Blick nieder, trat wieder zu ihm heran und setzte sich
neben ihn.
„Die
ganze Sache ist furchtbar kompliziert, aber im Grunde ist sie sehr
einfach. Sie ist nur komplizierter geworden, mit jedem Bild, mit
jedem Kunstwerk, das wir gestohlen haben. Mit jedem Teil des Puzzles,
das wir wieder zusammensetzen konnten. Meine Schwestern haben mich
gewarnt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Erst langsam habe
ich damals gemerkt, dass ich Gefühle für dich entwickelt
hatte. Mir ist klar geworden, dass ich das eigentlich nicht durfte.
Ich war eine Diebin, und du warst Polizist. Doch da war es schon viel
zu spät für ein Zurück, ich hatte mich schon längst
in dich verliebt. Ich wollte auch nicht mehr zurück, egal wie
gefährlich es für mich sein würde. Es hat oft sehr weh
getan, dir niemals die wirkliche Wahrheit sagen zu können, dich
immer wieder belügen zu müssen, immer und immer wieder. Ich
habe gewußt, dass es einmal passieren würde,...irgendwann
einmal würdest du es herausfinden. Ich habe mich vor dem Moment
gefürchtet, in dem du eine Erklärung von mir verlangst.
Aber jetzt ist es ja sowieso zu spät.“
Sie
machte eine kurze Pause. „Weißt du noch, was du damals
gesagt hast?...Die Katzen wären die Töchter von Heintz, die
Töchter von dem Maler, dessen Kunstwerke sie stehlen.“
Nach einigen Sekunden Stille meinte sie: „Ich sollte dir das
jetzt sagen, so einfach, simpel und ehrlich, wie es ist. Es stimmt,
die Katzen sind die Töchter dieses Malers. Wir sind die Töchter
von Michael Heintz.“
Sie
hörte ihn scharf einatmen, seine Überraschung, sein Schreck
und alles andere hörbar in diesem einen Atemzug, sichtbar in
seinen Augen.
Er
sah Hitomi an, mit einer Mischung aus Überraschung, Verblüffung,
Schreck und seinem typischen „ich hatte es doch geahnt“-
Blick. Erst konnte er überhaupt nichts sagen, aber das brauchte
er auch nicht. Sein Blick sagte Hitomi viel mehr, als er ihr mit
Worten hätte sagen können.
„Dieser
Mann, der dir damals gesagt hat, dass deine Spur falsch wäre,
ist unser Freund und Informant. Wir mussten dich von der Spur
abbringen, sonst hättest du das Geheimnis der Katzen schön
viel früher aufgedeckt. Er ist unser Vater, Toshi. Es tut mir
leid,...dass du erst jetzt davon erfährst.“
Für
einige Sekunden schwieg er, dann meinte er kopfschüttelnd: „Es
stimmt also wirklich?!...Dann seid ihr also tatsächlich seine
Töchter?! Es ist also tatsächlich wahr.“
Hitomi
nickte und lachte auf einmal leise, als sie hinzufügte: „Es
ist schon irgendwie komisch, denn niemand weiß etwas davon,
dass er unser Vater ist. Na ja, fast niemand, ein paar Leute wissen
es schon. Und du ja jetzt auch.“
Das
musste er erst verarbeiten. Was Hitomi ihm da gerade eben gesagt
hatte, war eigentlich unmöglich, aber eigentlich auch die
logische - die einzige - Erklärung. Er hatte jetzt seit drei
Jahren nach Antworten gesucht, was es mit den Katzen wirklich auf
sich hatte. Schon bevor er auch dienstlich mit dem Fall konfrontiert
wurde, hatte er sich für diese Diebesbande interessiert, aber
sein wirkliches Interesse war erst durch seinen Beruf geweckt worden.
Er
hatte die Antwort gesucht, die Licht in diese ganze verworrene
Angelegenheit um die Katzen bringen konnte. Jetzt hatte er gefunden,
was seine Theorien bestätigte. Die Katzen waren die Töchter
des Malers Heintz, dessen Bilder sie stahlen. Wenn da nicht noch
etwas ganz wichtiges gewesen wäre: die Frau, die er über
alle Maßen liebte, war selbst eine dieser Katzen.
Jetzt
sah er diese Frau, die neben ihm saß, lange an. „Dann
stimmt es also? Ihr versucht durch die Kunstwerke eures Vaters eine
Spur von ihm zu bekommen, weil er verschwunden ist?“
Hitomi
nickte traurig. „Ja,...das stimmt. Unser Vater versteckt sich
vor diesen Leuten, die ihn verfolgen. Seit über sechs Jahren ist
er jetzt schon verschwunden. Seitdem ist so viel passiert,...wir
kommen der Wahrheit zwar immer näher, aber wir haben keine
Ahnung, ob wir ihn jemals lebend wiederfinden werden.“
Sie
hielt kurz inne, dann fuhr sie leise fort: „Allein durch seine
Kunstwerke konnten wir noch hoffen, ihn lebend wiederzufinden. Es ist
damals alles so furchtbar schnell gegangen,...als wir die Sache mit
den Katzen angefangen hatten, konnten wir nicht mehr zurück.
Damals war es schon viel zu spät, wir waren in der Sache drin.“
„Aber
war es das wert? Mal ganz davon abgesehen, dass ihr die Gesetze
gebrochen habt,...ihr hättet getötet werden können,
oder wir hätten euch doch irgendwann geschnappt. Ihr wißt
ja noch nicht einmal, ob euer Vater noch lebt.“
„Ja,...ich
weiß. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst,...aber wenn wir
nicht irgend etwas getan hätten, hätten wir nie wieder
hoffen können, ihn noch lebend wiederzusehen. Hätten wir
das mit legalen Mitteln getan, wäre unser Vater sicher längst
tot und wir auch. Du kennst diese Leute nicht, die sind zu allem
fähig.“
„Welche
Leute? Vor welchen Leuten versteckt er sich?“
„Unser
Vater ist in Bern gewesen über den Sommer 1981. Als uns ein
alter Freund von ihm berichtet hat, dass er...spurlos verschwunden
sei, sind wir sofort auch nach Bern geflogen. Alles, was wir dort
gefunden haben, war ein verwüstetes Atelier,...aber er
war verschwunden, genau wie seine Sammlung auch.“
Jetzt
fuhr sie auf: „Du hast ja keine Ahnung, was uns unser Vater
bedeutet. Ich habe ihn immer geliebt, und meine Schwestern ganz
genauso. Er war der wunderbarste Vater, den man sich nur vorstellen
kann! Plötzlich verschwindet er, löst sich in Luft auf, und
wir haben nur schlimme Vermutungen, was mit ihm passiert sein
könnte!...Was die ihm angetan haben könnten.“ Tränen
traten in ihre Augen, leise fuhr sie fort: „Ich weiß,...das
ist alles keine Entschuldigung für das, was wir getan haben. Es
war von Anfang an falsch,...aber es war die einzige Möglichkeit,
die uns damals noch geblieben ist. Als wir uns dann entschlossen
hatten, konnten wir nicht mehr zurück. Ich kann schon gar nicht
mehr mitzählen, wie oft wir jetzt schon das Gesetz gebrochen
haben. Wie oft ich dich angelogen habe...!“
„Ich
bin blind gewesen, dass ich die Wahrheit nicht gesehen habe.
Vielleicht wollte ich sie auch nicht sehen, weil...weil das alles
viel zu unmöglich war, um wirklich wahr zu sein. Weil ich
gefürchtet habe, dass ich dich dann für immer verliere.“
Eine
kurze Stille trat ein, danach meinte er: „Wenn ich nur geahnt
hätte...! Wenn ich nur früher davon erfahren hätte.
Ich...ich hätte es verstanden, Hitomi!“
Das
erste Mal seit einigen Minuten sah sie ihn wieder an. Er sah eine
Mischung aus Hoffnung, Traurigkeit und Liebe in ihren Augen.
„Ja,...vielleicht hättest du das. Aber du hättest uns
alle verhaften müssen,...mich, Nami, Love und Chang und Herrn
Nagaishi auch. Das ist dein Beruf, du musst jeden Kriminellen
verhaften. Du hättest es tun müssen, vollkommen egal, was
du für mich empfinden magst. Das wollte keiner von uns,...am
wenigsten ich.“
Er
sah sie nachdenklich an. „Ja, vielleicht ist es ganz gut so,
dass ich erst jetzt davon weiß. Aber ich kann euch nicht
verhaften, jetzt nicht mehr. Es ist mir egal, ob ich damit gegen
meinen Eid verstoße oder nicht. Sollen sie mich doch
suspendieren, sollen sie mir doch meine Marke wegnehmen, aber ich
lasse mir von denen nicht die Frau wegnehmen, die ich liebe!
Verstehst du, ihr seid nicht wirklich kriminell! Ich könnte es
niemals ertragen, dich hinter Gittern zu sehen, weil...weil ich dich
ganz einfach liebe. Da spielt es keine Rolle, ob ich Polizist bin
oder nicht!“
„Du
darfst deinen Beruf nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen!“
Er
lächelte leicht. „Aber das tue ich nicht. Selbst wenn, der
Einsatz lohnt sich allemal.“
Er
sah sie wieder lange an, und er sah eine Frau, hin - und hergerissen
zwischen Hoffnung, Schmerz, Liebe, Angst und Überraschung. Er
sah eine Stärke in ihr, die er in dieser Art noch niemals bei
ihr gesehen hatte. Selbst jetzt, wo alles auf sie beide einzustürzen
schien, konnte er diese Stärke noch sehen. Den Mut und die
Stimme in ihr, die sie nicht aufgeben ließ, auch in den
schwierigsten Situationen nicht. Sanft faßte er ihr Kinn in
seine warme Hand und hob ihren Kopf. „Was immer auch geschehen
ist, und was immer auch geschehen mag, ich werde da sein. Kein Mensch
wird mich davon abhalten können dich zu lieben.“
In
ihren Augen sah er pure Überraschung. Sie hatte ihn belogen, und
das wieder und wieder, schon so lange sie sich kannten. Trotzdem
konnte er sie noch lieben, trotzdem stand er noch da und hielt zu
ihr.
Sie
konnte das nicht begreifen. Sie öffnete den Mund und wollte
etwas sagen, aber er legte ihr einfach sanft einen Finger auf die
Lippen.
„Shhh,...hör
auf, dir darüber Sorgen zu machen. Wir werden das hinkriegen.
Aber jetzt sollten wir uns erst einmal Gedanken darüber machen,
wie wir heil hier wieder rauskommen!“
Ein
leichtes Lächeln legte sich über ihr Gesicht, und dieses
Lächeln tat ihm unendlich gut. „Ja, wahrscheinlich hast du
recht.“, sagte sie nur. Aber es sagte ihm alles, was er wissen
musste.
Wenig
später saßen sie beide an die Wand gelehnt nebeneinander,
er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Er bemerkte erst jetzt
richtig, wie doppelt schön sie in diesem Anzug aussah, sie
drückte genau die Geschmeidigkeit und Schnelligkeit aus, die er
an den Katzen immer bewundert hatte. Das war auch kein Wunder, denn
er hatte hier ja gerade eines der Mitglieder von Katzenauge neben
sich sitzen. Er musste sich das immer wieder von neuem klarmachen,
sonst kam er vielleicht noch auf den Gedanken, das alles hier wäre
nichts weiter als ein Traum. Seine Gedanken schwirrten nur um die
Frau, die dicht neben ihm saß und ihren Kopf an seinen Arm
gelehnt hielt. Toshi dachte daran, was da alles abgelaufen sein
musste, während der letzten Jahre. Er wusste, die drei
Schwestern hielten zusammen wie Pech und Schwefel, und durch
Katzenauge war diese Verbindung sicher noch verstärkt worden.
Sonst aber waren da nur noch wenige, denen ihre wahre Herkunft
bekannt war und die sie wirklich verstanden. Über sechs Jahre
war es jetzt her, hatte Hitomi gesagt. Sie hatte noch nichts davon
erwähnt, aber er konnte sich wohl denken, was für einen
Schock das Verschwinden ihres Vaters bei den Dreien bewirkt haben
musste. Das musste bis heute eine unglaublich schwierige Zeit für
sie gewesen sein, und sie konnten mit den meisten ihrer Freunde nicht
einmal darüber reden. Vielleicht hatte er blind sein wollen,
weil er sich vor den Folgen der Wahrheit gefürchtet hatte. Er
hatte manche ungewöhnliche Gesten oder Bemerkungen von Hitomi
oder ihren Schwestern zwar wohl bemerkt, hatte sich aber nicht näher
damit beschäftigt oder sie zu deuten gewußt.
Er
hatte sich nicht geirrt, die Katzen waren nicht kriminell, das waren
sie nie gewesen. Egal, ob es richtig oder falsch gewesen sein mochte,
wie sie sich damals entschieden hatten, sie waren keine Kriminellen.
Er sah in Hitomi, die jetzt neben ihm saß, weder die Hitomi,
die er bis jetzt gekannt hatte, noch die Katze, die ihn wieder und
wieder reingelegt hatte, er sah beide, und er liebte beide.
„Ich
werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass du dich laufend
in solche Gefahren begibst.“
„Ja,...das
wirst du wohl! Aber ich denke, das wirst du schaffen.“
„Wir
können im Moment leider nicht mehr tun als abwarten, oder hast
du schon eine Idee, wie wir hier rauskommen?“
Er
hatte recht, solange sie in dieser Zelle eingesperrt waren, waren sie
Kubari ausgeliefert. Sie konnten nur warten. Obwohl ihr das gar nicht
gefiel, zur Zeit war es ihnen beiden unmöglich, etwas von
alleine zu unternehmen. Also mussten sie es hinnehmen, auch wenn
ihnen das nicht gefiel.
Sie
schüttelte den Kopf. „Er hat mich genauso überrascht
wie dich, er hat alles genau geplant.“
Nach
einer kleinen Weile fragte er: „Es ist Rache, nicht wahr?
Kubari will sich an euch rächen, weil ihr ihm das Bild eures
Vaters genommen habt?“
Sie
nickte. „Ja,...und er wird wahr machen, was er angedroht hat,
wenn wir dagegen nichts unternehmen können.“
„Aber,...Katzenauge
ist nicht vollständig. Wenn er sich an den Katzen rächen
will, wieso hat er dann gerade dich entführt? Wieso nicht deine
Schwestern auch?“
„Weil
er sich nicht damit begnügen will, mich zu töten, sondern
er will, dass du vorher weißt, wer ich bin,...ich meine, wer
Katzenauge ist. Das ist Teil seiner Rache.“ Sie zögerte
kurz, dann fuhr sie fort: „Und...außerdem war ich es
damals, die das Gemälde gestohlen hat. Er hat mich gesehen, hat
auf mich geschossen, aber ich bin ihm entkommen. Meine Schwestern hat
er so direkt gar nicht gesehen, deshalb konzentriert sich seine Rache
auch auf mich. Dich hat er entführt, weil er mich noch vor
meinem Tod treffen will.“
„Ihr
habt das Gemälde nicht gestohlen,...ihr habt es euch nur
wiedergeholt. Aber vermutlich sieht er das ganz anders.“,
meinte er leise und sah sie mit besorgter Miene an.
Wieder
nickte sie. „Ja,...er ist besessen von seiner Rache, alles
andere interessiert ihn nicht. Meine Schwestern können uns nicht
helfen, sie wissen vermutlich nicht einmal, was mit mir und dir
geschehen ist, geschweige denn wo wir sind.“ Ihre Stimme
brachte nicht gerade Zuversicht zum Ausdruck.
Ihre
Antwort brachte ihn auf eine andere Frage. „Wieso bist du
eigentlich an dem Abend Katze gewesen? Es hat doch überhaupt
keine Ankündigungen gegeben.“
Sie senkte ein wenig den Blick und antwortete nach
einigen Sekunden: „Die Sache ist nicht ganz einfach. Weißt
du,...es kommt ziemlich selten vor, dass wir drei uns streiten, aber
an diesem Abend schon. Wegen diesem Gemälde...!“ Sie
erzählte ihm von der Sache und von ihrer Freundin Reiko, am Ende
fügte sie noch hinzu: „Deshalb werden die beiden auch
nicht wissen, was passiert ist, weil sie ja diesmal gar nicht dabei
waren. Den Sender, über den sie mich hätten orten können,
habe ich auch nicht getragen. Das heißt, sie können uns
jetzt nicht helfen, wir müssen hier irgendwie selber
rauskommen.“
Nach
einer kleinen Weile des Schweigens meinte er: „Vor einem Jahr,
in den Bergen,...diese Sache mit dem Alleingang,...diejenige warst
du, nicht wahr?!“
Ein
Zucken um ihre Mundwinkel verriet ihm, dass er richtig lag.
„Ja,...damals hast du mich gerettet. Obwohl du mich hättest
verhaften müssen, hast du es nicht getan. Ich wollte dich das
schon seit damals fragen, warum hast du das getan?“
Es
dauerte einige Sekunden, bis er antwortete: „Ich weiß es
nicht so genau. Ich habe mich das auch schon oft gefragt,...und es
sind so viele Antworten. Vielleicht habe ich schon damals irgend
etwas geahnt, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich geahnt habe.
Möglicherweise habe ich geahnt, dass höhere Ziele auf dem
Spiel standen, und dass ich euch auf diesem Weg nicht aufhalten
durfte.“
Sanft
strich sie ihm über die Wange und meinte leise: „Ich hatte
keine Ahnung, dass du so denkst.“
Mit
einem leichten Lächeln erwiderte er: „Na ja,...ich konnte
es dir niemals sagen. Ich konnte es mir ja noch nicht einmal selbst
richtig sagen.“
„Wir
werden hier rauskommen! Ich weiß zwar noch nicht wie, irgendwie
werden wir es schaffen. Ich werde aber deine Hilfe brauchen,
Detective.“
„Ich
habe dich schon über Dächer, Bäume und Gott weiß
was sonst noch gejagt, da können wir beide das hier auch noch
schaffen.“
Es
war für Toshi so, als würde er sich noch einmal in diese
Frau verlieben, obwohl er das ja eigentlich schon vor sehr langer
Zeit getan hatte. Er kannte jetzt auch die Seite an ihr, die sie ihm
bis heute verborgen hatte, und er liebte diese Seite ganz genauso.
Er
legte wieder sanft einen Arm um ihre Schulter, und sie lehnte ihren
Kopf mit geschlossenen Augen dagegen. Eine ganze Weile saßen
sie beide nur so still da, es war fast so, als ob sie sich jetzt auch
ohne Worte verständen.
„Du
hast mir oft erzählt, was du über die Katzen denkst. Aber
alles hast du mir noch nicht erzählt, oder?!“ Er lächelte.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf dich selbst?“
Sie
lächelte auch und meinte: „Nein, bin ich nicht. Ich kenne
dich gut genug um zu wissen, dass ich das nicht zu sein brauche,
nicht mal auf mich selbst. Wenn du mir praktisch von mir selbst
erzählt hast, habe ich irgendwie gespürt, dass da noch
etwas anderes mit reingespielt hat, was aber nichts mit Liebe oder so
etwas zu tun hatte. Aber natürlich konnte ich dir das nie
sagen.“
Er
sah sie lange an. „Ich weiß auch nicht genau, was es war.
Vielleicht habe ich ja insgeheim gewußt oder zumindest geahnt,
dass du mit dieser Katze doch viel mehr zu tun hattest, als es den
Anschein hatte. Vielleicht wollte ich nur nicht, dass ich näher
darüber nachgedacht habe, weil...ich gefürchtet habe dich
dann zu verlieren. Ich bin zwar Polizist, aber ich habe die Katzen
trotzdem immer geachtet und auch respektiert. Nicht nur weil ihr so
gut wart, sondern weil...ich gespürt habe, dass die Menschen
hinter den Dieben etwas besonderes sein mussten. Na ja, und wie mir
scheint, habe ich recht gehabt.“
Sie
strich ihm leicht über die Stirn und meinte leise: „Weißt
du...vielleicht kann ich dich erst jetzt richtig verstehen, genauso
wie du mich. Aber eines ist mir vollständig klar: ich liebe
dich,...auch wenn du uns oft eine ganze Menge Schwierigkeiten gemacht
hast.“
Er
lächelte. „Ich wusste gar nicht, dass ich so eine
Bedrohung für euch gewesen bin.“
„Doch,
das warst du. Oft hat uns nur noch der Zufall geholfen!“
„Jetzt hat der Zufall euch aber nicht
geholfen,...aber vielleicht hat er es gerade dadurch getan, weil er
nichts dagegen getan hat. Denn jetzt kann ich euch endlich
verstehen.“
Es
kam ihnen beiden so vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen.
Sie fuhren beide hoch, als die schwere Stahltür geöffnet
wurde und zwei Männer in den Raum traten. Sie hatten ihre
Maschinenpistolen auf die beiden gerichtet, schienen aber im
besonderen auf Hitomi zu achten - vermutlich, weil sie nicht wieder
den Fehler begehen wollten, sie zu unterschätzen. Es waren nicht
dieselben Männer, die Hitomi zusammen mit Kubari überwältigt
hatte, aber sie hatten die Waffen, und denen mussten sie sich fügen.
Auch wenn es ihm absolut nicht gefiel wieder die Handschellen um die
Handgelenke gelegt zu bekommen - genau wie seiner Freundin auch. Sie
war gelassen und scheinbar vollständig ruhig. Aber er wusste,
dass sie ein Gefühl der Unruhe beschlich, und dass sie keine
Ahnung hatte, was sie jetzt mit ihnen vorhatten. Das machte ihr
genauso Angst wie ihm, und er sah das in ihren Augen. Doch wer sie
nicht so genau kannte, wie er, der bemerkte es nicht. Im Hinblick
darauf, was in den letzten Jahren vorgefallen war, war es schon fast
ein Witz zu sagen, er kenne sie gut. Aber was er während der
letzten Minuten und Stunden über sie gelernt hatte, machte
zumindest einen Teil dessen wieder wett.
Der
Gang war noch immer nur schwach erleuchtet. Toshi hörte die
harten Schritte der hinter ihm gehenden Wächter, und er sah den
Schatten der vor ihm gehenden Hitomi. Er hätte vorher jeden für
verrückt gehalten, der ihm vorher gesagt hätte, was in den
letzten Stunden passiert war und was da noch alles war. Was er alles
nicht gesehen hatte in den letzten drei Jahren, und was sich ihm
jetzt auf einen Schlag offenbart hatte. Wenn er es jetzt aus der Nähe
betrachtete, war alles so simpel und einfach, doch es war so
unmöglich, dass er niemals daran zu denken gewagt hatte.
Vielleicht
hatte Hitomi schon einen Plan, der sie beide hier raus bringen
konnte. Wenn sie einen hatte, konnte der sie dann beide hier lebend
herausbringen oder würde er sie bei dem Versuch umbringen? Sie
mussten abwarten.
Es
war derselbe Raum, in dem sie schon einmal gewesen war, sie waren
denselben Weg dorthin gegangen. Sie hatte die ganze Zeit über
versucht, sich alles möglichst genau einzuprägen, die
Räume, die wenigen Menschen, die dort herumliefen - eben einfach
alles.
Kubari
saß wieder hinter seinem Schreibtisch und blickte in den Park
hinaus. Als sie durch die Tür geführt wurden, sah er zu
ihnen herüber, und einen Moment lang sah Hitomi so etwas wie
pure Mordlust in seinen Augen aufblitzen. Dieser Mann meinte es ernst
- ja, verdammt ernst. Sie musste sich schleunigst etwas überlegen,
damit sie nicht wirklich noch von diesem Verrückten umgebracht
wurden. Er würde alles daransetzen um sein Vorhaben auch
auszuführen, und das mussten sie irgendwie verhindern. Sie hatte
im Augenblick noch keine rechte Ahnung wie, aber wenn es soweit war,
dann würde sich alles von allein ergeben, das wusste sie aus
Erfahrung. Bis jetzt hatte sie sich immer felsenfest auf diesen
Instinkt verlassen können, und sie konnte nur hoffen, dass es
auch dieses Mal funktionieren würde.
Sie
standen ihm jetzt beide gegenüber, einige Sekunden musterten sie
sich nur gegenseitig.
Er
lächelte mit einem unübersehbaren Genuß darin. „Nun
ja, es ist nicht alles ganz planmäßig verlaufen, aber so
gefällt mir das auch ganz gut. So haben Sie sich praktisch
selbst in den Untergang manövriert.“ Er fuhr zu ihnen
beiden gewandt fort: „Zu schade, dass ich nicht mitbekommen
konnte, wie die Sache zwischen der Diebin und dem Polizisten nun
abgelaufen ist, aber darum geht es mir ja auch eigentlich gar nicht.
Ich werde mein Ziel erreichen,...und Sie können es noch nicht
mal verhindern!“ Er lachte höhnisch und winkte den beiden
Wächtern zu, die wieder beide an der Tür stehengeblieben
waren.
Im
Bruchteil einer Sekunde wusste Hitomi, dass der Mann nicht lange
fackelte, er wollte sie jetzt umbringen. Es gab nur noch eine Chance
dieser Gefahr zu entgehen. Wenn sie die jetzt nicht nutzte, dann
würde es für sie beide zu spät sein.
Als
die Wächter sie schon fast erreicht hatten, wusste sie, was sie
tun musste, und sie zögerte nicht, das konnte sie sich nicht
mehr erlauben. Urplötzlich und für alle völlig
unvorbereitet katapultierte sie sich aus dem Stand hoch in die Luft,
drehte sich noch im Flug und schlug dem einen Mann seine Pistole mit
dem Fuß aus der Hand. Wenn die ihre Waffen nicht mehr hatten,
waren sie nicht mehr halb so gefährlich und sie konnte leicht
mit ihnen fertig werden.
Sie sah Toshi nur aus den Augenwinkeln. Man hatte
ihn gezwungen einige Meter von ihr entfernt stehen zu bleiben. Noch
ehe irgend jemand bemerkte was geschah, hatte sie dem Mann, der nun
ohne Waffe war, den einen Arm auf dem Rücken verdreht und zwang
ihn so in die Knie zu gehen. Er war viel zu überrascht um an
ernsthafte Gegenwehr zu denken, trotzdem musste sie ihm den Arm
brechen. Die Hebelwirkung tat ihr übriges, und eine Sekunde
später lag er bewußtlos auf dem Boden.
Dieser
Mann hatte sie jedoch zuviel Zeit gekostet. Sie wusste es in dem
Moment, als sie sich umdrehen wollte. Für Sekundenbruchteile
glaubte sie schon, gleich würden Pistolenkugeln ihrem Leben ein
Ende setzen.
Sie
fuhr herum, und der zweite Wächter hinter ihr legte schon auf
sie an. Doch zum Abfeuern kam er nicht, denn Toshi sprang ihm mit
einem Hechtsprung aus einigen Metern Entfernung in den Rücken
und riß ihn mit sich zu Boden. Vor Schreck ließ der
Angegriffene die Maschinenpistole fallen, sie schlitterte direkt vor
ihre Füße.
Sie
schaltete schnell und hob sie auf. Schon war ein wildes Ringen
zwischen dem Polizisten und dem Wächter im Gange. Doch Toshi
musste unterliegen, denn ihm waren die Hände genauso wie ihr
immer noch gefesselt. Sie dachte an Kubari, aber dann hatte sie keine
Zeit mehr zum Denken. Mit einem Sprung war sie bei den Kämpfenden.
Sie riß den Wächter vom Boden hoch und schlug ihm - mit
immer noch gefesselten Händen - den harten Eisengriff der
Pistole ins Genick. Sie wusste, welche Stelle sie zu treffen hatte,
und der Mann fiel ebenfalls bewußtlos um.
In
der nächsten Sekunde hatte sie die Schlüssel aus seiner
Jackentasche gezogen, und gleich darauf waren ihre Hände frei.
Sie dachte nun zum ersten Mal wieder an Kubari. Aus den Augenwinkeln
sah sie, wie er in eine Schublade seines Schreibtisches griff.
Sie
warf Toshi die Schlüssel zu, das Umdrehen und das Greifen nach
der Karte waren eine Bewegung. Sie hatten sie ihr zum Glück
gelassen. Sie wussten nicht, dass sie eine Meisterin geworden war im
Zielen, Werfen und Treffen mit dieser auf den ersten Blick so
unscheinbar und ungefährlich wirkenden Waffe.
Die
Karte traf mit messerscharfer Genauigkeit genau in dem Moment die
Pistole, als Kubari abfeuerte. Die Waffe wurde ihm aus der Hand
gerissen, und der Schuß ging fehl. Sie schlug weit entfernt auf
den Boden und wurde unerreichbar.
Schon
war sie bei ihm, doch sie konnte nicht verhindern, dass er nach einer
Fernsteuerung griff. Schon hatte er den einzigen Knopf auf der
Fernsteuerung gedrückt. Er zog sich vor ihr immer weiter zurück,
bis er an der Fensterbank stand. Er lachte und fragte mit einem
überlegenen Hohn in der Stimme: „Sie wissen doch noch, was
diese Fernsteuerung zu bedeuten hat, oder Katze?!“ Er lachte
das Lachen eines Wahnsinnigen, als er fortfuhr: „Ich kann Sie
vielleicht nicht töten, aber ich kann Sie mitnehmen!“
Sie
wusste, was er meinte. Es setzte eine ausgeklügelte
Selbstzerstörungsanlage in Gang, die das gesamte Anwesen in
Schutt und Asche legen würde. Jetzt wurden auf dem ganzen
Grundstück Bomben gezündet. Nach 20 Sekunden würden
einige der leichteren Sprengsätze folgen, dann in einem
bestimmten Turnus die nächsten, und es würde acht Minuten
dauern bis die größte der Bomben das gesamte Haus
zerfetzen würde.
Alles
würde in Brand geraten, das totale Chaos würde ausbrechen.
Diese Anlage war von einem Wahnsinnigen ausgedacht worden, und
genauso funktionierte sie auch - wahnsinnig, aber leider durchaus
nicht dumm.
Jetzt
waren die anderen Wächter im Haus ihre geringste Sorge. Sie
saßen alle im selben Boot. Sie packte Kubari am Kragen und
hielt ihm hart die Pistole unter das Kinn.
„Wie
macht man das wieder rückgängig?“ Obwohl sie sehr
genau wusste, was sie als Antwort bekommen würde, fragte sie. Er
lachte wieder sein wahnsinniges Lachen und meinte: „Sie müssten
doch noch wissen, dass man es nicht mehr abstellen kann, wenn es
einmal in Gang gebracht wurde. Sie werden zusammen mit mir zur Hölle
fahren!“
Ja,
sie wusste es. Plötzlich wurde das gesamte Gebäude von
einem ungeheuren Stoß erfaßt. Der Boden schien sich in
verschiedene Richtungen zu bewegen. Sie befanden sich gegenwärtig
im Erdgeschoß, und sie waren in enorm großer Gefahr, dass
Sachen aus den oberen Stockwerken auf sie herabstürzen würden.
Sie mussten so schnell wie nur irgend möglich hier raus.
Die
Wände bekamen Risse, sie hörten Stahl kreischen. Es begann
schon. Das Chaos bahnte sich seinen Weg, und nichts würde es
aufhalten können.
Sie
und Kubari, der sich immer noch wie ein Irrer gebärdete und für
alles um ihn herum keinen Sinn mehr zu haben schien, standen dicht am
Fenster. Es ging alles so schnell. Sie wandte sich vom Fenster ab,
sie hatte keine Zeit mehr sich um Kubari zu kümmern.
Sie
kam nur einen Meter weit, denn in dem Moment barsten die Fenster der
gesamten großen Fensterfront mit einem einzigen mörderischen
Klirren. Schon flogen Glassplitter quer durch den ganzen Raum, sie
waren einfach überall.
Instinktiv
ging sie in die Knie und hielt die Arme schützend vor Kopf und
Gesicht. Es war ein Geräusch, als versuchten sämtliche
Rowdies der Stadt das Haus in einen Trümmerhaufen zu verwandeln.
Sie hörte ständig weitere Explosionen, Schreie und
Geräusche der Zerstörung im gesamten Anwesen. Ein Blick
nach draußen sagte ihr, dass bereits die Nebengebäude in
hellen Flammen standen, von Bomben förmlich zerrissen. Es würde
nicht mehr lange dauern, und dann würde hier nichts mehr zu
retten sein.
Sie
richtete sich wieder auf. Auch Kubari war in die Knie gegangen und
hatte sich so vor den heimtückischen gläsernen Geschossen
in Sicherheit gebracht. Zum ersten Mal konnte sie sich jetzt wieder
nach Toshi umsehen. Es waren nur ungefähr eine Minute vergangen,
seit sie aus den Handschellen frei war, aber es war ihr wie eine
halbe Ewigkeit vorgekommen. Er stand inzwischen hinter ihr. Er hatte
sich die andere Pistole genommen, aber die würden sie jetzt wohl
kaum noch brauchen. Im ganzen Haupthaus war inzwischen eine
regelrechte Panik ausgebrochen, jeder versuchte den Flammen zu
entkommen, die immer wilder um sich griffen. Die schwere Tür
dämpfte es zwar ein wenig, aber sie konnte den Rauch schon
riechen, der sich im Haus verbreitete. Sehr viel Zeit blieb ihnen
nicht mehr.
Kubari
lachte immer noch. Er schien vollständig den Verstand verloren
zu haben. Nur einen Augenblick achtete sie auf ihn.
Sie
hörte wohl, dass etwas großes und schweres sich von der
Decke löste und von oben auf sie zuraste. Aber es ging alles so
schnell, ihr blieb nicht einmal Zeit nachzudenken, geschweige denn,
sich zu bewegen. Das einzige, was sie hörte, war ein Schrei,
direkt hinter ihr. Sie hörte nichts als diesen Schrei, den sie
nicht verstehen konnte, doch sie kam nicht mehr zum Nachdenken. Schon
wurde sie hart von hinten an den Armen gepackt und in einem großen
Bogen zu Boden geworfen.
Sie
landete in einem Meer von Scherben, und einige schnitten sich ihr in
die Haut, aber darauf konnte sie jetzt nicht achten. Jemand lag dicht
neben ihr auf dem Boden und hatte seine Arme immer noch schützend
um sie gelegt. Erst jetzt kam sie wieder zum Denken und richtete sich
langsam auf. Sie sah zu Kubari hin, aber da war jetzt nichts mehr
außer einem großen Stahlträger.
Kubari
lag da, stumm und tot. Man musste kein Arzt sein um zu erkennen, dass
der Träger ihm das Genick nicht nur gebrochen, sondern
regelrecht zertrümmert hatte. Einen kurzen Moment stand sie nur
da und sah auf den Mann, dessen Kopf in unnatürlichstem Winkel
zu dem Rest seines Körpers stand. So wäre es ihr auch
ergangen, wenn Toshi sie nicht gerade noch gerettet hätte.
Sie
drehte sich zu Toshi um. Er stand auch da und sah auf den Toten. Ihr
wurde bewußt, dass sie überhaupt nur noch eine einzige
Chance hatten. Sie ließ die Pistole fallen, die brauchte sie
jetzt nicht mehr. „Hitomi, was ist hier eigentlich los?!“
Er konnte ja gar nichts von der Vorrichtung wissen.
„Eine
Selbstzerstörungsanlage, und die wird uns in spätestens
fünf Minuten umbringen, wenn wir hier nicht rauskommen!“
Das
Erschrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was?!“
Sie
trat auf ihn zu, griff seinen Arm und zog ihn schon mit sich, während
sie über die lauten Explosionen hinwegrief: „Wir haben
keine Zeit mehr! Ich kenne vielleicht noch einen Weg, uns hier
rauszubringen!“
Er
schien immer noch wie erstarrt, dann schien er ihre Worte begriffen
zu haben. Auch er ließ die Pistole fallen. Um sie herum war ein
Bild der Zerstörung und Verwüstung. Der Boden war übersät
von Scherben, die Wände hatten tiefe Risse erhalten, die
schweren Bücherregale waren umgestürzt, einige schwere
Stahlträger waren von der Decke gestürzt, so dass sie froh
sein konnten mit dem Leben davongekommen zu sein. Die schwere Tür
war teilweise aus den Angeln gehoben worden, so dass sie jetzt nur
noch lose zwischen den Türrahmen hing. Überall schien schon
Feuer ausgebrochen zu sein, aber im Haupthaus, das als letztes von
der riesigen Explosion erfaßt und vernichtet werden würde,
war es noch nicht so schlimm.
Sie
zögerte einen kurzen Moment, drehte sich zu ihm um, zog ihn zu
sich heran und küßte ihn. Es war ein leidenschaftlicher
Kuß, und für Sekundenbruchteile vergaßen sie die
Umwelt. „Danke,...ohne dich hätte ich es nicht
geschafft!“, meinte sie leise.
Diesmal
war er es, der ihren Arm griff. „Aber das wird uns nichts mehr
nützen, wenn wir hier drin umkommen. Du bist die einzige, die
den Weg kennt.“
Überall
Feuer, Flammen, die dauernden Erschütterungen, einstürzende
Sachen, die ihnen in den Weg fielen, die Schreie von Menschen, das
Kreischen von Metall, das barst. Immer wieder fürchterliche
Explosionen. Der dichte Rauch nahm ihnen einen großen Teil der
Sicht, sie konnten nur noch schwer atmen. Toshi blieb die ganze Zeit
dicht hinter ihr, sie hielt ihn immer noch am Arm fest.
Sie
kämpfte gegen die Panik an, die dieses Gefühl bei ihr
auszulösen begann. Sie versuchte sich zu erinnern, wohin sie
laufen mussten um zu dem geheimen Tunneleingang zu kommen. Schon vor
anderthalb Jahren, als sie als Katzen hier gewesen waren, hatten sie
sich diesen von Kubari extra angelegten Geheimtunnel zu Nutze
gemacht. Er war als letzte Rettung gedacht gewesen, ihnen hatte er
damals den Einstieg ermöglicht. Hoffentlich würde er hier
und jetzt auch ihre letzte Rettung sein.
Wieder
lief sie instinktiv in die richtige Richtung, quer durch die
Zerstörung hindurch, obwohl sie praktisch nichts sehen konnte.
Sie konnte nur hoffen, dass der Gang, wenn er überhaupt noch
existierte, nicht von den Erschütterungen zerstört worden
war.
Endlich,
nach einer Ewigkeit - wie es ihr schien - waren sie bei dem Eingang
angekommen. Sie hatten Glück gehabt, denn eine Explosion hatte
den Eingang freigelegt, der normalerweise durch eine Bücherwand
verschlossen wurde. So konnten sie direkt und ungehindert durch den
steinernen Torbogen in den Tunnel hinein laufen. Es ging einige
Steintreppen hinunter, sie kamen damit unter die Erde. Die Stufen
hatten einige Risse bekommen, aber sonst schien mit ihnen, den Wänden
und den Stützpfeilern alles in Ordnung zu sein.
Nach
ungefähr vierhundert Metern würde der Tunnelausgang in
Sicht kommen, der in einem dichten Gebüsch inmitten des Waldes
lag. Der Wald gehörte nicht mehr direkt zum Anwesen, war aber
immer noch im Besitz von Kubari. Jetzt mussten sie nur noch
unbeschadet durch den Tunnel kommen, dann waren sie in Sicherheit.
Hitomi spürte die Hitze, die das Feuer selbst bis hier unten hin
verbreitete, doch sie dachte jetzt nur noch daran, dass sie schnell
sein mussten. Denn die ganz große Explosion, die unmittelbar
bevorstand, würde vermutlich auch große Teile des Tunnels,
die dem Anwesen am nächsten lagen, zum Einstürzen bringen.
Immer
noch fiel ihr das Atmen schwer, der Rauch hatte ihre Kehle
ausgetrocknet. Doch sie lief weiter, und Toshi folgte ihr. Sie liefen
immer weiter den Tunnel entlang und gelangten so immer weiter von dem
brennenden Haus weg.
Hitomi
lief voran, dem Ende entgegen. Sie wurden langsamer und näherten
sich dann vorsichtig dem Ausgang des Tunnels, der versteckt in einem
Gebüsch lag. Von außen war dieser Ausgang nicht zu sehen,
aber von innen sehr geräumig und begehbar.
Draußen
regnete es, und zwar in Strömen. Hitomi hoffte, dass sie in dem
Regen überhaupt noch etwas sehen konnten. Es war immerhin mitten
in der Nacht, und sie war lange nicht mehr hier gewesen.
Sie wollten gerade die letzten schützenden
Zweige auseinanderbiegen um ins Freie zu gelangen, als Hitomi
plötzlich abrupt stoppte und ihm mit einer Hand bedeutete sich
tiefer im Gebüsch zu verbergen und leise zu sein. Er konnte die
Verwandlung in ihr förmlich sehen. Sie spannte die Muskeln an
und lauschte angestrengt in eine Richtung. Sie musste etwas gehört
haben, aber durch das Rauschen des Regens war er sich nicht so
sicher. Sie bedeutete ihm hier zu bleiben und schlich auch schon
vorwärts, aus dem Gebüsch heraus. Bevor er nur reagieren
konnte, war sie auch schon verschwunden.
Er
brauchte auch nicht lange auf seine Freundin zu warten, dann kam sie
schon wieder. Sie hatte jetzt jedoch normale Sachen an und nicht mehr
ihren Anzug.
Die
Frau, die jetzt in Jeans und Lederjacke vor ihm stand, kam seiner
Frage zuvor. „Zum Glück hatte der Typ ungefähr meine
Größe. Komm, wir müssen hier weg!“
„Du
bist einfach unglaublich.“
Als
sie diese kurze Verblüffung sah, die in seinen Zügen zu
sehen war, lächelte sie. „Na los, wir sind immer noch in
Gefahr!“
Im
Laufen fragte er: „Welchen Grad in Karate hast du eigentlich?“
„3.
Dan.“
„Ungefähr
so hatte ich mir das vorgestellt.“
Er
folgte ihr durch den Regen hindurch. Es regnete jetzt nicht mehr so
stark wie gerade eben, und er konnte in ein paar Metern Entfernung
eine dunkle Gestalt auf dem Boden liegen sehen. Er hatte sicher nicht
den Hauch einer Chance gehabt, als er - wahrscheinlich mit einem
Schlag in den Nacken - niedergeschlagen worden war. Ja, das war die
Katze, wie er sie kannte.
Sie
hielten erst wieder an, als sie das brennenden Landhaus schon weit
hinter sich gelassen hatten. Sie hatten beide die gewaltige Explosion
gehört, die wie ein gewaltiges Donnergrollen angefangen und sich
zu einem ohrenbetäubenden Schrei entwickelt hatte.
Hitomi
kannte die Gegend hier zumindest noch ein wenig, und auch wegen ihres
guten Orientierungssinns hatte sie Toshi in die richtige Richtung
geführt. Angesichts des Landgutes, von dem immer noch
Explosionen zu hören waren, und von dem eine riesige Rauchwolke
emporstieg, war jede Richtung, die von der Gefahr wegführte, die
richtige gewesen. Es regnete in Strömen. Es würde zwar
nicht reichen um das Feuer auf dem Landgut zu löschen, aber
zumindest war es ein Anfang. Dieser Gedanke kam ihr mitten im Laufen
in den Sinn, und ein leichtes Lächeln über sich selbst
legte sich über ihr von Anstrengung gezeichnetes Gesicht. Der
Waldboden war aufgeweicht und rutschig geworden, aber trotzdem hatten
sie ihren Schritt nicht einmal verlangsamt.
Jetzt
waren sie auf einer kleinen Lichtung, die von hohen Bäumen und
niedrigem Gesträuch umgeben war. Beide waren schweißüberströmt,
naß bis auf die Haut, Hitomi war von Splittern getroffen
worden. An ihren Händen und Armen hatte sie einige blutige
Schrammen, und Blut lief ihr auch aus einer Wunde an der Stirn.
Toshi’s Klamotten hingen an ziemlich vielen Stellen in Fetzen,
und auch er war von Splittern getroffen worden.
Aber
sie waren relativ unversehrt aus der Sache raus gekommen, die ihnen
beiden den Tod hätte bringen können, und das war erstmal
das wichtigste.
Um
sie herum war es dunkel, nur der Mond sah ein paar Mal durch die
Regenwolken auf die Menschen herab. Es regnete immer noch, aber unter
dem Blattwerk des Baumes waren sie relativ geschützt. Obwohl
ihnen das auch nicht mehr viel nützte, denn sie beide waren von
dem heftigen Regen sowieso durchnäßt.
Strähnen
ihres schwarzen Haares hingen ihr in die Stirn, und ein wenig Blut
floß ihr immer noch an der Schläfe herunter. Sie wirkte
müde und erschöpft, aber auch glücklich der Gefahr
entkommen zu sein. Aber da lag noch etwas anderes - ein seltsames
Leuchten - in ihren Augen, das er zunächst nicht deuten konnte.
Nachdem
sie einigermaßen wieder zu Atem gekommen waren, meinte Hitomi:
„Ich schätze, hier sind wir vorerst sicher.“
Er
nickte und fragte lächelnd, während er ihr sanft eine nasse
Haarsträhne aus der Stirn strich: „Haben wir es geschafft,
Katze?“
Sie
lächelte jetzt auch. „Ja, ich glaube, das haben wir.“
Er
sah mit besorgter Miene auf das Blut, das ihr immer noch an der Stirn
herunterfloß. „Die haben dich ganz schön erwischt.“
Sie
lächelte leicht. „Du hast mir heute schon zwei Mal das
Leben gerettet. Ohne dich hätte Kubari mich doch noch gekriegt.“
„Verdammt,
Hitomi, ich hätte dich fast verloren. Wenn ich nicht da gewesen
wäre, dann hätte der Pfeiler dich auch getroffen.“ Er
strich ihr über die Wange und fügte leise hinzu: „Bitte,
laß es nicht wieder so knapp werden. Ich will dich nicht
wirklich einmal verlieren.“
Darauf
beugte sie sich zu ihm hinüber. „He, du wirst mich nicht
verlieren. Bis jetzt hat mich noch niemand wirklich gekriegt - außer
dir - und das wird auch so bleiben.“
„Das
ist gut.“, meinte er nur leise. „Weißt du
eigentlich, wie wahnsinnig schön du jetzt aussiehst?!“
Sie
lachte leise und meinte als Antwort: „Ich hoffe, du verlangst
nicht von mir, das hier jeden Tag zu machen.“
„Nein,
du wirst dich noch oft genug in Gefahren begeben, an die ich lieber
gar nicht erst denke.“
Sie
spürte seine warmen und nassen Hände auf ihrer Haut. Seine
Hände waren dabei sie und ihren Körper völlig außer
Kontrolle geraten zu lassen. Sie wusste irgendwie nicht, was mit ihr
los war, aber sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie spürte
deutlich das Verlangen in sich, und sie versuchte erst gar nicht,
sich in irgendeiner Weise dagegen aufzulehnen. Sie wusste, das wäre
ihr sowieso nicht gelungen.
Sie
küßte ihn noch wilder, als sie das jemals zuvor getan
hatte. „Sollten wir nicht langsam darüber nachdenken, wie
wir nach Hause zurückkommen?“, fragte er leise lächelnd,
während er immer noch sanft über ihre Wange strich.
„Ja,...ich glaube, das sollten wir.“
„Aber
das können wir auch gleich noch tun...!“, fügte sie
flüsternd hinzu, als sie ihn zu sich hinzog und ihn wieder
leidenschaftlich küßte. Sie wollte nicht aufhören
damit, und sie spürte, dass er das auch nicht wollte.
Es
regnete immer noch, aber das bemerkten sie überhaupt nicht. Es
war so, als ob erst jetzt beiden wirklich bewußt wurde, dass
sie der Gefahr entkommen waren. Es gab in diesem Moment kein Problem
auf der Welt, das nicht irgendwie zu lösen war.
Er
schien zu ahnen, was sie dachte, denn er meinte flüsternd: „Das
sollten wir nicht tun. Zumindest nicht hier und jetzt.“
„Warum
musst du nur immer so schrecklich vernünftig sein?“,
erwiderte sie mit einem leichten Lächeln. Auf seinen gespielt
entrüsteten Blick fügte sie dann mit einem Seufzen hinzu:
„Ja, ich weiß. Du hast ja recht.“
Sie
stand auf und sagte, nachdem sie einige Sekunden ringsherum in die
Dunkelheit gespäht hatte: „Ich glaube, ich kenne die
Gegend noch von damals. Wenn ich mich nicht irre, müsste nicht
weit von hier eine Bahnstrecke nach Tokio vorbeiführen.“
Der
Himmel wurde zwar erhellt von dem Feuer und den immer noch
andauernden Explosionen, aber durch die dicken Regenwolken war nur
sehr wenig von den Sternen und dem Mond zu sehen, doch Toshi sah in
dieser Dunkelheit im Wald überhaupt nicht sehr viel, geschweige
denn, er hätte sich orientieren können, auch wenn er vor
anderthalb Jahren schon mal hier gewesen war. Aber Hitomi schien ganz
genau zu wissen wo sie waren, und in welche Richtung sie gehen
mussten um nach Hause zu kommen. Sie hatte ihn auch die ganze Zeit
auf der Flucht geführt, und sie hatte nicht ein einziges Mal
angehalten um sich zu orientieren. Immerhin war es auch für sie
anderthalb Jahre her, seit sie das hier das letzte Mal gesehen hatte.
Toshi bewunderte sie. Sie hatte einen verteufelt guten
Orientierungssinn, und sie konnte selbst in dieser Dunkelheit mit
ihren Augen noch genug sehen um sich zurecht zu finden. Bei Gott, sie
war so viel mehr als nur eine verdammt gute Diebin.
Jetzt
hielt sie ihm eine Hand hin und er ließ sich lächelnd von
ihr hochziehen.
„Weißt
du, wie weit wir von Zuhause weg sind?“
„Ungefähr
50 Meilen müssten es sein.“ Dann fügte sie hinzu,
während sie sich in eine Richtung noch weiter von dem brennenden
Haus weg wandte: „Komm, es wird hier gleich sicher von Leuten
wimmeln, und dann sollten wir eigentlich schon weg sein.“ Der
Regen hatte ein wenig nachgelassen.
Er
folgte ihr weiter durch den Wald, der immer lichter wurde, je weiter
sie kamen. Sie hörten schon die Martinshörner der Feuerwehr
und Krankenwagen, Hitomi hatte recht gehabt, sie sollten wirklich am
Besten von hier verschwinden. Toshi sah jetzt zwar mehr als gerade
eben, dennoch hätte er sich hier nicht einen Meter weit
zurechtzufinden gewußt. Aber Hitomi war sicher und brachte sie
beide aus dem Wald heraus. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, dann
traten sie aus dem letzten Gebüsch, das das Waldstück
einfriedete. Jetzt war es auch heller, obwohl hier draußen
keine Straßenlampen schienen.
In
ungefähr hundert Meter Entfernung führten wirklich
Eisenbahngleise vorbei, und auch eine Brücke war dort zu sehen.
Die Straße führte über die Brücke und unter ihr
hindurch führten die Gleise.
Noch
fuhren hier keine Rettungswagen und andere Wagen durch, aber die
würden bald hier sein, und dann waren sie beide hoffentlich
schon nicht mehr hier.
Sie
hatten es gut abgepaßt, denn in dem Moment hörten sie
beide die Geräusche eines langsam fahrenden Zuges. Hitomi kannte
die Brücke noch. Die hatte damals eine wichtige Rolle in ihrem
Plan gespielt, und so wusste sie, dass die Züge hier immer
langsam fuhren, weil verschiedene Weichen gestellt werden mussten,
die man nicht elektronisch steuern konnte. Das wollte man schon seit
langem ändern, aber irgendwie wurde es nie gemacht. Aber das war
ein Glück für sie beide.
Denn
wenn der Zug mit voller Geschwindigkeit unter der Brücke
durchgefahren wäre, hätten sie nicht so einfach das tun
können, was Hitomi im Sinn hatte. Auch damals hatten sie es
getan, und es hatte hervorragend funktioniert.
Sie
standen am Brückengeländer, und Hitomi fragte, während
sie halb ihn, halb den nahenden Zug ansah: „Kannst du springen,
Toshi?!“
Sie
stieg über das Geländer und stand jetzt nur noch auf einem
schmalen Betonrand, und er folgte ihr. Es war nicht ungefährlich,
alles kam darauf an, im richtigen Moment abzuspringen. Kamen sie dann
auf dem Dach des Zuges nur irgendwie falsch auf, würden sie
herabgeschleudert werden, obwohl der Zug jetzt sehr langsam fuhr und
seine Geschwindigkeit noch weiter verringerte.
Hitomi
erinnerte sich wie Nami und sie damals hier gestanden hatten und die
letzten Sekunden vor dem Sprung abgewartet hatten. Sie erinnerte sich
noch genau, wann der richtige Moment sein würde.
Schließlich
war dieser Moment erreicht, sie gab Toshi ein Zeichen und beide
sprangen gleichzeitig von der Brücke weg.
Beide
landeten einige Hundertstelsekunden später auf dem Dach eines
Waggons. Keiner von beiden war in Gefahr, sie waren gut gelandet. Es
dauerte auch nicht lange, da schwang sich Hitomi als erste unbemerkt
von dem Dach des Waggons auf ein Verbindungsstück zwischen dem
einen Waggon und dem nächsten hinunter. Es war für sie
ziemlich einfach, sie war so etwas gewohnt.
Jetzt
war Hitomi dran Toshi zu bewundern. Er bewegte sich auf dem Zug mit
einer behenden Leichtigkeit und Sicherheit, die sie in dieser Art und
Weise von ihm gar nicht kannte. Er war schnell, und er war auch
ziemlich wendig und behende, das war er mit Sicherheit, immerhin war
die Jagd nach den Katzen nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Die Jagd hatte ihn sozusagen geschult und ihn immer besser und
sicherer gemacht.
Sie
dachte im Moment nicht daran, dass sie beide wohl ziemlich sehr
seltsam aussehen mussten. Zerrissen, blutig, naß, erschöpft.
Aber das war ihr jetzt total egal, sie wollte nur weg von hier, weg
von der Gefahr, in die Ruhe, Stille, Sicherheit. Nicht mehr jede
Sekunde auf alles gefaßt sein müssen.
In
dem Zug waren um diese Uhrzeit nur wenige Menschen, obwohl sie in der
Nähe der Hauptstadt waren. Das würde sich zwar bald ändern,
aber das war jetzt auch Nebensache. Hauptsache, sie beide waren in
Sicherheit. Im gesamten Waggon war außer ihnen nur eine
Handvoll Menschen, die sich über die Sitze verteilten.
Sie
setzten sich dicht nebeneinander, er legte einen Arm um ihre
Schulter, und sie lehnte sich gegen seinen Arm. Der Zug begann jetzt
wieder schneller zu fahren und hatte schon bald seine normale
Geschwindigkeit wieder aufgenommen. Niemand schien die doch recht
seltsam aussehenden Menschen zu beachten.
Nach
einer kurzen Weile meinte Hitomi leise: „Jetzt sind wir erst
richtig in Sicherheit. Jetzt kommt es nur noch darauf an, dass wir
heil nach Hause zurückkommen.“
Er
nickte, und nach einer kleinen Weile meinte sie: „Meine
Schwestern, Herr Nagaishi und Chang werden sich ziemlich erschrecken,
wenn sie dich sehen. Das wird noch ein Chaos werden.“
„Aber
auch das Chaos werden wir irgendwie lösen können. Es wird
einen Weg geben.“
„Ja,
das wird es sicher. Aber,...was wird übermorgen sein, oder
nächste Woche, oder nächsten Monat?...Katzenauge muß
weiter existieren, wir müssen weitermachen, verstehst du?!...Das
bin ich meinem Vater schuldig, und meinen Schwestern auch, vermutlich
sogar mir selbst. Wirst du so einfach weiter hinter uns herjagen
können, jetzt, wo du weißt, wem du hinterherjagst?“
Er strich ihr mit einer Hand über das Haar, sie sah ihn jetzt
mit nachdenklich gewordenen Augen an, die so viel mehr waren als die
Augen einer gewöhnlichen jungen Frau. Genauso wie die Frau neben
ihm alles andere war als eine gewöhnliche junge Frau.
„Mach
dir darüber jetzt keine Sorgen, das werden wir
hinkriegen,...vertrau mir, Katzenauge. Wenn ich eins von euch gelernt
habe, dann, dass ihr nicht aufgebt, und ich auch nicht.“ Er
küßte sie sanft auf die Stirn, und sie nickte leicht mit
dem Kopf, erwiderte aber nichts. Sie schloß die Augen und
lehnte ihren Kopf wieder gegen seine Schulter. Die letzten Stunden
und Tage hatten auch ihr eine ganze Menge abverlangt, und sie war
übermüdet. Das war ja auch nur normal, kein Mensch, nicht
mal eine Katze, konnte ohne Folgen so lange unter Hochspannung
stehen. Er wusste, dass es ihm auch so ging, aber er verschob es auf
später.
Seine
Augen ruhten immer noch auf dieser auf den ersten Blick so normalen
jungen Frau, die aber bei näherem Betrachten sehr viel komplexer
und ungewöhnlicher war, als es jemals jemand hätte vermuten
können, der sie nicht sehr gut kannte. Selbst jetzt hatte er
noch das Gefühl, dass er noch nicht alles über sie wusste,
es gab noch Teile an ihr, die kannte er noch nicht.
Er
wusste aber, dass sie ihm diese Teile zeigen würde, wenn sie
bereit dazu war. Die Zeit dafür würde kommen, und er
drängte sie nicht.
Sie
hatte in den letzten Jahren viele Kämpfe ausgefochten, sowohl
körperliche als auch innerliche. Die körperlichen hatte sie
fast alle gewonnen, das wusste er ganz genau. Was die innerlichen
anbetraf, wusste er es nicht so genau. Was musste sie gedacht, und
wie musste sie sich gefühlt haben, wenn sie ihn anlog, und das
nicht nur einmal, sondern immer, wenn es um die Katzen ging?
Er
erinnerte sich daran, wie sie ihn vorhin im Wald angesehen hatte. Es
hatte ein ganz eigenartiger Ausdruck in ihren Augen gelegen, aber er
konnte es nicht genau mit Worten beschreiben. Es war so etwas wie
eine Mischung aus Erschöpfung, Liebe und Erleichterung gewesen.
Und auch sonst...! Niemals zuvor hatte sie ihn so geküßt,
wie sie das jetzt getan hatte. Es schien fast so, als sei die ganze
Last der Lügen mit einemmal von ihr abgefallen, und er sah zum
ersten Mal wirklich, wer sie war und was sie ausmachte.
Es
machte Sinn, dass sie ihm niemals etwas von ihren hohen Karategraden
erzählt hatte. Dann wären er oder seine Kollegen vermutlich
schon früher mißtrauisch geworden, denn das wäre
womöglich eine Übereinstimmung zuviel gewesen. Sie war
schon die ganze Zeit die Ausführende der Katzen gewesen,
diejenige, die sehr viele der körperlichen Gefahren auf sich
nahm. Im Nachhinein liefen ihm noch Schauer über den Rücken,
wenn er daran dachte, in welcher Gefahr sie praktisch die ganze Zeit
seit sie sich kannten und schon davor geschwebt hatte. Er wollte
lieber gar nicht wissen, wie viele Male sie jetzt schon nahe am
Abgrund des Todes gestanden hatte.
Er
dachte noch einmal an dieses Erlebnis auf dem Schiff „Santa
Maria“. Damals wäre es fast soweit gekommen, wie es jetzt
gekommen war. Er hätte beinah schon das erfahren, was er jetzt
erfahren hatte.
Es
hatte sich ein Gemälde auf dem Luxusliner „Santa Maria“
befunden, das die Katzen hatten stehlen wollen. Sie hatten das wie
fast immer vorher beim Revier angekündigt, und dann hatte man
ihn auf das Schiff geschleust, das gerade in der Tokiobucht vor Anker
gelegen hatte.
Beinahe
wäre der Plan aufgegangen. Nur der Besitzer des Schiffes hatte
die Katzen töten wollen, und weil er selbst alles mitgekriegt
hatte, hatte auch er mit beseitigt werden müssen. Man hatte sie
beide zusammen in einen absolut düsteren Raum gesperrt. Die
Chance war damals größer gewesen, als je zuvor endlich das
wahre Gesicht dieser Katze zu sehen. Er hatte sie neben sich gespürt,
obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie war angeschlagen gewesen, man
hatte ihr ziemlich übel mitgespielt, und sie hatte sich kaum
noch auf den Beinen halten können.
Er
musste sich eingestehen, dass er sie damals fast wirklich geküßt
hätte. Ein ganz kleiner Teil von ihm hatte gewußt - oder
zumindest geahnt - dass diese Katze ihn so gut kannte, wie eigentlich
nur Hitomi ihn kennen konnte.
Obwohl
sie ihn wirklich fast dazu angestiftet hatte, sie zu küssen,
hatte er sich in den Tagen und Wochen danach absolut mies gefühlt,
allein nur deshalb, weil er daran gedacht hatte es zu tun. Hitomi
hatte er natürlich niemals etwas von den Sache erzählt,
aber jetzt wusste er, dass sie es selbstverständlich gewußt
hatte. Schließlich war ja sie selbst diese Person gewesen, die
neben ihm in diesem dunklen Raum gesessen hatte.
Vielleicht
war es ihr in dieser Zelle egal gewesen, vielleicht war es ihr alles
egal gewesen. Vielleicht hatte sie ihre Gefühle für ihn
nicht mehr weiter zurückhalten wollen, auch - oder gerade - als
Katze nicht.
Jetzt
sah er auf diese Katze, die immer noch mit geschlossenen Augen an
seiner Schulter lehnte, deren Wärme er spürte und sich
gleich viel besser fühlte.
Er
dachte auch an ein Gespräch, das er vor knapp einem halben Jahr
einmal mit seiner Kollegin Assayah gehabt hatte. Sie hatte schon
immer den Verdacht gehegt, dass die drei Schwestern - insbesondere
Hitomi - viel mehr waren, als sie zu sein schienen. Sie hatte sie
verdächtigt, die Katzen zu sein. Damals hatte er
selbstverständlich nichts von ihren Verdächtigungen hören
wollen, auch wenn sie ihm hin und wieder insgeheim doch zu denken
gegeben hatten.
Sie
hatte an dem Tag gesagt: „Ich bin mir so gut wie sicher,
dass sie mit den Katzen etwas zu tun haben. Und zwar mehr, als dass
Hitomi nur mit Ihnen befreundet ist, Detective! Sie müssen der
Wahrheit ins Auge sehen. Sie sind nicht das, für das man sie
halten soll.“
Er
hatte darauf ziemlich wütend reagiert und gesagt: „Hören
Sie auf mit dem Unsinn! Das macht doch überhaupt keinen Sinn!
Selbst wenn sie die Katzen wären, was sollten sie dann mit den
Gemälden wollen?!...Außerdem würde mich Hitomi nicht
belügen! Die ganze Sache ist völliger Blödsinn!“
Sie
hatte nichts entgegnet, aber ihr Blick hatte gesagt: „Sind
Sie sich da so sicher?!“
Dieser
Blick hatte ihn noch wütender gemacht, weil seine Kollegin an
der Loyalität seiner Freundin zweifelte. Wenn er ganz ehrlich
war, hatte er auch Angst davor gehabt, dass sie vielleicht doch recht
haben könnte - so unwahrscheinlich und unmöglich das auch
sein mochte.
Inzwischen
wusste er, dass Assayah recht gehabt hatte, denn Hitomi hatte ihn ja
wirklich in ziemlich vielen Dingen angelogen. Doch das Motiv war ein
anderes gewesen, als das, was Assayah dahinter vermutet hatte. Hitomi
war gezwungen gewesen, das zu tun, und sie hatte es niemals gerne
getan.
Sie
hatte ihn niemals anlügen wollen, das wusste er jetzt. Er spürte
auch, wie glücklich sie darüber war, dass dieser Zwang
jetzt nicht mehr bestand - zumindest nicht mehr zwischen ihnen
beiden. Er verstand, wie schwer es für sie gewesen sein musste,
ihm alle diese Dinge zu verschweigen, ohne Aussicht darauf, dass es
in absehbarer Zeit anders werden würde.
Es
war nicht leicht, jetzt von einem auf den anderen Moment zu merken,
was da noch alles gewesen war - und natürlich immer noch war. Es
war so eine Fülle von Informationen - eigentlich unglaublichen
Informationen - die noch dadurch unterstrichen wurde, dass ein
Wahnsinniger gerade versucht hatte sie umzubringen. Das musste er
erst innerlich verarbeiten. Er wusste, dass Hitomi ihn verstand und
ihm die Zeit ließ. Die Zeit, sie kennenzulernen - so, wie sie
wirklich war.
Diese
ganzen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und er merkte, dass er sie
immer noch voller Liebe ansah. Sie hatte ihm nicht alles so direkt
gesagt, was er jetzt dachte, aber er hatte es an allem gespürt.
Was sie gesagt hatte, wie sie etwas gesagt hatte, wie sie ihn
angesehen hatte und noch einiges mehr. Hitomi hatte recht gehabt,
ihre Schwestern würden sicherlich einen mächtigen Schreck
bekommen, wenn sie sahen, was geschehen war. Aber eigentlich freute
er sich darauf. Darauf, dass sie wussten, dass er verstand, und dass
er sie verstand.
Hitomi
war zwar müde, aber sie schlief nicht. Dafür war sie noch
zu aufgeregt von den Ereignissen, die vor weniger als einer Stunde
geschehen waren. Aber trotzdem hatte sie schon das Gefühl, als
läge das Ganze Tage hinter ihnen. Ihre Gedanken bewegten sich
rückwärts, ließen noch einmal alles, was jetzt
passiert war, vor ihrem inneren Auge vorbeistreichen.
Sie
hatte Toshi in der Zelle alles erzählt, was sie selber über
ihren Vater und sein Verschwinden wussten. Dass ihr Vater auf der
Flucht war. Er hatte sich sicher gefühlt in Japan, viele Jahre
lang hatte er eine Familie und alles andere gehabt, aber irgendwas
oder irgend jemand hatte damals, im Sommer 1981, ausgelöst, dass
er wieder fliehen musste. Was 1981 genau passiert war, hatten sie bis
heute nicht erfahren können. Die Antwort kannten vermutlich nur
die Verfolger und ihr Vater selbst.
Wenn
sie bald wieder Zuhause sein würden, war dann da noch so viel,
was zu erzählen, erklären und zu tun war.
Schließlich
näherte sich der Zug ihrem Ziel. Aber nach einem eher spontanen
Einfall bat sie Toshi mit ihr schon einige Stationen früher
auszusteigen und ihr zu folgen. Sie taten es, er fragte sie nicht,
was sie damit bezweckte. Sie würde ihre Gründe haben. Es
war früher Morgen und sie waren in einem nicht so belebter Teil
des Hafens. Es war noch nicht hell, es würde noch etwas dauern,
bis die Sonne über der Stadt aufgehen würde. Kein Mensch
bemerkte die beiden Gestalten, die dicht nebeneinander die Gassen
entlanggingen.
Manche
Gebäude waren in nicht mehr so guter Verfassung, aber es gab
auch einige gut erhaltene, die dem Wetter und der Zeit getrotzt
hatten. Es gab jede Menge Lagerhallen, die sich teils benutzt, teils
unbenutzt über die Kais verteilten. Es war nicht sehr viel los,
auch nur wenige Schiffe lagen hier vor Anker. Sie hatten gewußt,
warum sie sich damals diesen Platz ausgesucht hatten.
In
eine dieser Lagerhallen führte sie ihn jetzt. Sie humpelte ein
wenig beim Gehen, die hatten sie wohl doch stärker getroffen,
als sie angenommen hatte. Es war dunkel in dem Gang, den sie durch
den geheimen Zugang betraten. Sie gingen ihn entlang.
Plötzlich
spürte sie die Anwesenheit eines Menschen, und zwar direkt vor
ihr. Aber es war schon zu spät, der Schatten griff sie an.
Jemand
packte ihr Handgelenk und hielt sie fest. Die zweite Hand des
Schattens griff ihren anderen Arm und verdrehte ihn ihr auf den
Rücken, so dass sie nun ziemlich hilflos und überrumpelt
war.
Doch
plötzlich ließ der Schatten sie los: „Hitomi?! Du?!“
Das
Licht wurde eingeschaltet, von der plötzlichen Helligkeit
geblendet kniff sie ein wenig die Augen zusammen, aber sie erkannte
die Frau doch, die sie vor sich hatte.
„Nami?!“,
fragte sie überrascht, als sie ihre Schwester im Lichtschein
stehen sah. Die Verblüffung und die Freude standen Nami ins
Gesicht geschrieben. Sie sahen sich an, und sofort mischte sich Sorge
in den Blick ihrer älteren Schwester mit ein.
„Verdammt,
Hitomi, was ist passiert?!“ Hitomi hörte deutlich den
Schreck heraus, den sie ihr mit ihrer äußeren Erscheinung
einjagen musste.
Doch
bevor sie zu einer Antwort kam, erstarrte die vor ihr Stehende wie
eine Statue. Hitomi wusste, was der Grund dafür war. Nami stand
da wie versteinert. Sie hatte den hinter ihr in den Raum getretenen
Toshi bemerkt.
Nami
starrte auf den Mann vor ihr und konnte den Blick nicht von ihm
abwenden. Hitomi wusste, dass in ihrem Kopf die Gedanken rasten. Sie
konnte sich sehr gut vorstellen, was sie jetzt dachte. Toshi musste
es wissen, sonst hätte sie ihn niemals zu dieser Lagerhalle
geführt. Und das bedeutete dann...!
Nami
sah ihre jüngere Schwester an und brachte endlich hervor:
„Nein,...Hitomi! Das...das darf einfach nicht passiert sein.“
In ihren Augen waren die widersprüchlichen Emotionen - die
Angst, die Verwirrung, der Schreck - für Hitomi deutlich zu
lesen. Hitomi senkte den Blick und meinte leise: „Doch,...es
ist passiert!“
Jetzt
betrachtete Nami ihre Schwester näher. „Was...was haben
sie bloß mit euch beiden gemacht?!“ Hitomi wollte
antworten, doch Toshi bat sie mit einem Blich zuerst etwas sagen zu
dürfen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist
alles in Ordnung. Das ist alles was du vorher wissen musst.“
Nami sah Hitomi an und die nickte lächelnd. Dann sah sie wieder
Toshi an und der lächelte jetzt auch.
„Ich
weiß, was du siehst...aber es ist alles in Ordnung. Er ist
nicht hier um mich oder uns zu verhaften.“, fügte Hitomi
jetzt noch hinzu.
„Wie...wie
konnte das passieren?! Was ist schief gelaufen?!“
„Erklär’
ich dir gleich, aber ist mit euch alles in Ordnung?“
„Ja,...
mit uns soweit schon. Wir haben uns nur große Sorgen um euch
beide gemacht.“ Hitomi hörte den leichten Anflug von
Schuld, der in der Stimme ihrer Schwester lag. „Ja,...aber
alles ist gut, es ist gerade noch gut gegangen.“
„Das
Landhaus, nicht wahr?!...Es gehörte Kubari. Ich hab in den
Nachrichten gehört, dass es vollständig in Flammen
aufgegangen sein soll. Ich bin hergekommen, weil ich geahnt habe,
dass das etwas mit uns und eurem Verschwinden zu tun haben musste.
Aber ich war mir nicht ganz sicher.“
Jetzt
sagte Toshi: „Mich hatte er auch entführt. Na ja,...und
dann ist es so gekommen, wie es eben gekommen ist.“
„Was
ist da drinnen geschehen?“
„Rache.
Er wollte Rache für damals, als wir ihm das Gemälde von
Vater gestohlen hatten. Aber wir waren schneller als er.“,
antwortete Hitomi ihr.
„Ich
dachte es mir..! Und...und Toshi?! Wo kommst du in die Sache?“
„Ich glaube, wir müssen die ganze Geschichte erzählen.“
Genau so wie Toshi das gesagt hatte, taten sie es auch. Es dauerte
eine kleine Weile, und Nami hörte zu - immer verblüffter
und fassungsloser werdend.
Als
sie schließlich fertig waren, lehnte sie sich leicht gegen die
Wand zurück und meinte nach einer kurzen Weile: „Ich hatte
schon geahnt, dass das nicht mehr lange so weitergehen konnte mit
euch beiden. Irgendwann musste ja mal sowas passieren.“
Sie
fragte leise und mit einem ernsten Ausdruck in den Augen: „Und
wie wird es jetzt weiter gehen?“
„Wir
sollten erstmal nach Hause kommen. Love, Chang und Herr Nagaishi
werden sowieso schon einen riesigen Schrecken bekommen, wenn sie uns
nur sehen...“
„Das
ist es nicht, was ich gemeint habe. Wir können jetzt nicht mehr
aufhören, sonst werden wir unseren Vater vielleicht niemals mehr
lebend wieder sehen.“ Hilflosigkeit und auch Angst lag in ihrer
Stimme, etwas, was für die raffinierte Pläneschmiederin
ihres Teams relativ ungewöhnlich war. Sie lehnte immer noch an
der Wand, den Blick erst auf den Boden, dann fragend auf ihre
Schwester gerichtet.
Diesmal
antwortete Toshi für Hitomi. „Ich weiß, dass es eine
ziemlich gefährliche Gradwanderung werden wird. Ich bin ein
Polizist, und ich beschütze die Diebe, die ich eigentlich fangen
sollte. Früher hätte ich jeden von euch sofort verhaftet,
wenn ich ihn in die Finger gekriegt hätte. Das hat sich
geändert, seit wann, weiß ich auch nicht so genau. Aber
eins weiß ich: ihr müßt weitermachen, ihr dürft
jetzt nicht aufhören. Sonst riskiert ihr alles zu verlieren,
wofür ihr die ganzen Jahre gekämpft habt, wofür auch
euer Vater kämpft. Es ist wahr, es war ein ziemlich großer
Schock für mich zu sehen, was ich mich all die ganzen Jahre zu
sehen geweigert habe zu sehen. Aber ich kenne die Wahrheit jetzt, und
ich sage euch eins: ihr gehört zu den Katzen, und die Katzen
gehören zu euch. Und das dürft ihr nicht aufgeben. Ich
werde euch helfen, wann immer ihr mich braucht. Nichts wird für
mich eine schönere Belohnung für die Nächte sein, die
ich hinter euch hergejagt bin, wenn ihr es tatsächlich glücklich
zuende bringen könnt, wenn ihr euren Vater wirklich findet. Das
ist alles, was im Moment wichtig ist.“
Nami
richtete sich auf und fragte, mit Überraschung und Verblüffung
in der Stimme: „Warum tust du das? Du könntest den größten
Fang deiner Karriere machen, wenn du uns verhaftest. Und du riskierst
mehr als nur deinen Job, indem du es nicht tust.“
Ein
Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er ihr leicht eine Hand
auf die Schulter legte und sie ihn ansah. „Nami, meine Verlobte
ist eine Katze und ist es die ganze Zeit gewesen. Ich habe euch die
ganzen Jahre lang, wenn auch unwissentlich, Informationen über
Polizeiaktionen gegeben. Allein dafür könnte man mich schon
anklagen. Es wird alles Risiko wert sein, wenn ich euch glücklich
sehen kann. Wenn ihr es schafft euren Vater zu finden. Genau deshalb
dürft ihr jetzt auch nicht aufhören.“
Nami
sah ihn immer noch an, und beide, Hitomi und Toshi, sahen das leichte
Aufblitzen in ihren Augen und ein sanftes, obwohl noch etwas
ungläubiges Lächeln legte sich um ihre Mundwinkel. Sie
wussten, dass sie in Toshi in diesem Moment einen neuen Verbündeten
gefunden hatten. Hitomi hätte selbst nicht glücklicher sein
können, als sie ihn da stehen sah.
Es
war etwas, an das sie sich alle gewöhnen mussten, und sie ganze
Sache würde alles andere als einfach für sie alle werden.
Doch es gab jetzt wieder eine Chance, eine echte Chance, dass am Ende
doch noch alles gut ausgehen konnte.
Toshi
wandte sich zu dem übrigen Teil des Raumes um, den er bis jetzt
nicht beachtet hatte. Dort sah er im Halbdunkel all die Sachen, die
die Katzen über Jahre hinweg gestohlen hatten.
Da
waren Dutzende, die er auf den ersten Blick einer ganz bestimmten
Situation zuordnen konnte. Das Gemälde, auf dem ein Zauberer in
wunderschönem Gewand und einem langen weißen Bart
abgebildet war. Der Zauberer schwang seinen Stab und daraus quoll
magisches Licht und viele fröhliche, kleine Gesichter, wie die
Gesichter von Kindern. Es war fröhlich, es war eines der
schönsten von allen. Es war das Bild von der „Santa
Maria“.
Auch
die kleine Statue, die damals der erste Fall gewesen war, bei dem er
mitgearbeitet hatte. Damals hatte er die Katzen auch zum ersten Mal
wirklich aus der Nähe gesehen, und schon damals war er
fasziniert von diesen Dieben gewesen.
Das
hatte sich bis heute nicht geändert. Nur an diesem heutigen Tag
hatte er die Chance erhalten, sie wirklich zu kennen, und er war mehr
als dankbar für diese Chance.
Unbewußt
stieß er einen leisen Pfiff aus bei dem Anblick, der sich ihm
mit den hier gelagerten Kunstschätzen bot. Er drehte sich halb
um und sah die beiden Schwestern jetzt nebeneinander stehen, ein
leichtes Lächeln bei beiden. Er sah jetzt, wo er sie auf diese
Weise betrachtete, wie sehr sie wirklich die Katzen waren. Nur die
dritte im Bunde, ihre Schwester Love, fehlte noch. Dann wäre
dieses Team komplett, obwohl er wusste, dass da mindestens noch einer
sein musste, mit dem sie zusammenarbeiteten.
Sie
blieben noch eine Weile in der Lagerhalle, aber schließlich
verließen sie zu dritt den geheimen Raum, und Nami gab den Code
für die Tür wieder ein, so dass sie sich geräuschlos
schloß. Toshi konnte sich gut vorstellen, dass Love, als
technisches Genie, diese Vorrichtung entworfen hatte. Er vermutete
stark, dass die Jüngste im Bunde der drei auch für all die
anderen technischen Raffinessen der Aktionen der Katzen
verantwortlich war.
Als
sie ins Freie traten, wurde es gerade hell. Einige Vögel
zwitscherten und suchten über dem Wasser nach Futter. Die Sonne
ging gerade eben über dem Horizont auf, noch war es ein etwas
unwirkliches Licht, aber das änderte sich von Minute zu Minute.
Es hätte eine perfekte Beschreibung seiner derzeitigen Situation
sein können. Es war nur ein paar Stunden her, da waren sie einem
Wahnsinnigen entkommen. Jetzt sah er die beiden Schwestern neben sich
gehen, beide müde und erschöpft wie er auch, aber aufrecht
und mit einer inneren Stärke. Nami war auf dem selben Wege wie
sie vorhin zur Lagerhalle gekommen, also gingen sie den Weg zur
nächsten U-bahn-Station zu Fuß.
Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen, es war
aber immer noch empfindlich kalt und leichter Bodennebel lag schon
über dem Rasen des Parks. Die Bäume fingen an ihr Laub zu
verlieren, und die Blätter färbten schon Teile des Weges
rotbraun.
Die
beiden Frauen gingen nebeneinander den Weg entlang. Beide übermüdet
und erschöpft, aber viel zu viel war in den letzten Stunden
geschehen, als dass sie jetzt an Schlaf denken konnten. Sie hatten
sich von Toshi ein paar Blocks vorher getrennt, er war zu seiner
Wohnung gegangen. Er war mindestens genauso müde gewesen wie sie
beide auch, und sie alle hatten noch eine ganze Menge zu verarbeiten.
Es war so viel passiert, und sie mussten damit jetzt erst einmal klar
kommen.
Der
Park, durch den sie gerade gingen, lag in der Nähe ihres eigenen
Zuhauses, aber an Schlaf war innerhalb der nächsten Stunden
nicht zu denken. Love würde vermutlich in heller Aufregung sein
vor Sorge um nun inzwischen ihrer beider Schwestern, und sie mussten
ihr noch eine ganze Menge erklären. Nami trug ihre langen
schwarzen Haare offen, sie fielen ihr sanft über die Schultern.
Hitomi sah sie neben sich gehen, und sie ahnte, was sie dachte; sie
kannte diesen Gesichtsausdruck bei ihr. Sie beide waren sich in
vielen Dingen ähnlich, wenn auch längst nicht in allen.
„He,
was ist los mit dir?“, fragte sie, obwohl sie sich die Antwort
in ungefähr denken konnte. Sie merkte ihr an, dass sie sich
große Sorgen um sie gemacht haben musste.
Jetzt
sah die neben ihr Gehende sie von der Seite an und meinte, mit einem
leichten Zucken um die Mundwinkel: „Weißt du noch, was du
damals gesagt hast?! Du würdest es niemals so weit kommen
lassen, weil du ihn dann verlieren würdest. Und jetzt...! Das
alles ist ziemlich verwirrend. Ich schätze, es wird ein Weile
dauern, bis wir uns alle an diese Situation gewöhnt haben
werden.“
Ein
Lächeln huschte über das Gesicht ihrer jüngeren
Schwester. „Ja, es wird nicht einfach werden. Aber es wird
funktionieren, das weiß ich.“
Plötzlich
hielt Nami sie leicht an der Schulter fest, und sie beide blieben
stehen. Eine Mischung aus Sorge und Schuldbewußtsein war in
ihren Augen zu sehen. „Sie...sie hätten euch beinah
umgebracht.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie leiser fort: „Hör
zu,...es tut mir leid. Ich weiß,...wir hätten das nicht
tun sollen. Wenn ich daran denke, dass sie dich und Toshi fast wegen
uns umgebracht hätten.“
Hitomi
sah ihr an, dass es ihr sehr ernst mit der Sache war und ließ
sie weiterreden.
„Weißt
du noch, was damals passiert ist, als sie dich entführt hatten
ohne dass wir davon wussten?!...Ich habe daran gedacht,...und wenn
sie dich tatsächlich unseretwegen...!“
Hitomi
meinte lächelnd, während sie ihr leicht eine Hand auf die
Schulter legte: „He,...ich bin immer noch deine Schwester, und
das werde ich auch immer sein.“
Sie
umarmten sich schweigend. Sie hatten sich nicht das erste Mal in die
Haare bekommen, aber noch niemals hatte das so weitreichende Folgen
gehabt wie jetzt. Aber in Wirklichkeit liebten sie sich doch, und sie
söhnten sich wieder miteinander aus. Genauso wie sie das jetzt
taten. Sie brauchten keine Worte mehr, sie verstanden sich auch so.
3. Verwechslungsmöglichkeiten
Donnerstag,
11. Februar 1988
Tokio,
Japan
Es
war eine relativ dunkle Nacht. Nur ein Teil des Mondes war zu sehen
und auch die Sterne verschwanden beinah ganz hinter den Wolken, die
von einem leichten Wind angetrieben über der Stadt dahinzogen.
Es war eine Nacht, wie geschaffen für ihr Vorhaben. Besser hätte
es gar nicht laufen können, ein leichtes Lächeln lag um
ihre Mundwinkel.
Alles
war gelaufen wie geplant, niemand hatte sie gesehen, und sie würde
ihren Plan auch weiter verfolgen können, wie sie es geplant
hatte. Die Wächter und Kameras bei Fukuoka Technologies waren
leicht auszutricksen gewesen, obwohl sie nur alleine war. Sie mochte
dieses Gefühl des Erfolges, auch wenn es nur ein vergleichbar
kleiner Teil des Plans gewesen war, den sie verfolgte.
Sie
lief über ein weiteres unbeleuchtetes Dach; nur noch ein paar
Dächer mehr, und sie würde bei ihrem Motorrad sein. Schon
ein paar hatte sie hinter sich, seit sie so ungesehen und unbemerkt
aus dem Gebäude ausgestiegen war, wie sie vorher eingestiegen
war. Sie hatte das bekommen, was sie gesucht hatte. Und das reichte
ihr fürs erste.
Es
konnte genau so gut sein, dass sie sich irrte, und dass sie heute
Nacht nicht kommen würden. Aber unter den gegebenen Umständen
ging Unterinspektor Assayah jedem noch so kleinen Hinweis nach,
solange die Katzen immer noch frei rumliefen und ihre Diebstähle
vor der Nase der Polizei verüben konnten.
Wenn
sie es überhaupt vorhatten, dann würden sie es heute tun.
Schon gestern nacht hatte sie auf der Lauer gelegen, doch niemand war
gekommen. Sie konnte sich etwas schöneres vorstellen, als sich
hier die Nächte um die Ohren zu schlagen, aber sie tat es gerne,
wenn es ihr zumindest eine geringfügig größere Chance
verschaffte, die Katzen endlich zu schnappen. Sie hatte weder ihre
Kollegen, Vorgesetzten oder sonst jemanden von ihrem Vorhaben
unterrichtet, und sie wusste, dass sie sich hiermit Ärger
einhandeln konnte. Das war ihr egal, sie ging das Risiko ein. Sie war
sich so gut wie sicher, dass die Katzen zumindest versuchen würden,
heute nacht wichtige Informationen über die für Montag
nacht angekündigte Aktion aus dem Hauptgebäude von Fukuoka
Technologies zu holen. Denn dieses Forschungsinstitut hatte als
einziger japanischer Beteiligter an dem hochentwickelten
Computersystem mitgearbeitet, dass den Safe schützte, in dem das
Gemälde aufbewahrt wurde. Sie konnte sich durchaus vorstellen,
dass dieses Institut einen gewissen Reiz auf die Katzen ausüben
würde. Zwar hatte man das Institut nicht von der Polizei
überwachen lassen, weil ein Auftauchen der Katzen an diesem Ort
zu unsicher gewesen war. Sie wollte sich nicht so einfach geschlagen
geben, und deshalb lag jetzt ein befriedigtes Lächeln auf ihrem
Gesicht, als sie endlich kamen.
Sie
hatte heute die entscheidende Chance bekommen, die sie gebraucht
hatte. Es war zwar nur eine Gestalt, die sie erkannte. Aber sie
hatten es doch getan, und jetzt würde zumindest eine von ihnen
in ihre Falle laufen. Eine reichte schon. Denn dann hatten sie auch
den Rest ihrer Gruppe. Und sie vermutete ganz stark, nein, sie wusste
es beinah ganz sicher, dass sie - wenn nicht schon Hitomi selbst -
doch wenigstens eine ihrer beiden Schwestern antreffen würde.
Sie hatte sie nun schon so lange im Verdacht, obwohl sie in den
letzten Monaten keinen direkten Anlaß dazu gesehen hatte. Doch
sie vertraute weiterhin ihrem ganz eigenen Gefühl und Instinkt,
dass mit den drei Schwestern etwas nicht stimmte, und sie ging diesem
Verdacht auch weiterhin nach. Ganz gleich, was Detective Uzumi
darüber denken mochte. Er war sowieso viel zu voreingenommen.
Assayah
verschmolz beinah ganz mit der Dunkelheit, die schwache Lampe auf dem
Dach erleuchtete nur einen geringen Teil, und hinter der Lichtgrenze
war alles in schwarze Dunkelheit gehüllt. Sie hatte schon die
ganze Zeit den Schatten, der sich mit gewandter Schnelligkeit über
die Dächer bewegte, beobachtet. Zwar hatte Assayah immer noch
nicht erkennen können, wer es nun definitiv war, aber das würde
sie schon noch. Sie hatte sich so versteckt, dass die Katze an ihr
vorbei musste, wenn sie wieder zu ihrem Motorrad wollte, es gab
keinen anderen Weg. Sie würde kommen, und dann würde sie in
der Falle sitzen...
Plötzlich
trat sie direkt in den Lichtschein hinein und stand der Frau
gegenüber. Sie hatte nicht wie üblich ihren Anzug an,
sondern trug Jeans und eine Lederjacke. Es gab trotzdem keinen
Zweifel, was sie hier tat. Assayah ließ die Waffe stecken, denn
sie wusste, wer vor ihr stand. Es war Hitomi.
Sie
stand vor ihr im Schein der Lampe, das lange, schwarze Haar fiel ihr
über die Schultern, in der Hand eine Mappe mit irgendwelchen
Dokumenten, die sie wahrscheinlich aus dem Institut gestohlen hatte.
Die Augen zeigten ihr, wie erschrocken und überrascht die vor
ihr Stehende war, aber die Augen waren auch irgendwie seltsam ruhig
und von einer sonderbaren Kälte. Diese Kälte erschreckte
sie ein wenig, aber nur im allerersten Augenblick.
Einige
Sekunden standen sich die beiden nur schweigend gegenüber. Auch
weiterhin ließ Assayah die Pistole im Halfter stecken, Hitomi
würde nicht weglaufen. Denn sie musste wissen, dass es vorbei
war, und dass es gar nichts nützte, wenn sie jetzt weglief.
Mit
einem leichten Zucken um ihre Mundwinkel meinte die Polizistin: „Also
doch. Also doch Sie, Hitomi. Ich wusste es, Sie haben es die ganze
Zeit hervorragend verstanden, uns alle zu täuschen. Aber das ist
jetzt vorbei. Sie wissen, dass ich Sie verhaften muß.“
„Sollte
ich Sie kennen?“ Assayah hatte viele Antworten erwartet, aber
nicht diese. Darum war sie in den ersten Sekunden auch sehr
überrascht, aber dann durchschaute sie die Katze. „Hören
Sie auf, Spielchen mit mir zu treiben, Hitomi! Sie wissen ganz genau,
dass ich Sie verhaften werde. Sie haben vielleicht den Detective
täuschen können, aber mich haben Sie nie hinters Licht
führen können, so raffiniert Sie auch sein mögen.“
Hitomi’s
Reaktion auf ihre Worte war anders, als sie es erwartet hatte. Sie
hatte zumindest erwartet, dass die Erwähnung ihres Freundes
etwas auslösen würde, aber das tat es nicht, oder nicht so,
wie sie gedacht hatte. Hitomi blieb ganz ruhig und gelassen, sogar
ein leichtes Grinsen legte sich jetzt über ihre Mundwinkel.
Entweder hatte sie die Worte der Polizistin nicht richtig begriffen,
oder sie war noch viel raffinierter und gerissener, als sie gedacht
hatte. „Sie werden mich nicht festhalten.“
Mit
diesen Worten legte sich ein noch viel teuflischeres Grinsen über
ihr Gesicht, und plötzlich sprang sie hoch. Es war ein hoher
Sprung, und mit einem Salto war sie ganz plötzlich direkt vor
ihr. Das alles hatte sich in nur wenigen Zehntelsekunden direkt vor
ihren Augen abgespielt, aber sie hatte erst realisiert, was geschah,
als es schon viel zu spät war. Ein harter Schlag traf sie an die
Stirn. Dann sah sie nur noch, wie ein Arm blitzschnell auf sie
zugerast kam und sie mit Wucht in den Nacken traf.
Sie
konnte nicht anders, sie ging sofort zu Boden. Der Schlag selber tat
nicht besonders weh, aber er ließ sie wie eine Strohpuppe
zusammensacken.
Zwar
konnte sie sich schon wenige Sekunden danach wieder aufrichten, aber
es war zu spät. Sie sah nur noch den Schatten von Hitomi in der
Dunkelheit der Dächer verschwinden, keine Chance sie noch
einzufangen. Ihr Nacken tat weh, und auf ihrer Stirn hatte der Hieb
eine kleine, blutige Schramme zurückgelassen, aber darauf
achtete sie nicht. Sie war immer noch viel zu überrascht von
Hitomi’s Reaktion. Sie musste doch wissen, dass es zu spät
war und Fliehen ihr nicht mehr das Geringste nützte. Vielleicht
war es eine Art Panikreaktion gewesen, und in gewisser Weise konnte
die Polizistin sie verstehen. Für sie und ihre Schwestern war
das Spiel jetzt aus, die Katzen würden keinen einzigen Diebstahl
mehr begehen...
Es
tat ihr nur leid um Detective Uzumi, der erfahren musste, dass seine
Freundin eine gesuchte Kunstdiebin war, wenn er von seinem Lehrgang
zurückkehrte. Morgen würde sie die drei Schwestern und wer
immer noch da mitdrinhängen mochte verhaften. Mit einem
zufriedenen Lächeln verließ sie das Dach.
Sie
ging den gepflasterten Weg entlang durch den relativ kleinen Park,
der aber immer noch sehr weitläufig war. Die Dämmerung
hatte bereits eingesetzt, aber es war immer noch hell genug, dass man
ohne Straßenlampen etwas sehen konnte. Nicht mehr sehr viele
Menschen waren noch auf den Wegen unterwegs, obwohl es erst kurz nach
sieben Uhr war. Es war ein Freitag Abend, und sie freute sich darauf,
endlich nach Hause zu kommen. Der Tag war ziemlich anstrengend
gewesen, und die nächsten Tage würden nicht besser werden,
obwohl Wochenende war. Sie war länger als sonst in der Uni
gewesen, und jetzt waren es nur noch ein paar Schritte bis nach
Hause. Nur Love würde dort sein, denn Nami war bis Dienstag mit
Herrn Nagaishi in Kobe um dort Informationen über eine andere
Aktion einzuholen. Sie selbst und Love waren derweil in Tokio
geblieben, weil sie hier eine wichtige Aktion durchführen
mussten, die sich absolut nicht verschieben ließ. Denn wenn die
Aktion nicht wie geplant am Montag ablaufen würde, würde
das Bild ihres Vaters für sie für lange Zeit unerreichbar
werden. Das Gemälde befand sich in einem Hochsicherheitssafe in
einem Museum, unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen, aber das war
nicht das eigentliche Problem. Zuerst hatte sich nämlich der
Safe als ernstes Problem erwiesen, weil man ohne das richtige Paßwort
das Computersystem nur sehr zeitaufwendig knacken konnte. Leider
kannte das Paßwort nur der Besitzer des Museums, selbst die
Polizei erfuhr es erst an dem Tag, an dem die Katzen ihren Besuch
angekündigt hatten.
Aber
auch dieses Problem hatten sie gelöst, und Hitomi hatte ihre
jüngere Schwester wieder einmal bewundert, sie war ein Genie auf
ihrem Gebiet. Denn Love hatte noch einen ganz anderen Weg in den Safe
gefunden, für den sie das Paßwort gar nicht brauchten. Der
Safe und sein Computersystem waren von Menschen erbaut worden, also
musste es irgendwo seine Schwachstellen haben, man musste sie nur
finden. Toshi war auch nicht da, denn er war bis Sonntag Abend auf
einem Lehrgang in Osaka.
Alles
in allem würden Love und sie noch einiges zu planen und zu
besprechen haben. Wenn sie die Aktion perfekt und ohne Fehler
durchführen wollten, dann mussten sie sich genau aufeinander
abgestimmt haben. So wie sie das immer taten, und sie durften auch
niemals nachlässig damit werden, sonst liefen sie Gefahr, doch
einmal von den Polizisten geschnappt zu werden.
Hitomi
war in Gedanken versunken, während sie auf dem Weg entlangging.
Kein anderer Mensch war in Sicht, als sie plötzlich abrupt
stehenblieb. Denn eine Person war direkt vor ihr aus dem Schatten
eines Baumes getreten. Erst war sie ziemlich erschrocken, und in
diesem Zwielicht dauerte es eine Sekunde, bis sie die vor ihr
Stehende erkannt hatte.
Für
eine Sekunde standen die beiden sich nur gegenüber und sahen
sich an. Assayah hatte eine kleine, blutige Schramme an der Stirn.
„Die habe ich von Ihnen, Hitomi.“, begann sie, während
sie auf ihre Schramme zeigte. Ihre Stimme war zwar ruhig, aber sie
hatte einen Unterton, irgend etwas, das Hitomi sagte, dass etwas ganz
und gar nicht in Ordnung war. Sie war total überrumpelt, sie
hatte nicht die geringste Ahnung, was das hier zu bedeuten hatte.
Deshalb schwieg sie erstmal und wartete, bis die Polizistin fortfuhr,
was auch sofort danach geschah. „Ich weiß nicht, warum
Sie gestern abend weggelaufen sind, aber es wird Ihnen nichts nützen.
Und ich werde Sie verhaften, Katzenauge.“
Jetzt
war es endgültig vorbei mit Hitomi’s Sicht, wie die Dinge
in der Welt sein sollten. Etwas lief hier schief, und sie war viel zu
verblüfft und überrascht, als das sie nur ein Wort über
ihre Lippen bekam. Wovon redete die Polizistin? Endlich, nach endlos
erscheinender Zeitspanne, in der keiner etwas gesagt hatte, fragte
sie: „Wovon um alles in der Welt reden Sie?“
Für
eine kurze Sekunde dachte Assayah wirklich, dass Hitomi absolut nicht
wusste, was sie meinte, als sie in ihre Augen blickte. Doch dann
erinnerte sie sich daran, wie raffiniert diese Frau sein konnte, und
wie kaltblütig sie gestern Abend gewesen war. Nein, sie konnte
sie nicht täuschen. Jetzt nicht mehr.
Sie
trat noch näher auf die Studentin zu und sah ihr direkt in die
Augen, als sie sagte: „Ich weiß, wen ich gestern auf dem
Dach vor mir gesehen habe! Ich habe sogar mit Ihnen gesprochen! Mir
machen Sie nichts mehr vor, ich werde Sie jetzt endgültig hinter
Gitter bringen!“
Hitomi’s
Gedanken rasten in ihrem Kopf. Sie wusste jetzt noch weniger, was
Assayah meinte. Nur, dass die Polizistin jetzt entschlossener und
sicherer denn je schien, sie zu verhaften. Das würde Sie nicht
machen ohne Beweise. Aber was für Beweise? Auf was für
einem Dach sollte sie gestern mit ihr zusammengetroffen sein? Sie
konnte es definitiv nicht gewesen sein, sie war den ganzen Abend
Zuhause gewesen.
„Ich
habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Ich war
gestern Abend Zuhause.“ Hitomi wusste in dem Augenblick, in dem
sie es sagte, dass Assayah ihr natürlich nicht glauben würde.
Und auch ihre Schwester würde sie als Alibi nicht gelten lassen,
denn sie verdächtigte ja sie alle drei.
„Sie
lügen, Hitomi! Wir beide wissen das. Ich habe Sie gestern als
Katze gesehen, keinen Meter von mir entfernt. Es hat doch keinen Sinn
mehr, geben Sie endlich auf.“
Eine
verdammt gefährliche Situation jetzt. Hitomi wusste, dass
sie nicht auf diesem Dach gewesen war, aber Assayah schien sich ihrer
Sache so sicher zu sein, dass sie etwas in der Hand haben musste. Und
selbst wenn nicht, würde es zu verdammt unangenehmen Fragen
kommen. Was sollte sie jetzt tun? Das wurde ihr jedoch abgenommen,
denn sie hatte gar keine Chance irgend etwas zu sagen.
„Nein,
sie lügt nicht!“ Plötzlich hörten sie eine
Stimme über ihnen. Beide sahen wie erstarrt vor Schreck
gleichzeitig nach oben. Erst sahen sie nur das dichte Geäst und
Blattwerk des Baumes, aber dann sahen sie einen menschlichen
Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste.
Schon
eine Sekunde später stand die Person im Licht, und Hitomi
erstarrte wie zu Eis. Im ersten Moment meinte sie alles in ihrem
Denken und Wahrnehmen sei zu Eis erstarrt, als sie auf die Person
blickte, die da vor ihr im Lichtschein stand. Sie konnte den Blick
nicht abwenden, es war ganz unmöglich. Es war so, als würde
sie ihr eigenes Spiegelbild vor sich stehen sehen.
Das...das
konnte doch überhaupt nicht sein. Selbst ihre Gedanken stockten,
widerwillig das zu akzeptieren, was ihre Augen ihr sagten. Unbewußt
wich sie ein paar Schritte zurück, gebannt in dem Anblick. Sie
war wie in einem Bann gefangen, und Tausende von Gedanken rasten
durch ihren Kopf, obwohl die gebannte Stille nur einige Sekunden
andauerte. Dann sprach die Person, und bei der Stimme erschrak Hitomi
wieder - noch mehr als beim bloßen Anblick. Sie hatte keinen
Blick und Gedanken mehr für Assayah, die direkt neben ihr stand.
„Ich
war diejenige, der Sie gestern auf dem Dach begegnet sind, nicht
sie.“, die Person zeigte bei den letzten Worten auf Hitomi.
Diese Person sah Hitomi zum Verwechseln ähnlich. Es war so, als
würde sie in einen Spiegel sehen. Und auch die Stimme war der
ihren so ähnlich, dass sie unwillkürlich noch weiter vor
ihr zurückwich. Auch Assayah war dermaßen erschrocken,
dass sie - genau wie Hitomi - zurückwich.
„Was...was
zum Teufel...!“, begann Assayah, ließ den Rest des Satzes
aber unausgesprochen. Auch Hitomi fand nun ihre Sprache wieder, auch
wenn sie keine Ahnung hatte, wie ihr das gelungen war. „Wer...wer
sind Sie...?!“, fragte sie, aber ihre eigene Stimme klang ihr
jetzt irgendwie fremd.
Die
Person lächelte, es war eigentlich mehr ein Hochziehen der
Mundwinkel. „Ich bin du.“ Jetzt fragte auch Assayah:
„Verdammt,...was für ein Spiel spielen Sie hier mit mir?!“
Sie sah die beiden vor ihr stehenden nacheinander an, und schauderte
unwillkürlich, als ihr erneut auffiel, dass die beiden sich
praktisch glichen wie ein Ei dem anderen.
Die
Person wandte sich jetzt der Polizistin zu und antwortete: „Das
ist kein Spiel, Unterinspektor. Durchaus nicht. Weder ich, noch sie
hat mit den Katzen etwas zu tun. Es war eigentlich mehr ein Versehen,
und es hatte gar nichts mit den Katzen zu tun.“
Jetzt
war es an Assayah die Mundwinkel ein klein wenig spöttisch
hochzuziehen. Dann sagte sie: „Ach, kommen Sie! Das ist doch
nur wieder ein Trick der Katzen um sich aus der Schlinge zu ziehen,
weil ich Hitomi gestern auf dem Dach erkannt habe! Es würde mich
nicht wundern, wenn Sie sich nur verkleidet hätten, vielleicht
sind Sie sogar ihre Schwester.“
Die
Person trat jetzt einen Schritt auf die Polizistin zu und sagte, mit
einem leichten, warnenden Unterton in der Stimme: „Es tut mir
leid, aber ich bin nicht mit ihr verwandt. Es mag wahr sein, ich war
gestern auf dem Dach und habe etwas gestohlen, aber ich bin keine
Katze, und sie ist das auch nicht. Es ist mir vollkommen egal, ob Sie
mir das glauben oder nicht, weil Sie nämlich niemandem etwas
beweisen können - außer mir, aber mich werden Sie nicht
kriegen. Außerdem dürfte es ihren Chef überhaupt
nicht erfreuen zu hören, wie Sie seinem Befehl zuwidergehandelt
und auf eigene Faust das Gebäude überwacht haben. Das
dürfte ihrer Karriere nicht gerade sehr einträglich sein.“
Assayah ballte die Hand zur Faust und meinte durch zusammengebissene
Zähne: „Sie können mich nicht erpressen.“
Die
Person zuckte leicht mit den Schultern und erwiderte gleichmütig:
„Das ist mir egal. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass Sie
nichts beweisen können.“ Mit diesen Worten trat sie noch
einen schnellen Schritt auf Assayah zu, und im nächsten
Augenblick brach die auch schon - von einem gezielten und harten
Handkantenschlag ins Genick getroffen - zusammen. Hitomi’s
Doppelgängerin ließ die Polizistin auf den Boden sinken,
und wandte sich dann wieder Hitomi zu, die immer noch wie versteinert
dastand. Die ganzen Ereignisse hatten sie so überrascht, dass
sie im Moment zu nichts anderem fähig war.
Die
falsche Hitomi trat jetzt dicht an sie heran und für einige
Sekunden sahen sie sich nur wortlos an. Jetzt, da sie Zeit hatte ihr
Gegenüber genauer zu betrachten, erschrak sie noch einmal über
die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden.
Schließlich
sagte die falsche Hitomi: „Ich habe gerade deinen Hals
gerettet.“ Es war eine trockene Feststellung, ohne einen
direkten Unterton darin, aber Hitomi spürte, dass eine gewisse
Kälte in der Stimme mitschwang. Eine Art kalte, berechnende
Proffessionalität, die nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch
in ihren Augen und ihrem gesamten Erscheinungsbild lag. Es war etwas
Beängstigendes an dieser Frau, die vom Aussehen her ihre
Zwillingsschwester hätte sein können.
„So
wie ich das sehe, hast du mich erst in diese Situation gebracht.“,
antwortete Hitomi mit ruhiger und kühler Stimme, und wunderte
sich, wie sie das zustande brachte, denn sie war immer noch ziemlich
perplex und verwirrt.
Wieder
zuckten die Mundwinkel ihres Gegenübers ein wenig nach oben und
sie antwortete: „Ihr Katzen seid tatsächlich genauso
schlagfertig, wie man erzählt.“
Jetzt
war es Hitomi, die einen Schritt auf ihre Doppelgängerin zutrat
und fragte: „Wieviel weißt du über die Katzen?“
„Es
reicht, wenn du weißt, dass ich weiß, dass du und deine
Schwestern die Katzen seid. Aber ihr werdet sowieso noch von mir
hören, und zwar schon sehr bald.“ Mit diesen Worten sprang
sie mit einem plötzlichen und weiten Sprung ins Unterholz und
war schon wenige Augenblicke später in der immer dichter
werdenden Dunkelheit verschwunden.
Zuerst
war Hitomi zu erschrocken um an eine Verfolgung zu denken, sie sah
mit einem kurzen Blick zu Assayah, die immer noch reglos auf dem
Boden lag. Ohne noch einen Gedanken zu verschwenden lief auch sie
dann in das Unterholz hinein, obwohl sie wusste, dass sie keine große
Chance hatte ihre Doppelgängerin in diesem Dickicht und in der
Dunkelheit noch aufzuspüren.
Wirklich
musste sie bald feststellen, dass es sinnlos war, sie würde sie
nicht finden. Die falsche Hitomi war einfach verschwunden, die
Dunkelheit hatte sie förmlich verschluckt. Und nachdem sie etwa
fünf Minuten versucht hatte diese geheimnisvolle Person, die ihr
wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte, zu finden, gab sie die
Suche auf. Sie würde sie jetzt nicht mehr entdecken können.
Aber
als sie schließlich wieder zu dem Weg zurückkehrte, von
dem sie gerade eben losgelaufen war, war von der Polizistin nichts
mehr zu sehen. Sie spähte in alle Richtungen in die Dunkelheit,
die immer mehr zunahm, obwohl überall Lampen die Wege erhellten.
Doch von Assayah war keine Spur zu finden.
Einen
Moment hielt sie inne und überlegte mit einem ironischen Lächeln
auf den Lippen, was für seltsame Dinge gerade um sie herum
geschehen waren. Sie war so erschrocken wie lange in ihrem Leben
nicht mehr, als sie plötzlich ihr eigenes Spiegelbild vor ihr
auftauchen und mit ihr sprechen gesehen hatte. Die Sache war zwar
verrückt, aber sie hatte ihre Doppelgängerin - denn nichts
anderes konnte sie sein - lange genug gesehen, um sich sicher zu
sein, dass das Ganze keine Halluzination gewesen war. Außerdem
hatte Assayah sie genauso gesehen.
Kopfschüttelnd
drehte sie sich dann um und ging weiter den Weg entlang nach Hause.
Sie hatte ein verdammt ungutes Gefühl bei der Sache, und sie
wurde auch das Gefühl nicht los, dass noch sehr viel mehr auf
sie wartete. Auf diese Art sechsten Sinn konnte sie sich beinah immer
verlassen, und es stimmte sie auch nicht ruhiger, dass ihr falsches
Ebenbild scheinbar zunächst keine feindlichen Absichten gegen
sie im Sinn gehabt hatte. In ihren Augen hat so ein merkwürdiger,
kalter Glanz gelegen, dachte sie beunruhigt, während sie in
Gedanken versunken den Weg verließ und durch ein Tor auf den
Gehsteig der Straße hinaustrat. Von hier aus war es nicht mehr
weit bis nach Hause. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie ihren
Schwestern erzählen sollte, was sie gerade eben erlebt hatte.
Sie würden ihr zwar glauben, weil sie ihr vertrauten, aber
Hitomi wusste selbst, dass diese Geschichte ziemlich schwer zu
glauben war.
Also,
noch mal von Anfang an: da ist eine Polizistin, die dir und deinen
Schwestern seit sie den Fall ‘Katzenauge’ bearbeitet auf
den Fersen ist. Und die nur auf die geeigneten Beweise wartet, um
ihre Verdächtigungen zu bestätigen. Und dann erwischt sie
deine Doppelgängerin irgendwo auf frischer Tat, dann triffst du
deine Doppelgängerin und sie verteidigt dich. Wahrscheinlich
hatte sie nicht geplant von Assayah erwischt zu werden. Das klingt
dann fast so, als wollte sie nicht, dass Assayah wegen ihr Beweise in
die Hände bekommt, die die Katzen hinter Gitter bringen können.
Aber wieso? Was für ein Interesse kann sie daran haben? Sie
war beinah Zuhause, als sie mit ihren Überlegungen so weit war,
aber sie musste einsehen, dass es im Moment nicht sehr viel brachte,
sich diese Frage zu stellen, denn sie würde keine Antworten
bekommen können. Jedenfalls nicht von alleine. Ihre
Doppelgängerin hatte gesagt, dass sie wiederkommen würde,
aber es gefiel Hitomi ganz und gar nicht, dieser Frau praktisch
ausgeliefert zu sein, denn noch hatte sie nicht die geringste Ahnung,
wer sie war, was dahinter steckte, oder was die falsche Hitomi
wollte.
Schließlich war sie Zuhause angekommen, sie
fischte ihren Hausschlüssel aus der Jackentasche und schloß
die Haustür auf. Sie konnte sich gut vorstellen, was für
einen Schrecken ihre jüngere Schwester bekommen
würde,
wenn sie ihr erzählte, was vorgefallen war.
Sie
zog ihre Jacke aus und strich mit der anderen Hand sanft ihrer Katze
Pfeil über das getigerte Fell, als die Katze um sie zu begrüßen
schnurrend um ihre Beine strich. Danach stieg sie vorsichtig über
das Fellbündel hinweg und wollte ihre Schwester suchen, sie
musste mit ihr reden. Es konnte durchaus sein, dass sie in ihrer
geheimen, unter dem Haus gelegenen, Werkstatt an irgend etwas
bastelte, dass ihnen bei ihrer Aktion nützlich sein sollte.
Sie
brauchte gar nicht erst zu suchen, denn ihre Schwester stand im
Rahmen der Küchentür gelehnt und fragte, während sie
eine Zeitung hochhielt: „Was hat das zu bedeuten, Hitomi?“
Es war eine Mischung aus Ärger, Verwirrung, Angst und
Ratlosigkeit in ihrer Stimme, und als Hitomi die Schlagzeile auf der
Zeitung sah, wusste sie warum. EINBRUCH BEI FUKUOKA TECHNOLOGIES
stand da in dicken Lettern, und darunter - etwas kleiner - POLIZEI
VERMUTET KATZEN HINTER DEM DIEBSTAHL.
Sie
wollte etwas sagen, aber Love ließ sie nicht zu Wort kommen und
fuhr fort: „Assayah ist vorhin hier gewesen und hat dich
gesucht. Und sie hat mir gesagt, dass sie dich gestern nacht auf dem
Dach nicht weit von diesem Institut gesehen hätte. Zwar nicht
als Katze, aber sie sagte, sie würde beweisen, dass wir die
Katzen sind.“
Dann
war die Polizistin schneller gewesen, als sie vermutet hatte. Sie
trat auf ihre Schwester zu, bis sie dicht vor ihr stand. Sie wusste
nicht genau, wie sie ihr das erklären sollte, aber sie musste es
versuchen. Also sagte sie: „Ich weiß,...aber das bin ich
nicht gewesen.“ Sie wusste im selben Moment, in dem sie es
sagte, dass dieser Satz mehr Fragen aufwarf als er beantwortete, und
wirklich sah Love um so mehr verwirrter aus. Dementsprechend war auch
ihre Stimme, als sie fragte: „Wer sollte es wohl sonst gewesen
sein? Ich war es nicht, und Nami kann es auch nicht gewesen sein. Und
ich glaube auch nicht, dass Assayah sich geirrt hat. Also, was ist
dann passiert?“
Hitomi
atmete tief ein und meinte, während sie ihr sanft eine Hand auf
die Schulter legte und sagte: „Ich kann das erklären, aber
wir sollten uns besser hinsetzen. Die Geschichte ist verrückt
genug.“
Als
Hitomi fertig war mit erzählen und erklären, waren selbst
die wenigen Sommersprossen in Love’s Gesicht bleich geworden.
Erst sagte sie gar nichts, dann, mit einer Stimme, die ihr
Erschrecken und ihre Überraschung deutlich zum Ausdruck brachte:
„O Gott,...das glaube ich einfach nicht. Wie...wie kann jemand
genauso aussehen wie du?! Das geht doch gar nicht!“
Hitomi
schüttelte den Kopf und meinte: „Doch,...ich habe es
selber gesehen, und Assayah auch. Ich weiß, es klingt verrückt,
aber es ist die Wahrheit.“
„Wenn...das
stimmt,...wer war dann die Person, die hier war, kurz nachdem Assayah
weg war?!...Du...oder deine Doppelgängerin?“ Erst sah sie
Love verständnislos an, dann begriff sie. Ihre Doppelgängerin
musste in der Zeit, in der sie an der Uni gewesen war, hier gewesen
sein. Kein Wunder, dass Love sie nicht von ihrer echten Schwester
hatte unterscheiden können, die Ähnlichkeit war einfach zu
groß.
Sie
wählte ihre Worte sorgfältig aus, denn sie wusste, wie ihre
Schwester denken würde. „Das bin nicht ich gewesen.“
Plötzlich
lag Mißtrauen auf Love’s Gesicht und sie fragte, indem
sie ein Stückchen von Hitomi wegrückte: „Ja, mag
sein,...aber woher weiß ich, dass du meine echte Schwester
bist, und nicht selber die Doppelgängerin?!“ Sie hatte
diese Frage erwartet, deshalb konnte Hitomi jetzt schnell darauf
reagieren.
„Frag
mich etwas, was nur die echte Hitomi wissen kann.“
Love
brauchte nicht lange zu überlegen. „Also gut,...warum hat
unser Vater unsere Mutter nur ein einziges Mal porträtiert?“
Hitomi
lächelte. „Er hat gesagt, weil er nur ein einziges Bild
brauchte, als Erinnerung, wenn sie mal auf Reisen ging. Er wollte das
Original lieber viel öfter lebend, als auf eine Leinwand gebannt
sehen.“
Jetzt
zuckte ein Lächeln über Love’s Gesicht. „In
Ordnung. Also diese Sache hätten wir geklärt. Aber wie geht
es jetzt weiter? Du hast eine Doppelgängerin da draußen
rumlaufen,...und Assayah wird diesmal garantiert nicht so leicht
aufgeben.“
Hitomi
nickte. „Ja, da hast du leider recht. Sie kann uns zwar nichts
beweisen, zumal meine Doppelgängerin sie noch damit erpreßt,
dass Assayah an dem Abend eine unerlaubte Überwachung
durchgeführt hat. Aber sie ist noch nicht davon überzeugt,
und es wird am Montag noch schwieriger für uns werden als es
ohnehin schon ist.“
„Wo
wir gerade dabei sind..., in der Zeitung steht, dass einige wichtige
Informationen über das Sicherheitssystem des Safes gestohlen
wurden, deshalb haben sie ja die Vermutung, dass die Katzen
dahinterstecken.“
„Aber
wir brauchen diese Informationen gar nicht, weil wir ja einen anderen
Weg in den Safe gefunden haben.“, meinte Hitomi nachdenklich,
und Love überlegte weiter: „Ja, aber vielleicht weiß
deine Doppelgängerin von unserem Weg nichts, und will auf diese
Weise an den Safe herankommen.“
„Aber die Sache ergibt noch keinen Sinn.
Wenn sie wirklich hinter dem selben Gemälde wie wir her ist,
dann muß sie dafür auf jeden Fall andere Gründe haben
als wir. Und so wie ich das sehe, wird sie das Bild eher aus
Profitgier stehlen wollen.“
„Oder
um mit uns in Kontakt zu treten,...auch wenn das eine ziemlich
seltsame Art ist.“, ergänzte ihre Schwester, aber Hitomi
schüttelte den Kopf. „Nein, wenn es ihr nur darum ginge,
dann hätte sie das auch einfacher haben können. Es steckt
wahrscheinlich viel mehr dahinter, als wir zur Zeit ahnen können.
Und ich denke, dass sie sich zumindest ein wenig hat operieren
lassen, um die Ähnlichkeit mit mir noch besser hinzukriegen.
Niemand kann einem Menschen auf natürliche Weise so ähnlich
sehen, wie sie mir ähnelt. Nicht einmal du hast uns
unterscheiden können.“
Als
Hitomi sich noch einmal genau das Gesicht ihrer Doppelgängerin
in Erinnerung rief - sie hatte sie immerhin eine ganze Weile im
hellen Lichtschein einer Lampe gesehen - fiel ihr auf, dass einige
winzige, sehr feine Operationsnarben am Kinn und an der Stirn zu
sehen gewesen waren. Sie waren zwar schon relativ verblaßt,
aber sie konnten trotzdem noch nicht sehr alt sein. Das würde
diese Ähnlichkeit zumindest so weit erklären, aber es warf
auf der anderen Seite noch viel mehr Fragen auf. Wer immer sie so
operiert hatte, musste ein wahrer Profi sein, und die waren
entsprechend teuer. Und wer immer hinter der Sache steckte, musste
ein ganz erhebliches Interesse an der Sache haben, sonst hätte
er sich diesen Aufwand nicht gemacht.
Denn
dass es nur diese eine Person war, glaubte sie inzwischen nicht mehr,
wer immer es war, es ging um sehr viel. Doch jetzt kam man
zwangsläufig wieder zu der grundlegenden Frage, die im Moment
keiner von ihnen beantworten konnte: was wurde mit dieser ganzen
Sache bezweckt, und wer steckte dahinter?
Ein
Verdacht regte sich in ihr, aber sie konnte auch genauso gut falsch
liegen. Trotzdem, in den letzten Jahren hatte sie gelernt, ihren
Instinkten zu vertrauen.
Leider
konnten sie im Moment nichts weiter tun als warten und sehen, was
passieren würde. Ihre Doppelgängerin würde sich wieder
bei ihnen melden, und dann würde hoffentlich ein bißchen
mehr Licht in diese ganze verworrene Angelegenheit kommen.
Und
was Hitomi auch noch erhebliche Sorgen machte, war der Umstand, dass
ihre Doppelgängerin wusste, dass sie drei die Katzen waren. Das
hieß, sie konnte sie verraten, auch wenn Hitomi glaubte, dass
sie das nicht im Sinn hatte. Es brachte sie alle in eine verdammt
abhängige Position, und das mochte sie überhaupt nicht.
Love
riß sie aus ihren Gedanken, indem sie fragte: „Moment
mal,...wenn ich deine Doppelgängerin nicht erkannt habe,...was
ist, wenn sie bei Nami, Toshi oder Chang auftaucht?!“
Daran
hatte sie noch überhaupt nicht gedacht. Wenn nicht einmal Love
sie erkannt hatte, wie sollte das den anderen gelingen?! Sie konnte
damit wer weiß was für einen großen Schaden
anrichten, so wie sie das - wenn auch wohl unbeabsichtigt - bei der
Sache mit Assayah schon getan hatte.
„Du
hast recht. Wir müssen sie erreichen, wenn meine Doppelgängerin
tatsächlich bei ihnen auftauchen sollte, müssen sie
wenigstens vorbereitet sein.“
Kobe
und Osaka waren nun auch wieder nicht so weit von Tokio entfernt. Es
bestand durchaus eine reelle Möglichkeit, dass die falsche
Hitomi zumindest zu einem der drei kommen würde, warum auch
immer. Aber natürlich mussten sie sie auch von dem Geschehenen
unterrichten, die Sache war zu wichtig und zu gefährlich, als
dass sie damit warten konnten bis sie zurückkamen.
Hitomi
rief gleich nachdem sie sich mit Love abgesprochen hatte Herrn
Nagaishi an, von dem sie die Nummer hatte. Er und Nami waren ja
zusammen an der Sache dran, und natürlich musste auch er
erfahren, was los war.
Sie
erreichte ihn und sprach auch mit ihrer älteren Schwester. Die
Reaktion der beiden war so, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Sie
hörte Nami das Erschrecken deutlich an, und auch Herr Nagaishi
schien ziemlich besorgt zu sein. „Es ist vielleicht besser,
wenn wir zurückkommen.“, meinte er.
„Nein,
ihr müßt das erst Zuende bringen, ihr könnt da jetzt
nicht weg. Ich nehme an, dass sie es auf das selbe Bild abgesehen hat
wie wir, aber da geht es um noch mehr, sonst hätte man sich
nicht solche Mühe gemacht. Love und ich werden die Sache
durchziehen, das schaffen wir schon.“
Nami
meinte auf die Erwiderung ihrer Schwester: „Aber das könnte
vielleicht noch viel gefährlicher werden, als wir alle jetzt
ahnen können. Ich habe auch das Gefühl, dass noch viel mehr
dahintersteckt.“
Hitomi
lächelte, obwohl ihre Schwester das durchs Telefon natürlich
nicht sehen konnte. „Macht euch keine Sorgen um uns, glaub mir,
nachdem ich mein eigenes Spiegelbild mit mir sprechen gesehen habe,
ist mir nicht danach zumute sie zu unterschätzen. Ihr werdet
dort, wo ihr seid, viel mehr gebraucht als hier. Bringt das Zuende,
das ist viel zu wichtig, als dass ihr das jetzt so einfach abbrechen
könnt.“
Schließlich
konnte sie die beiden doch überzeugen, und so einigten sie sich
darauf, dass Hitomi ihnen alles berichten würde, was hier bis
Dienstag wichtiges geschehen würde.
Danach
versuchte sie auch Toshi über seine Handy-Nummer zu erreichen.
Doch er schien sein Handy nicht bei sich zu haben, denn er meldete
sich nicht. Sie musste es also später noch mal versuchen, aber
sie hatte das Gefühl, je mehr Zeit verstrich, desto sicherer
wurde die Wahrscheinlichkeit, dass irgend etwas Unvorhergesehenes
passierte.
Sie
musste unbedingt mit Toshi reden, obwohl es recht ungewiß war,
dass ihre Doppelgängerin tatsächlich bei ihm in Osaka
auftauchen würde. Doch sie wusste, wenn es tatsächlich dazu
kam, würde es selbst auch für ihn sehr schwierig sein, sie
von seiner echten Freundin zu unterscheiden. Und sie schätzte
ihr alter Ego klug genug ein, um genügend Ausreden parat zu
haben.
Um
so mehr beunruhigte es sie, dass sie ihn auch am Samstag morgen nicht
erreichte. Entweder hatte er sein Handy tatsächlich Zuhause
gelassen, oder er trug es während des Lehrganges nicht bei sich.
Doch
sowohl der Samstag, als auch beinah der ganze Sonntag vergingen, ohne
dass auch nur das geringste passierte. Toshi schien unerreichbar zu
sein, es war einfach nicht möglich, ihn zu erreichen.
Auch
ihre Doppelgängerin meldete sich kein einziges Mal mehr. Sowohl
Love und ihr, als auch Nami und Herr Nagaishi in Kobe machte das
erhebliche Sorgen. Hitomi haßte es in solcher Ungewißheit
zu stecken und noch nicht einmal etwas dagegen unternehmen zu können.
Sie
alle stimmten darin überein, dass sie die Aktion am Montag
durchführen mussten, wie sie es geplant hatten. Und deshalb
bereiteten sie an den beiden Tagen auch soweit alles dafür vor,
und insofern lief auch alles nach Plan.
Die
Sache mit Assayah war längst noch nicht vergessen, die
Polizistin stellte jetzt mehr als je zuvor eine ernstzunehmende
Konkurrenz und Bedrohung dar.
Obwohl
sich Assayah am Samstag noch bei Hitomi entschuldigte, war die Lage
nicht weniger gefährlich geworden. Denn Hitomi wusste sehr gut,
dass Assayah nach wie vor der Überzeugung war, dass Hitomi und
ihre Schwestern etwas zu verbergen hatten, und dass es etwas mit
Katzenauge zu tun hatte.
Nur
vorläufig schien sich die Situation in dieser Richtung etwas
entschärft zu haben, zumal Assayah ihren Vorgesetzten und
Kollegen nichts von dem Vorfall erzählen konnte, weil sie einer
Anordnung zuwider gehandelt hatte. Doch das war nur vorläufig,
und schon am Montag, wenn die Aktion über die Bühne gehen
sollte, würde die Gefahr, die von der Polizistin für sie
ausging, wieder da sein. Sie durften sich dann keinen einzigen Fehler
erlauben, das konnte unter Umständen katastrophale Folgen haben.
Ihr
Geschäft war eigentlich immer gefährlich, egal ob sie
Polizisten oder Schwerverbrechern gegenüberstanden. Doch bei
Assayah mussten sie besonders aufpassen, sie waren von ihr gewarnt
worden, sie würde sie auch weiterhin im Auge behalten. Das war
Hitomi zwar auch schon vorher klar gewesen, aber das machte die Sache
nicht ungefährlicher.
Am
Sonntag abend fuhr Hitomi dann mit ihrem Motorrad zum Hauptbahnhof,
um Toshi dort abzuholen. Sie hatten das so abgesprochen, aber sie
hätte es auch sonst getan. Sie wollte kein Risiko eingehen, und
sie war sich so gut wie sicher, dass ihre Doppelgängerin jeden
ihrer Schritte überwachte.
Es
war schon recht kühl, eigentlich kühler, als es
normalerweise um diese Jahreszeit war. Doch das war jetzt das
geringste, was ihr Sorgen machte. Der Verkehr am Sonntag abend war
zum Glück nicht so dicht, so dass sie mit ihrer Maschine recht
gut durchkam. Doch auch jetzt dauerte es noch lange genug um sie
unruhig zu machen. Sie würde zwar nicht zu spät kommen,
aber das vertrieb die Sorgen nicht aus ihrem Kopf.
Dann
kam sie endlich am Hbf. an. Doch sie kam gar nicht dazu von ihrer
Maschine runterzusteigen. Denn was sie sah, ließ sie erstarren.
Sie sah Toshi mit ihrer Doppelgängerin aus einem Seiteneingang
kommen, nicht weit von ihr entfernt, aber keiner von beiden bemerkte
sie, da sie halb im Schatten stand, wo der Lampenschein nicht hinkam.
Verdammt,
sie war doch zu spät gekommen. Fahrplanmäßig musste
der Zug früher angekommen sein, denn von der Zeit her war sie
nicht zu spät. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle, sie
durfte sie nicht aus den Augen verlieren. Sie konnte Toshi absolut
keinen Vorwurf machen, denn immerhin hatte selbst ihre eigene
Schwester sie nicht unterscheiden können. Sie hatte keine
Ahnung, was ihre Doppelgängerin mit ihm vorhatte, aber es konnte
tausend Gründe geben, und sie durfte sie ihren Plan nicht
durchführen lassen - wie immer der auch aussehen mochte.
Die
beiden gingen auf ein Motorrad zu, dass zwar ihrem nicht ähnlich
sah, aber Toshi wusste, dass sie mehrere hatten. Das würde also
eine Verfolgung quer durch die Stadt werden, zum Glück war es
inzwischen schon fast halb zehn Uhr, und der Verkehr hatte noch mehr
abgenommen. Die beiden starteten die Maschine, und sie folgte ihnen
vorsichtig in einigem Abstand. Sie durfte nicht zu unvorsichtig sein,
sie konnte die Fähigkeiten ihres alter Ego noch nicht
einschätzen, und es konnte leicht passieren, dass die andere
Hitomi sie bemerkte.
Deshalb
ließ sie immer einige Wagen zwischen sich und den beiden,
gerade so, dass sie sie nicht aus den Augen verlor. Schon längst
war es ganz dunkel geworden, aber in der Stadt merkte man das wegen
der vielen Lichter nicht so deutlich. Und schon bald merkte sie,
wohin die Fahrt ging. Sie war den Weg schon oft selbst gefahren, denn
unten an den Docks des Containerhafens hatten sie ihre Lagerhalle,
die sie zu dem extrem sicheren Versteck für die gestohlenen
Kunstwerke ihres Vaters umgewandelt hatten.
Es
konnte zwar durchaus möglich sein, aber Hitomi glaubte nicht,
dass ihre Doppelgängerin von dem Versteck wusste, auch wenn sie
nicht im geringsten wusste, wer diese Frau war, oder wie gut sie über
die Katzen und ihre wirkliche Identität informiert war.
Sie
fuhren eine wenig befahrene Straße nahe dem Wasser entlang, und
tatsächlich war die Lagerhalle nicht mehr weit entfernt. Es
wurde nun schwierig die beiden zu verfolgen, denn nur noch ganz
wenige Autos fuhren hier um diese Zeit. Sie hielt sich immer
möglichst am Rand der Straße und ließ so viel Raum
wie möglich zwischen ihr und den anderen. In diesem relativ
abgelegenen Teil des Containerhafens wurde nicht mehr sehr viel
gearbeitet, schon gar nicht um diese Zeit. Sie kamen an vielen
dunklen Lagerhallen und Gebäuden vorbei, die Straßenlampen
standen in ziemlich großen Abständen direkt am Kai, auf
dessen Straße sie jetzt fuhren.
Das
Wasser glänzte dunkel und nur vereinzelt passierten sie Schiffe,
die an den Kais lagen. Die wirklich großen Schiffe wurden an
einem anderen Teil abgefertigt, deshalb waren das hier auch nur
kleine Schiffe. Es war die perfekte Gegend gewesen um ihre Sachen zu
verstecken, niemand würde hier nach den gestohlenen
Kunstschätzen suchen.
Hitomi
folgte den beiden vor ihnen bis auf das Gelände eines
stillgelegten Verladebetriebes. Kein Mensch war zu sehen, nur
vereinzelt verbreiteten Lampen ein grelles Licht, deren Schein aber
auch nicht sehr weit reichte. Sie kannte das Gelände, es war von
hier aus nur noch ein kurzer Weg bis zu ihrem Versteck.
Sie
folgte den beiden nicht auf dem Motorrad auf das Gelände, das
wäre vermutlich zu gefährlich geworden. Also stellte sie
die Maschine in einer dunklen Ecke unweit der alten Verladungskräne
ab. Die Gebäude, die zu dem Betrieb gehört hatten, standen
schon eine ganze Zeit leer, und sie sollten demnächst dem Abriß
zum Opfer fallen. Auch die alten Kräne hatte man stehen lassen,
auch sie sollten verschwinden, aber die Stadt ließ sich Zeit
mit dem Abriß.
Sie
schlich sich durch die alten Anlagen, sie wusste in etwa, wohin sie
sich wenden musste. Sie hatte die beiden zu den Kais gehen sehen,
nachdem auch sie das Motorrad am Eingang hatten stehen lassen. Sie
fragte sich, was ihre Doppelgängerin hier wollte, und vor allem,
was für eine Rolle Toshi dabei spielen sollte.
Sie
wurde unruhig, vielleicht war Toshi da ohne es zu ahnen in eine Falle
gelaufen. Doch sie zwang sich zur Ruhe, sie musste jetzt vorsichtig
sein. Auf dem ganzen Gelände waren nur ganz wenige Lampen, doch
die Dunkelheit kam ihr jetzt zugute. Überall lagen noch alte
Stahlträger, Seile, Trossen und rostiges Werkzeug herum, man
hatte es bei der Schließung des Betriebes einfach liegen
gelassen.
Schließlich
stoppte sie abrupt. Sie sah die beiden in der Nähe einer Lampe
am Kai stehen, das Hafenbecken nur wenige Meter von ihnen entfernt.
Sie standen an einem Geländer, das das Land vom Rand des
Hafenbeckens absperrte. Neben der dunklen Ecke, in der Hitomi stand,
führte eine Stahltreppe nach oben, die zu einem Gerüst,
einigen Verladekränen und anderen Anlagen führte. Auch
diese Treppe lag im Dunklen, und von ihrer gegenwärtigen
Position konnte sie die beiden nicht sehr gut beobachten. Von dort
oben würde sie eine bessere Chance haben, also schlich sie sich
über einen kleinen Umweg so leise wie möglich die
Treppenstufen hinauf.
Als
sie anhielt, war sie etwa vier Meter über dem Erdboden und
konnte die beiden Personen, die am Rand des Hafenbeckens standen, gut
sehen. Dabei blieb sie selbst ungesehen im Dunklen verborgen.
Sie
sah, dass die beiden über irgend etwas zu reden schienen, aber
sie konnte aus dieser Entfernung nicht hören, was sie sagten.
Und Toshi schien überrascht zu sein, und ihre Doppelgängerin
redete darauf noch eindringlicher auf ihn ein.
Doch
plötzlich passierte etwas, was Hitomi den Atem stocken ließ.
Toshi sah die Bewegung niemals kommen. Die andere Hitomi griff
blitzschnell unter Toshi’s Jacke und zog seine Pistole aus dem
Halfter. Gleichzeitig verdrehte sie ihm den Arm auf den Rücken,
ehe er auch nur dazu kam an Gegenwehr zu denken. Mit der Waffe in der
anderen Hand bedrohte sie den völlig Überrumpelten, indem
sie ihm die Pistole hart unters Kinn hielt.
Ohne
ihren Griff um seinen Arm zu lockern nahm sie die Handschellen aus
seinem Gürtel, schloß die eine Schelle um das Handgelenk
seiner noch freien Hand, die andere Schelle um einen Eisenstab des
Geländers. Das alles war innerhalb nur ganz weniger Sekunden
passiert, und Toshi hatte nicht den leisesten Hauch einer Chance
gehabt.
Sie
durfte nicht mehr länger warten, sie musste eingreifen. Wie aus
dem Nichts kam die Karte, die wie ein Blitz auf ihr Ziel zuflog und
die Waffe aus der Hand ihrer Doppelgängerin schlug. Die Pistole
flog in weitem Bogen auf den Boden und war nun außer
Reichweite. Die auf diese Weise Entwaffnete schrie leise auf und
wirbelte herum, in die Richtung, aus der die Karte gekommen war.
Dabei ließ sie Toshi’s Arm los, doch er blieb immer noch
an das Geländer gekettet. Dann versetzte sie ihm einen Hieb in
den Nacken, der ihn gegen das Geländer sacken ließ, ihn
aber nicht richtig bewußtlos machte.
Hitomi
zögerte keinen Augenblick mehr und sprang mit einem hohen Salto
von der Treppe runter, sie hatte diesen Sprung schon ungefähr
tausend Mal gemacht, und landete auch völlig sicher. Jetzt war
sie nur wenige Schritte von ihrer Doppelgängerin entfernt und
ging langsam auf sie zu.
Schließlich
standen sie sich beide gegenüber, und als Toshi sie sah, stieß
er einen leisen, erschreckten Schrei aus. Er starrte die beiden wie
versteinert an, seine Reaktion war auch kein Wunder, er sah zwei
Personen, die sich bis auf die Kleidung, die sie trugen, äußerlich
durch nichts unterschieden.
Er
schien zu keinem einzigen Wort zustande zu sein, aber im Moment
musste Hitomi sowieso mehr auf ihr Gegenüber achten. Die falsche
Hitomi lächelte, es war ein kaltes Lächeln, und sagte:
„Gute Arbeit, ich hatte nicht gedacht, dass die Katzen wirklich
so gut sind, wie man immer sagt.“
Hitomi
hielt ihre Augen mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihre
Doppelgängerin gerichtet und antwortete: „Ich habe keine
Ahnung, wer du bist, oder was du von uns willst. Aber ich weiß,
dass du ihn nicht bekommen wirst.“ Bei ihren letzten
Worten deutete sie auf den etwas angeschlagenen und immer noch
wortlosen Toshi.
Das
Lächeln wich nicht aus dem Gesicht der anderen, sie beide
bewegten sich jetzt im Kreis, ohne den anderen auch nur eine Sekunde
aus den Augen zu lassen. „Aber du irrst dich. Ich habe ihn
schon längst. Und auch du wirst mich nicht daran hindern können,
auch wenn du Katzenauge bist!“ In ihren Augen lag ein kalter
Glanz, und automatisch spannte Hitomi ihre Muskeln an.
„Da
wäre ich mir nicht so sicher. Dazu mußt du erst an mir
vorbei!“ Ihre eigene Stimme hatte sich verschärft, und sie
hatte alle Sinne auf die andere gerichtet, die jetzt auch ihre
Muskeln anzuspannen schien. Hitomi wusste, dass es zu einem Kampf
kommen würde.
Jetzt
sagte die andere: „Dann fang schon an zu kämpfen, sonst
muß ich es tun!“ Hitomi sagte oder tat aber nichts,
sondern zog nur die Augenbrauen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, auf
was sie vorbereitet sein musste, es konnte sein, dass die andere
besser war als sie.
Und
dann machte die andere plötzlich einen kurzen Schritt nach
hinten und sprang dann im nächsten Augenblick mit einem Salto
hoch in die Luft und ließ ihr Bein dann zu ihr hinunterrasen.
Doch Hitomi reagierte schnell genug um ihr sicher durch einen
Flickflack rückwärts auszuweichen. Danach standen die
beiden sich wieder genau wie vorher gegenüber, und die andere
meinte, mit einer Spur Anerkennung darin: „Du bist gut, nicht
sehr viele können diesem Kick ausweichen.“ Mit diesen
Worten zog sie ein Springmesser aus der Tasche und ließ es
aufschnappen. Damit kam sie auf sie zu, das Messer zum Zustechen
bereit.
Hitomi
wich ein paar Schritte zurück, zog dann blitzschnell eine
Katzenkarte aus ihrer Tasche und schmetterte ihr damit die Waffe aus
der Hand.
„Ich
bin nicht allzu scharf darauf, Blut zu sehen...!“, knurrte sie
dabei drohend. Doch die andere hatte sich schnell wieder gefangen und
startete einen neuen Angriff. Hitomi konnte der Faust zwar
ausweichen, aber gleichzeitig merkte sie, wie ihr der Boden praktisch
unter den Füßen weggezogen wurde. Sie stürzte zu
Boden, konnte sich aber schnell genug abrollen um einem neuerlichen
Angriff auszuweichen. Jetzt erst wurde ihr bewußt, was die
andere getan hatte. Sie hatte mit einem Fuß ihre Füße
weggefegt. Doch zum Nachdenken kam sie jetzt nicht mehr.
Ihre
eigenen, jahrelang von Chang und von den Aktionen als Katze
trainierten Reflexe reagierten, und sie schlug der anderen die Faust
ins Gesicht, so dass die zurücktaumelte. Doch schon gleich
darauf warf sich die andere ihr mit voller Wucht entgegen, so dass
sie sie beide zu Boden riß.
Hitomi
packte dabei die andere am Kragen und schmiß sie noch im Fallen
über sich rüber. Gleich darauf waren sie beide wieder auf
den Beinen. Hitomi hatte jetzt keine Zeit, auf Toshi zu achten, sie
konnte ihm im Moment sowieso nicht helfen.
Der
Kampf zog sich über die Treppe und ein Gerüst bis auf die
Verladeplattform eines Kranes hin. Beiden sah man die Spuren des
Kampfes an, Hitomi spürte das Blut an ihrem Mundwinkel
herablaufen, und auch die andere hatte Blut im Gesicht. Sie waren
beide ungefähr gleich gut. Sogar darin sind wir gleich!
Sie
hielten beide inne, Hitomi stand mit dem Rücken zum Rand der
Plattform hin, die nicht durch ein Geländer abgetrennt war. Von
da ging es ziemlich tief runter, ungefähr 25 Meter ins schwarze
Wasser, dass sich jetzt direkt unter ihnen befand. Sie atmeten beide
schwer. Es war ziemlich unheimlich gegen ihr Ebenbild zu kämpfen,
aber sie ließ all diese Gedanken jetzt außen vor. Sie
musste sich konzentrieren, denn die andere würde jede Schwäche,
die sie zeigte, gegen sie verwenden.
Doch
im Moment stand auch die andere nur da und sah sie an, die
Augenbrauen zusammengezogen. Eine kleine Weile sahen sie sich nur
schweigend an, dann fragte die andere plötzlich: „Beantworte
mir eine Frage: Warum stehlt ihr immer nur Bilder eines Malers, warum
immer nur die von Heintz?“
Hitomi
war einigermaßen überrascht, sie hatte gedacht, dass die
andere auch darüber Bescheid wusste. Irgend eine Stimme in ihr
sagte ihr, dass sie es ihr sagen sollte.
„Weil
Michael Heintz unser Vater ist, deshalb!“
Für
einen Moment stockte die andere. Sie war überrascht, schien
sogar ein wenig betroffen zu sein. Schließlich sagte sie: „Dann
tut es mir leid!“ Und mit diesen Worten sprang sie mit einem
unglaublichen Sprung aus dem Stand direkt auf sie zu.
Hitomi
sah nur den Schatten auf sich zukommen, und sah auch das
ausgestreckte Bein, das direkt auf ihren Kopf zielte. Der Kick würde
tödlich sein, das war ihr sofort klar. Sie sah die andere wie in
Zeitlupe auf sich zurasen. Ihre Reflexe reagierten sofort
automatisch, sie hechtete zur Seite und landete hart auf dem Stahl
der Plattform. Sie spürte den harten Luftzug an ihrem Kopf. Nur
ganz knapp verfehlte sie der Hieb, der ihr das Genick gebrochen
hätte, wenn sie nicht gerade noch ausgewichen wäre.
Sofort
nach ihrer unsanften Landung drehte sie schon den Kopf, bereit einem
neuen Angriff auszuweichen. Dazu kam es nicht mehr. Ihre
Doppelgängerin hatte damit nicht gerechnet, sie konnte ihren
Körper nicht mehr abfangen. Dann stürzte sie schreiend über
den Rand der Plattform und verschwand in der Tiefe.
Augenblicklich
war Hitomi wieder auf den Beinen und hechtete zum Rand. Sie hörte
aber nur noch den Körper weit unter sich in das schwarze, dunkle
Wasser schlagen, danach war die andere verschwunden und alles war
still...
Hitomi
spähte wie gebannt in das Dunkel, aber es rührte sich
nichts mehr, kein Laut außer dem entfernten Rangieren eines
Kranes und dem Kreischen einiger Möwen. Nichts außer der
dunklen Wasseroberfläche war dort unten zu sehen. Schließlich
wandte sie sich mit einem Schaudern ab, es konnte durchaus sein, dass
man einen solchen Sturz nicht überlebte. Erst jetzt wurde ihr
bewußt, wie verdammt hoch das hier war, es hätte sein
können, dass sie sich hier beide umgebracht hätten.
Sie
wandte sich der Treppe zu, die zu einem Gebäudedach führte,
über das sie auch hier rauf gekommen waren. Im Nachhinein
wunderte sie sich selbst, dass keiner von ihnen beiden ernsthaft
gestürzt war, bis gerade eben.
Sie
musste jetzt erst runter und Toshi von seinen Handschellen befreien,
sie musste ihm auch sicher einiges erklären. Sie stieg
Treppenstufen hinunter, bis sie wieder unten auf sicherem Boden
angekommen war.
Sie
eilte gleich zu der Gestalt hin, die immer noch am Geländer
angekettet war. Er war von dem Schlag immer noch ziemlich benommen
und sah blinzelnd zu ihr auf, als sie die Schlüssel aufhob, die
die andere hatte fallen lassen. Sie trat damit auf ihn zu, und
während sie die Schellen löste, fragte er: „Welche
von beiden bist du...?!“ Sie hörte ihm deutlich den tiefen
Schrecken an, und auch seine Augen sahen sie zutiefst erschrocken an.
Während sie ihm auf die Beine half, sagte sie beruhigend: „Keine
Sorge, ich bin die Echte.“
Sie
fuhr ihm leicht mit einer Hand über die Stirn, als sie leise
hinzufügte: „Ich weiß, die ganze Sache klingt
ziemlich verrückt, aber ich bin nicht sie. Ich werd’s
dir später erklären.“ Er sah sie mit einem langen
Blick an, dann nickte er und sagte: „Ich...ich glaube dir.
Aber...aber, verdammt, was zum Teufel ist dann überhaupt hier
los?! Wenn sie nicht du ist,...wer ist sie dann?!“
„Sie
ist meine Doppelgängerin.“ Er sah sie mit einem
erschrockenen und verwirrten Ausdruck in den Augen an, und sagte dann
mit einer Stimme, die genau dasselbe ausdrückte:
„Was?!...Das...das kann doch gar nicht.“
Sie
unterbrach ihn, indem sie sagte: „Ich verspreche dir, ich werde
es dir erklären, aber wir müssen sie jetzt erst suchen. Sie
ist von einer Plattform ins Wasser gestürzt, aber ich konnte von
da oben nicht genau sehen, wohin sie gefallen ist. Wir müssen
zumindest nachsehen, ich weiß nicht, ob sie den Sturz überlebt
hat.“ Jetzt war er noch mehr verwirrt, als er es vorher gewesen
war, aber er zeigte auf das Wasser, ein Stück weiter links neben
ihnen. Dabei meinte er: „Ich habe jemanden von oben ins Wasser
fallen sehen, ungefähr da.“ Beide gingen in die Richtung,
und er fügte noch hinzu: „Verdammt, ich habe gedacht, dass
du das gewesen bist.“ Seine Stimme verriet seine Angst, die er
gehabt hatte. Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und
meinte lächelnd: „Sie ist nicht ich, sie
sieht nur genauso aus wie ich.“
Bei
der Stelle angekommen, die er gerade eben beschrieben hatte, spähten
beide über den Rand der Kaimauer ins dunkle Wasser, doch sie
konnten auch nach genauem Hinsehen nichts entdecken, nicht die
kleinste Spur.
Nach
kurzer Zeit gaben sie die Suche auf, es war alles ruhig und kein
Mensch außer ihnen war hier. Toshi wandte sich dann Hitomi zu
und fragte: „Kannst du mir jetzt vielleicht mal erklären,
was hier eigentlich läuft?!“
Sie
erzählte ihm, was sich seit Freitag abend zugetragen hatte. Als
sie fertig war, sah er sie für einen Moment noch verwirrter als
vorher an, dann schüttelte er nachdenklich den Kopf und meinte:
„Das hätte verdammt schief gehen können. Wenn Assayah
vorher nicht schon mißtrauisch war, dann ist sie es jetzt ganz
sicher. Aber was mir nicht klar ist: was wollte diese Doppelgängerin
eigentlich von euch?!“
„Das
wissen wir eben auch nicht, aber es würde schon helfen, wenn du
mir sagst, was sie von dir wollte.“
„Sie
sagte am Bahnhof etwas davon, dass sie mir etwas zeigen wollte, und
ich habe sie nicht gefragt was, weil ich dich schließlich
kenne. Zumindest dachte ich das, bis sie mir den Arm auf den Rücken
verdrehte. Sie wollte von mir das Paßwort für den Safe
erfahren, und sie hat mir nicht geglaubt, als ich gesagt habe, dass
ich es auch erst morgen erfahre.“
Also
hatte ihre Doppelgängerin doch nicht so genau Bescheid gewußt,
wie sie gedacht hatten. Zumindest hatte sie nicht geglaubt, dass
Toshi das Paßwort wie die anderen Polizisten auch erst morgen
erfahren würde. „Aber es kann ihr nicht allein um das
Paßwort gegangen sein, wegen eines einzelnen Bildes macht man
sich nicht so viel Aufwand. Da steckt noch mehr dahinter.“,
meinte nun Hitomi nachdenklich.
Er
sah sie jetzt ein wenig besorgt an und meinte: „Aber wenn sie
tatsächlich noch lebt, wird sie vielleicht morgen trotzdem
versuchen an das Bild eures Vaters heranzukommen, auch wenn sie das
Paßwort nicht hat. Seid bloß vorsichtig, sie könnte
euch in die Quere kommen.“
Jetzt
lächelte sie und meinte: „Mach dir keine Sorgen, wir
werden schon vorsichtig sein. Aber du hast recht, man sollte sie
wirklich nicht unterschätzen, sie ist ziemlich gut.“ Ein
Lächeln legte sich auch über sein Gesicht, als er darauf
meinte: „Sie ist dir ähnlicher, als du zugeben willst.
Dich sollte man auch nicht unterschätzen. Und ich weiß
ganz genau, wovon ich rede, Katzenauge...!“
Er
strich ihr sanft eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn und
küßte sie, sie legte ihre Hände um seinen Nacken und
erwiderte den leidenschaftlichen Kuß. Dann ließ sie ihn
mit einem Lächeln wieder los und meinte: „Komm, wir
sollten nach Hause fahren. Love macht sich bestimmt schon Sorgen.“
„Aber
was ist mit ihr?“, fragte er, während er hinter sich aufs
Wasser deutete. „Wir können im Moment nichts tun. Wenn sie
wirklich tot ist, wird man sie finden. Das wird dann zwar einige
unangenehme Fragen geben, aber das können wir nicht ändern.“
Er
nickte zustimmend, hob seine Dienstwaffe vom Boden auf und steckte
sie zurück in sein Halfter. Dann verließen beide das
menschenleere Gelände. Während sie zu ihrem Motorrad
gingen, fragte Hitomi ihn: „Wo hattest du eigentlich dein Handy
gelassen, ich habe versucht dich in Osaka zu erreichen.“
Er
zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern und meinte: „Ich
hatte es den größten Teil der Zeit gar nicht bei mir. In
dieser Beziehung bin ich wohl kein sehr profihafter Polizist, oder?!“
„Aber
dafür in allen anderen Bereichen.“, meinte sie lächelnd
und fügte noch hinzu: „Obwohl du uns nie wirklich erwischt
hast.“ Ein leicht schelmisches Grinsen lag bei ihren letzten
Worten um ihre Mundwinkel. Er nahm seine Handschellen aus dem Gürtel
und ließ die Schellen vielsagend gegeneinander schlagen, dabei
meinte er ebenfalls grinsend: „Aber jetzt könnte ich es
tun. Immerhin habe ich dich sozusagen in flagranti erwischt.“
Sie
schlug ihm leicht einen Ellbogen in die Seite und meinte lächelnd:
„Ich hoffe, ich muß jetzt nicht vor dir weglaufen, damit
du mich nicht einsperrst.“ Seine Züge wurden ernster, als
er antwortete: „Nein, jetzt nicht. Aber morgen wirst du es tun
müssen.“
Ja,
morgen würde sie als Katze vor ihm stehen und nicht als seine
Freundin, zumindest nicht seinen Kollegen gegenüber. Denn
natürlich wussten sie beide und ihre Schwestern, wie sie
wirklich zueinander standen, aber niemand sonst durfte je davon
erfahren, sonst war es nicht nur um die Katzen geschehen, sondern
auch um seine Freiheit. Und das durften sie alle nie vergessen. Sie
mussten höllisch aufpassen, noch dazu, wo sie jetzt Assayah noch
stärker im Genick hatten als vorher.
Doch
sie wussten alle, dass sie der Wahrheit um ihren Vater und sein
Verschwinden so nah waren wie noch niemals zuvor, und sie mussten
sich beeilen um Berger und damit vielleicht auch ihren Vater endlich
zu finden, sonst konnte es schon zu spät sein.
Denn
es schien fast so, je mehr Zeit seit jenem Tag 1981 verging, desto
dünner wurde die Spur, die zu dem Grund um sein Verschwinden und
damit auch zu ihm selbst führte. Sie waren sicher, dass er noch
lebte, aber allzu viel Zeit um ihn zu finden blieb ihnen nicht mehr.
Berger wollte - so schien es - nicht mehr viel Zeit verschwenden.
Auch wenn es jetzt schon so lange her war, seit sie ihren Vater zum
letzten Mal gesehen hatte, wusste sie ganz genau, dass sie ihn finden
würden. Nur mussten sie ihn lebend finden, diese Chance wurde
zwar mit jedem Bild und jedem Hinweis, den sie erhielten, größer,
aber auch die Zeit wurde mit jedem Tag knapper.
Diese
Gedanken spukten innerhalb weniger Sekunden durch ihr Gehirn, doch
Toshi sah ihr genau an, was sie dachte. Auch er wusste, dass den
Katzen nicht mehr sehr viel Zeit blieb. Er versuchte ihnen zu helfen,
wo er nur konnte, und nichts würde für ihn mehr Belohnung
sein, wenn sie es wirklich schaffen würden. Wenn sie ihren Vater
wirklich finden würden und die ganze Sache mit Katzenauge
endlich beenden konnten. Es war ein verdammt gefährliches Spiel,
das die drei Schwestern da spielten, aber er wusste inzwischen, dass
es schon seit vielen Jahren kein Zurück mehr gab.
Als
er noch einmal genauer darüber nachdachte, erschrak er noch
einmal, wie sehr er seine Freundin hatte verwechseln können. Er
hatte gedacht, dass sie absolut unverwechselbar war - und er dachte
das immer noch. Doch es war erschreckend, wie perfekt diese andere
Frau Hitomi hatte kopieren können, nicht nur im Aussehen,
sondern auch in der Sprache, dem Gang, der Haltung oder allem
anderen.
Aber
vielleicht nicht diesen leichten anderen Klang der Wörter, den
sie manchmal - meistens ganz unbewußt - in ihre Stimme mit
hineinlegte. Früher war ihm das nie aufgefallen, und es konnte
auch keinem auffallen, der nicht wusste, um was es sich handelte. Es
rührte von ihrer teilweisen deutschen Herkunft her, denn obwohl
sie in Japan aufgewachsen war, hatten sie und ihre Schwestern bis zum
Verschwinden ihres Vaters noch oft mit ihm deutsch gesprochen. Die
drei sprachen untereinander zwar seitdem nicht mehr so häufig in
der Landessprache ihres Vaters, aber sie hatten es dennoch nicht
verlernt.
Es
war manchmal schon komisch - und auch seltsam - was ihm an dieser
Frau, die er gemeint hatte so gut zu kennen, auffiel. Was sie
ausmachte, wer sie wirklich war. Und dann fragte er sich immer
wieder, wie er so blind hatte sein können - und auch hatte sein
wollen, das doch eigentlich Offensichtliche nicht zu sehen. Es kam
manchmal vor, dass er sie ansah und feststellte, dass sie es wieder
geschafft hatte, ihn total zu überraschen. Es war wie eine
Entdeckungsreise, die von Tag zu Tag neu begann. Natürlich
kannte er sie jetzt schon sehr, sehr gut, obwohl er wusste, dass es
noch einiges gab, das er nicht wusste.
Er
vertraute ihr so vollkommen, wie er noch niemals einem anderen
Menschen vertraut hatte, und sie wusste das.
Gleich
darauf saß er hinter ihr auf der Maschine, während sie
durch den abendlichen Verkehr fuhren. Sie hatte bei dem Kampf mit
ihrer Doppelgängerin auch einiges einstecken müssen, und es
war wieder geradezu erschreckend, wie sich diese beiden Personen
glichen, selbst in ihren Fähigkeiten. Er war immer noch ziemlich
verwirrt, obwohl Hitomi ihm ja erzählt hatte was während
der letzten Tage hier vorgefallen war. Er konnte sich gut vorstellen
was das für einen Schrecken für sie bedeutet haben musste,
als sie urplötzlich ihrem fast perfekten Spiegelbild
gegenübergestanden hatte. Sie hatte jetzt sogar mit ihr einen
ziemlich heftigen Kampf ausgefochten, auch wenn sie am Ende gewonnen
hatte. Doch wenn die andere so gut war, wie Hitomi gesagt hatte,
hätte es auch anders kommen können.
Es
war so, wie sie erwartet hatten. Love war in heller Aufregung, als
sie ihre Schwester mit Toshi zur Tür hereinkommen sah. Sie hatte
über den Sender, der immer an jeder ihrer Maschinen angebracht
war den Standort des Motorrades orten können, und den Weg, auf
dem Hitomi ihre Doppelgängerin quer durch die Stadt verfolgt
hatte.
Als
sie hörte, was passiert war, zog sie besorgt die Augenbrauen
zusammen, und Hitomi wusste, dass sie sich mindestens genauso große
Sorgen machte wie sie selbst. Es paßte alles absolut nicht ins
Bild, vor allem, weil die entscheidende Fragen ungeklärt
geblieben waren. Wer war die Doppelgängerin, warum war sie hier
und wer steckte noch hinter dem Ganzen?
Sie
hatten keine Ahnung ob sie lebte oder bei dem Sturz umgekommen war.
Und wenn sie tatsächlich noch lebte, was würde sie jetzt
tun? Sie würde doch nicht einfach nur so herumsitzen und gar
nichts tun, jetzt wo ihr vordergründiges Vorhaben gescheitert
schien. Doch Hitomi hatte immer mehr das Gefühl, dass die Leute
der Gruppe, oder zumindest ihre Handlanger, ihre Finger im Spiel
hatten. Weswegen wusste sie nicht, vielleicht waren sie ihnen zu
dicht auf den Pelz gerückt. Und das würde bedeuten, dass
sie dichter an der Lösung und am Ziel dran waren als sie gedacht
hatten. Es war zwar nur eine Vermutung, und sie wusste nicht, ob sie
diese plötzliche Aktion der Leute - wenn sie es tatsächlich
waren - freute oder sie eher erschreckte.
Später
am Abend dachte Hitomi noch einmal über alles nach, was passiert
war. Toshi hatte sich verabschiedet, nachdem sie einen Plan für
morgen abgesprochen hatten. Sie wusste, dass er sie nicht gerne
allein ließ, weil er sich Sorgen um sie machte. Ihm war nur zu
gut bewußt, in was für eine Gefahr sie sich zusammen mit
ihren Schwestern bei jeder einzelnen Aktion begab. Er wusste auch
genauso gut, dass sie damit fertig wurden, selbst wenn es gefährlich
war.
Doch
das hier war etwas anderes, es war eine andere Art von Gefahr. Sie
war dunkler, geheimnisvoller, und damit auf ihre Art gefährlicher
als alle anderen Gefahren, denen sie bisher gegenübergestanden
hatten. Diese Doppelgängerin war an sich schon ein einziges
Rätsel, und die Leute, die vermutlich hinter ihr standen, waren
äußerst skrupellos.
Eine
ganze Weile saß sie so da und rief dann ihre Schwester und
Herrn Nagaishi in Kobe an um ihnen die neusten Ereignisse
mitzuteilen. Auch deren beiden Reaktionen waren so, wie sie es
erwartet hatte. Es war eigentlich auch nicht schwer gewesen sich die
Reaktion auf solche Ereignisse vorzustellen, zumal Hitomi die beiden
nun sehr gut kannte.
Die
beiden waren noch nicht fertig in Kobe, die entscheidenden
Informationen über die nächste in Aussicht gestellte Aktion
fehlten noch, schienen aber ganz nah in Reichweite zu sein. Aber sie
würden nicht vor Dienstag wieder in Tokio sein können, wenn
sie die Sache noch zu Ende bringen wollten. Obwohl alle - besonders
Nami, die sich große Sorgen um ihre jüngeren Schwestern
machte - nicht glücklich waren mit der Entscheidung, kamen sie
überein, dass es alles so verlaufen sollte, wie sie es geplant
hatten.
Am
selben Abend noch lag Nami auf dem Bett ihres Hotelzimmers in Kobe
und dachte über das nach, was ihre jüngere Schwester ihnen
am Telefon gesagt hatte. Der Tag war ziemlich anstrengend verlaufen,
sie hatten den halben Tag das Ziel beobachtet und die andere Hälfte
des Tages damit zugebracht, einen Plan auszuarbeiten.
Ihre
Schwester hatte also einen ziemlich heftigen Kampf mit ihrer eigenen
Doppelgängerin gehabt, und sie hatte gewonnen. Doch es hätte
auch anders kommen können, und unter Umständen sah die
Doppelgängerin ihrer echten Schwester so ähnlich, dass der
Unterschied dann noch nicht mal jemandem sofort aufgefallen wäre.
Das war ein reichlich makaberer Gedanke, aber er barg auch eine
gewisse Ironie in sich. Sie machte sich längst nicht so viele
Sorgen darum, ob sie das Gemälde ihres Vaters bekommen würden,
sondern eher darum, dass etwas gewaltig schief laufen konnte, und
dass ihre Schwestern in einer Gefahr waren, die sie alle noch nicht
einmal erahnen konnten.
Diese
Doppelgängerin könnte von den Leuten geschickt worden sein
um...was auch immer zu tun oder zu beobachten. Entweder war sie jetzt
wirklich tot und hatte ihren Auftrag nicht mehr ausführen
können, oder sie lebte noch, und dann konnte es unter Umständen
zu verdammt ernsten Schwierigkeiten kommen. Und die konnten sie noch
nicht einmal abschätzen, weil sie alle immer noch keine Ahnung
hatten um was es hier eigentlich ging.
Die
Sache jetzt hatte Ähnlichkeit mit der Sache um Katzenauge und
das Verschwinden ihres Vaters überhaupt. Es war eine Art
Puzzlespiel, man musste sorgfältig Stück für Stück
des Puzzles zusammentragen und durfte dabei so gut wie keinen Fehler
machen. Während man spielte, hatte man immer noch keine genaue
Ahnung was am Ende für ein Bild dabei entstehen würde. Und
deshalb war es ein so gefährliches Spiel, das war es von Anfang
an gewesen. Nur am Anfang hatten sie noch gar nicht richtig
abschätzen können, was sie jetzt wussten.
Es
hatte Jahre gedauert all ihr Wissen, das sie jetzt hatten,
zusammenzutragen. Was sie dabei herausgefunden hatten, war
erschreckender als alles andere in ihrem Leben zuvor gewesen. Aber
sie konnten noch hoffen, und das war das wichtigste.
Es
war Montag nacht, Love sah ihrer älteren Schwester die
Anspannung deutlich an - nicht, dass es ihr selbst anders ging.
Bis
jetzt war alles ganz ruhig und vollkommen nach Plan verlaufen, nicht
ein einziges Zeichen hatten sie von einer eventuellen Anwesenheit der
falschen Hitomi bekommen. Doch die Anspannung würde nicht
weichen, bis sie die Sache glücklich über die Bühne
gebracht hatten. Die Aktion war schon schwierig genug gewesen bevor
diese Doppelgängerin aufgetaucht war, und sie durften sich hier
keinen Fehler erlauben. Love schnitt mit einem Kabelschneider das
letzte Kabel hinter der Wandverkleidung durch, und jetzt begann der
eigentliche Teil der Aktion, jetzt wurde es gefährlich.
Einige
Zeit später war alles gelaufen. Es hatte einen wilden Aufruhr
unter den bewachenden Polizisten gegeben, als die bemerkt hatten,
dass sie vollkommen ausgetrickst worden waren - schon wieder. Und
beide Schwestern hatten sich mit einem siegesgewissen Lächeln
angesehen, als sie, Hitomi das Bild in den Händen, so
verschwunden waren, wie sie gekommen waren. Unaufhaltsam.
Aber
Toshi war früher als die anderen Polizisten dagewesen. Das war
auch kein Wunder, er kannte schließlich ihren Plan. Aber,
selbst wenn er das gewollt hätte, auch er hätte sie nicht
fangen können. Und er hatte Hitomi, die sich noch kurz zu ihm
umgedreht hatte, mit einem Grinsen signalisiert, dass alles in
Ordnung war. Ja, soweit war wirklich alles in Ordnung. Bis jetzt.
Bis
jetzt war noch rein gar nichts von ihrer Doppelgängerin zu sehen
gewesen, aber sie mussten weiterhin auf der Hut sein. Hitomi konnte
sich einfach nicht vorstellen, dass, wenn sie überlebt hatte,
sie nicht hier sein würde. Sie spannte all ihre Sinne an,
während sie ihrer Schwester in den Tunnel folgte, zurück zu
ihren Motorrädern, die sie in einem Waldstück unweit von
hier stehengelassen hatten. Noch war die Show nicht vorbei, und sie
mussten auf alles vorbereitet sein.
Doch
nichts geschah. Rein gar nichts rührte sich. Sie kamen
unbehelligt zu ihren Maschinen, und es folgte ihnen auch niemand auf
ihrem Weg nach Hause. Sie sahen sich mehrmals und gründlich um,
aber immer noch war rein gar nichts zu sehen. Und langsam glaubte
Hitomi, dass ihre Doppelgängerin wirklich nicht dort gewesen
war. Vielleicht war sie doch umgekommen, und man hatte ihre Leiche
nur noch nicht gefunden. Aber das war eher unwahrscheinlich. Toshi
hatte sich mehrmals bei seinen Kollegen bei der Wasserschutzpolizei
erkundigt, aber dort hatte man keine Leiche aufgelesen. Es begann,
irgendwie unheimlich zu werden.
Weder
Hitomi, noch Love oder Toshi hatten die blitzenden grünen Augen
bemerkt, die jeden der Schritte der Katzen überwacht hatten. Sie
war ihnen nicht gefolgt, weil sie sowieso wusste, wohin sie wollten.
Seit sie von dieser Verladeplattform aus ins Wasser gestürzt
war, hatte sie sich versteckt gehalten. Sie hatte in ihren Jahren
beim französischen Geheimdienst gelernt, wie man ohne Spuren zu
hinterlassen untertauchte, sozusagen verschwand. Das konnte sie so
gut, dass nicht einmal diese Leute sie finden konnten. Sie hatte
nicht viele Freunde hier in der Stadt, sie war zuvor auch nur ein
einziges Mal hier gewesen.
Inzwischen
hatte sie ihre ursprüngliche Haarfarbe wieder angenommen und
hatte auch die kleinen kosmetischen Tricks, die der Visagist
zusätzlich zu ihren operativen Veränderungen angewandt
hatte, entfernt. Jetzt sah die Frau mit dunkelblondem Haar, ohne
gefärbte Kontaktlinsen und das andere Zeugs dem echten Vorbild
schon gar nicht mehr so ähnlich. Obwohl immer noch eine große
Ähnlichkeit zwischen ihnen bestand. Es war manchmal schon
verwunderlich, was Gott und die Chirurgen alles so bewirken konnten.
Sie
hatte nicht damit gerechnet von dieser Frau besiegt zu werden, sie
war besser, als sie gedacht hatte. Nachdem sie in dieses um die
Jahreszeit schon reichlich kalte Wasser eingetaucht war, hatten ihre
in Jahren des Training geformten Instinkte reagiert und sie heil aus
dieser Sache rausgebracht. Ihre Instinkte hatten verhindert, dass sie
bewußtlos wurde und ertrank. Und sie hatten erreicht, dass sie
ohne Luft zu holen unter Wasser weiterschwimmen konnte, bis sie
geglaubt hatte in einer sicheren Entfernung zu sein.
Als
sie sich dann aus dem Wasser gezogen hatte, hatte sie einige
stechende Schmerzen in ihren Rippen und Armen und Beinen gespürt,
aber die Schmerzen auf später verschoben. Zuerst hatte sie daran
gedacht zurückzulaufen und Hitomi zu überraschen, obwohl
sie bezweifelte, dass ihr das bei der Frau gelungen wäre. Sie
war auch wirklich zurückgeschlichen und hatte sie mit ihrem
Freund, diesem Detective, am Kai stehen sehen. Er schien immer noch
unter einem leichten Schock zu stehen, und sie schien ihm etwas zu
erklären. Dann hatte sie in ihre Richtung gezeigt, die Richtung,
in der sie unter der Wasseroberfläche verschwunden war.
Sie
hatten am Kai gesucht, aber natürlich nichts und niemanden
gefunden. Sie hatte für sich entschieden, dass sie an diesem
Abend und in ihrer Verfassung keinen Kampf mehr mit dieser Katze
gewinnen würde. Also hatte sie es bleiben lassen und war in der
Dunkelheit verschwunden.
Diese
Katzen waren verdammt gut, noch viel besser, als man sagte. Sie hatte
sich zwar schon vorher intensiv mit ihnen beschäftigt, aber ihre
Aktion heute war selbst für sie etwas ungewöhnliches. Wie
waren die bloß auf dieses alte Abflußrohr gekommen, dass
doch eigentlich überhaupt nicht existierte und von dem niemand
etwas wusste?!
Sie
zogen ihre Aktionen auch sehr profihaft ab, auch wenn sie anscheinend
einen „Informanten“ bei der Polizei hatten, diesen
Detective Uzumi. Sie fragte sich, warum er seine Karriere und seine
Freiheit für eine derartige Sache aufs Spiel setzte. Vermutlich
war es aus Liebe zu ihrem alter Ego, der wirklichen Hitomi.
Sie
hatte stundenlang in ihrem Motelzimmer auf dem Bett gelegen, die
Fenster durch die dicken Vorhänge verdunkelt, nur eine einzige
Lampe am Nachttisch als Lichtquelle in dem kleinen Raum. Sie hatte
sich bei dem Aufprall eine Rippe geprellt. Aber der Arzt, dem sie
selbstverständlich einen falschen Namen angegeben hatte, hatte
gesagt, das würde schnell wieder heilen. Was ihr erheblich mehr
Sorgen gemacht hatte, war die plötzliche und vollkommen
unerwartete Wende, die der Fall genommen hatte. Sie konnte sich ihres
Lebens nicht mehr sicher sein, sie war klug genug um das zu wissen.
Ihr Auftrag war zwar nicht fehlgeschlagen - zumindest noch nicht -
aber sie würde ihn nicht mehr zuende ausführen. Nicht nach
dem, was da oben passiert war.
Jetzt
bohrten sich ihre grünen Augen in die Dunkelheit und machten
schließlich die beiden Schatten aus, die katzengleich aus dem
Dickicht zu ihren im Gebüsch verborgenen Motorrädern
liefen. Die größere von beiden, Hitomi, trug das Bild
unter dem Arm. Die Schwestern schienen beide ihre Sinne bis aufs
äußerste angespannt zu haben, aber sie war zu tief und zu
gut im Unterholz verborgen. Sie lächelte in sich hinein, nein,
heute würden sie sie nicht zu sehen kriegen.
Es
war Dienstag, und Hitomi wollte des Gelände der Universität
gerade verlassen, als Reiko von hinten auf sie zugelaufen kam.
„Hitomi, warte!“ Die Gerufene blieb stehen und wartete,
dass ihre Freundin sie erreichte.
Reiko
hielt außer ihrer Tasche noch etwas anderes in der Hand, einen
Umschlag. Und sie zeigte damit in ihre Richtung, als sie bei ihr
ankam.
„Hitomi,
jemand hat mir das hier gerade gegeben und gesagt, dass ich es dir
geben soll.“ Sie gab ihr einen weißen Briefumschlag,
nichts stand drauf, kein Absender, nichts.
„Wer
hat dir das gegeben?“, fragte sie, während sie den Brief
prüfend in der rechten Hand wiegte.
Reiko
zuckte mit den Achseln. „Eine Frau, blonde Haare und eine
Sonnenbrille auf. Mehr habe ich von ihr nicht gesehen, sie stand im
Schatten.“ Sie schwieg kurz, und als Hitomi nur nickte und
nichts erwiderte, fragte ihre Freundin leicht besorgt: „He, ist
alles in Ordnung?“
Hitomi
nickte geistesabwesend und riß sich dann zusammen und meinte,
während sie den Brief immer noch in der Hand wiegte. „Ja,
ja, alles in Ordnung.“
Reiko
kannte ihr Freundin gut genug, um da nicht weiter nachzuhaken. Wenn
sie in Schwierigkeiten steckte, würde sie es ihr schon von
selbst sagen. Sie verabschiedete sich und lief schneller, um ihre
letzte Vorlesung für diesen Tag nicht zu verpassen.
Hitomi
wandte sich auch ab und machte sich auf den Weg zur U-Bahnstation,
sie war für heute fertig mit dem Unterricht. Sie öffnete
den Umschlag, und fand eine handgeschriebene Notiz darin.
Heute
abend
21.00Uhr
Charlie’s
Bar, Shibuya
Allein.
ES IST WICHTIG!
Dein
alter Ego
Hitomi
wusste nicht, was sie davon halten sollte. Erst wollte sie sie töten,
jetzt mit ihr reden. Das roch förmlich nach einer Falle. Aber
noch während sie die Treppen zur U-Bahnstation hinunterstieg,
wurde ihr klar, dass sie nur so an Informationen herankommen konnten,
über das, was wirklich hier vorging.
Sie
wettete, dass Nami nicht allzu begeistert davon gewesen wäre,
aber auf jeden Fall wäre sie schließlich zur gleichen
Erkenntnis gelangt. Die Ankunft ihrer älteren Schwester und
Herrn Nagaishi hatte sich auf Morgen früh verschoben, und sie
gedachte nicht, bis dahin tatenlos hier herumzusitzen. Noch dazu, wo
es augenscheinlich eine Erklärung für das ganze Spiel
liefern konnte.
Sie
kannte die Bar, zu der sie kommen sollte, sie war schon einmal dort
gewesen. Das war nicht unbedingt die beste Gegend da, eher eine der
schlechteren, aber es war anscheinend der einzige Weg an
Informationen zu kommen.
Wie
sie erwartet hatte, war Love auch ihrer Ansicht, wenn sie sich auch
Sorgen um ihre Schwester machte. Das konnte verdammt leicht zu einer
tödlichen Falle für ihre Schwester werden, immerhin hatte
ihre Doppelgängerin schon einmal versucht sie umzubringen. Aber
auch sie sah ein, dass es keinen anderen Weg gab endlich zu erfahren,
was hier gespielt wurde.
Hitomi
betrat am selben Abend die Bar, in Jeans, Lederjacke und
Lederstiefeln. Sie kannte sich hier noch relativ gut aus, und sie
hatte ihren letzten Besuch in dieser Bar auch noch besser in
Erinnerung, als ihr lieb war. Sie war damals, über ein Jahr war
das jetzt her, hier gewesen um Informationen für eine anstehende
Aktion einzuholen. Die Infos hatte sie auch bekommen, war aber in
eine Schlägerei hineingeraten. Vielmehr hatte sie einem
betrunkenen Kerl Manieren beigebracht und hatte sich dann auch noch
mit seinen vier Kumpanen auseinandersetzen müssen. Der Wirt
hatte ihr geholfen, obwohl sie sie auch allein erledigt hätte.
Auch noch einige andere Gäste waren in die Prügelei mit
eingefallen, und so hatte sich sehr schnell eine heftige Schlägerei
entwickelt. Bis die Polizei ankam, war ein Großteil des
Mobiliars von den Betrunkenen in Stücke geschlagen worden, und
sie selbst war in der allgemeinen Aufregung unbemerkt aus der Bar
verschwunden. Es hätte sicherlich einige verdammt unangenehme
Fragen von Toshi gegeben, wenn er von seinen Kollegen erfahren hätte,
dass seine Freundin in eine heftige Schlägerei in einer solchen
Gegend verwickelt gewesen war.
Heute
würde er nur Lächeln, obwohl mit etwas Besorgnis ins seinem
Blick. Er wusste, weshalb sie das taten, und er vertraute ihr.
Der
Innenraum der dunklen Bar hatte eine neue Möblierung erhalten,
die Tische waren relativ gut besetzt, und die Luft war durchzogen von
Rauchschwaden und dem Geruch von ziemlich billigem Alkohol. Sie ging
quer durch den Raum, der nur ziemlich schwach erleuchtet war von den
wenigen Lampen an den Wänden und einigen an der Bar aus
poliertem Eichenholz. Und der Mann, der dahinter stand, sah sie mit
einem wenig freundlichen und mißtrauischen Blick an, er
musterte sie. Er erkannte sie wieder.
„Was
wollen Sie?“, fragte er sie mit einer tiefen, alkoholschweren
Stimme. Sie lehnte sich gegen den Tresen. „Am Anfang würde
mir ein Bier schon reichen.“
Mit
einem kurzen Schnauben gab er ihr eine Flasche. Während sie sie
zur Hälfte leer trank meinte er: „Was Sie das letzte Mal
angezettelt haben, hat mich beinah meine Existenz gekostet.“
„Dann
sollten Sie das nächste Mal solche Leute aus ihrem Laden hier
fernhalten. Ich habe irgendwie eine Abneigung gegen solche Typen
entwickelt.“
Der
Wirt sah sie mit einem Blick an, als überlegte er, ob er sie
rausschmeißen oder sie zusammenschlagen lassen sollte. Doch zu
einer Entscheidung kam er nicht, als nämlich noch eine zweite
Person an den Tresen neben Hitomi trat. Auch sie trug eine
Lederjacke, und als der Wirt sie sah, klappte er seinen Mund wieder
zu, den er gerade zum Sprechen geöffnet hatte. Die eine Frau sah
der anderen bis auf die blonden Haare beinah zum Verwechseln ähnlich.
Hitomi spannte automatisch die Muskeln an, auch wenn sie eigentlich
hier keinen Kampf erwartete. Der Wirt schüttelte den Kopf und
wandte sich dann seinen anderen Gästen zu.
Sie
wandte sich dann Hitomi zu und meinte: „Die Umgebung hier ist
vielleicht nicht ganz passend, aber ich hoffe, dass du mir trotzdem
zuhörst.“
„Am
Sonntag wolltest du noch kämpfen, jetzt willst du plötzlich
reden. Ist irgend etwas passiert in der Zwischenzeit?!“, fragte
Hitomi mit einem sarkastischen Hochziehen der Augenbrauen.
Zu
ihrer Überraschung wurde die andere nicht wütend, obwohl
sie den sarkastischen Ton in ihrer Stimme nicht überhört
haben konnte. Es war komisch, sie schien sich innerhalb von Tagen
irgendwie verändert zu haben, und das nicht nur in ihrem
Aussehen.
Ihr
alter Ego sah sie für einen Moment an, dann wandte sie den Blick
wieder ab und antwortete: „Ja, es ist etwas passiert, und ich
wäre glücklicher, wenn ich meinen Auftrag einfach so hätte
erledigen können.“
Aha,
sie war also wirklich geschickt worden. Fragte sich nur, von wem.
„Und was war dein Auftrag? Mich umzubringen?“
Die
andere nickte. „Ja, das auch. Aber das war nur Nebensache, es
ging ihnen viel mehr darum, dass ich Katzenauge überwache. Das
Bild sollte nur als Köder dienen.“ Warum sollte sie sie
überwachen? Und Sie antwortete wieder, als Hitomi diese Frage
laut ausgesprochen hatte.
„Ich
bin keine Japanerin, das wirst du ja schon gemerkt haben.
Ursprünglich komme ich aus Frankreich, und dort habe ich einige
Jahre für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Dann
bin ich von jemandem angesprochen worden, der hat mir diesen Auftrag
hier angeboten. Am Anfang war nur von einer Überwachung die
Rede, und davon, dass ich dieses Heintz-Gemälde stehlen sollte.
Ich habe den Auftrag angenommen, weil ich von dort weg wollte, und
das schien sowas wie ‘ne gute Gelegenheit zu sein. Ich habe
dann aber herausgefunden, dass ich hauptsächlich ausgesucht
wurde, weil ich dir durch irgend einen Zufall ähnlich sehe. Und
dass ich dich töten sollte, um unbemerkt deinen Platz
einzunehmen, zumindest für eine kurze Zeit. Dann, wenn ich alles
herausgefunden hätte, was ihr wißt, und wo ihr diese
Gemälde aufbewahrt; dann sollte ich einfach untertauchen und
verschwinden, um ihnen Bericht zu erstatten. Damit wäre die
Sache gelaufen gewesen.“
Hitomi
war jetzt immer noch einigermaßen verwirrt. Es waren noch sehr
viele Fragen offen. „Aber wer sind ‘die’?“
Und eine Sekunde später fügte sie hinzu: „Es sind die
Leute, die unseren Vater verfolgen, nicht wahr?!“
„Ja,
aber das ist mir erst klar geworden, als du es mir auf dieser
Plattform gesagt hast. Vorher wusste ich nur, dass ihr denen
irgendwie zu dicht auf den Pelz gerückt wart, und deshalb sollte
ich euch überwachen und alles rauskriegen, was ihr wißt.“
„Und
weshalb führst du deinen Auftrag nicht zuende?“
„Weil
ich euren Vater gekannt habe, deshalb. Ich wusste aber nicht, dass
ihr seine Töchter seid, ich wusste ja noch nicht einmal, dass er
überhaupt Kinder hatte.“
Das
hatte gesessen. Hitomi fühlte sich, als hätte ihr jemand
mit einem Hammer gegen den Kopf geschlagen. Sie kannte ihn?
„Wie...wie
kann das möglich sein?“, fragte sie, noch nicht ganz fähig
vollständige Sätze zu bilden. Ihr alter Ego senkte ein
wenig den Blick und meinte: „Vor meinen Tagen beim Geheimdienst
war ich zwei Jahre genau das, was ihr auch seid. Ein Dieb.“ Sie
führte das nicht näher aus, sondern fuhr mit stärkerer
Stimme als vorher fort: „Wie auch immer,...in dem Sommer, indem
euer Vater verschwunden ist, war ich in Bern auch in einer Nacht bei
ihm. Er war ein Sammler, und so...na ja, es bot sich halt an. Aber
die Sache ist schief gelaufen, er hat mich erwischt. Er hätte
mich der Polizei ausliefern können, aber er hat es nicht getan.
Er hat einfach gesagt ich solle verschwinden, dann würde er
vergessen, was passiert ist. Wenige Tage später ist er spurlos
verschwunden.“
Hitomi
war ziemlich verwirrt. Das konnte einen ja verrückt machen. Sie
sah ihr selbst nicht nur ähnlich, sondern hatte als Dieb auch
noch ihren Vater kennengelernt. Wenn auch in einer etwas seltsamen
Lage. Aber damit waren noch nicht alle Fragen beantwortet.
„Und
als ich dir gesagt habe, dass er unser Vater ist.“ Sie ließ
den Satz unbeendet, und Sie meinte darauf: „...ist mir klar
geworden, weshalb ihr das tut, und wer meine Auftraggeber waren.“
Sie
sah die Fragen in den Augen ihres Gegenübers und fuhr fort:
„Diese Leute verfolgen euren Vater, und das seit sehr langer
Zeit.“ Hitomi nickte und ließ sie weiterreden. „Ich
weiß, wer diese Leute sind, und wo sie sind, zumindest einige
von ihnen. Und wenn sie herauskriegen, dass ich euch das sage und
dass ich meinen Auftrag nicht ausführe, werden sie mich töten.“
Während
der nächsten Minuten hörte Hitomi immer fassungsloser
werdend alles, was Sie über diese Leute wusste. Sie wusste, wo
Berger sich aufhielt, wo von Kapp war, und...
„Ich
weiß, dass euer Vater wieder in der Schweiz ist. Er ist dicht
davor Beweise zu finden, und wenn er die hat, kann er sie überführen.
Und sie werden lebenslang hinter Gitter wandern. Auch ihr seid ihnen
schon zu dicht auf den Pelz gerückt. Ihr seid nahe dran sie zu
finden. Ihr wißt zu viel, und das kann für diese Leute
überaus gefährlich werden. Verstehst du?! Diese Leute haben
viel zu verlieren, und sie sind absolut skrupellos!...“
Nach
einer kleinen Weile, in der Sie ihr alles erzählt hatte, was sie
wusste, fragte Hitomi sie: „Warum erzählst du mir das
alles? Und woher weiß ich, dass das alles nicht nur dazu dient,
uns von der Spur abzubringen?“
„Ich
erzähle dir das, weil ich denke, dass diese Leute nicht
ungehindert weiter ihre Verbrechen ausführen dürfen. Ich
bin zwar eigentlich selber eine Kriminelle, aber die dürfen
trotzdem nicht ungestraft davonkommen. Ich weiß, dass ich im
Moment die letzte sein dürfte, der du vertrauen willst. Aber
alles, was ich dir gesagt habe, ist die Wahrheit. Und ihr habt gar
keine andere Wahl als mir zu vertrauen, denn die Zeit für euch
und euren Vater wird immer knapper. Wenn ihr diese Chance jetzt nicht
nutzt, könnte es vielleicht eure letzte gewesen sein. Michael
war solange keine große Bedrohung, bis er jetzt dicht davor ist
alle Beweise zusammen zu haben. Und auch ihr seid so dicht an ihnen
dran wie nie zuvor, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr
von alleine den Aufenthaltsort der Leute und eures Vaters gefunden
hättet. Aber die wollen nicht warten, bis ihr bei denen vor der
Haustür steht. Deshalb müßt ihr jetzt schnell
handeln, um alle noch heil aus der Sache wieder rauszukommen. Das ist
vielleicht die letzte Chance, nutzt sie.“
Hitomi
liefen Schauer über den Rücken, als ihr die Wahrheit dieser
Worte bewußt wurde. Es konnte jetzt wirklich ihre letzte Chance
sein, dann war vielleicht schon alles zu spät.
Nach
einer kurzen Weile des Schweigens meinte sie: „In Ordnung, ich
scheine ja keine andere Wahl zu haben. Und wie soll es jetzt
weitergehen?“
„Ich
kann euch nur einen Namen nennen. David Baumgartner. Er lebt in
Zürich, wendet euch an ihn, er kann euch helfen. Alles andere
müßt ihr allein machen, ich habe euch alles gesagt, was
ich weiß.“
Wieder
ein kurzes Schweigen, dann fragte Hitomi: „Was willst du jetzt
machen?“
Ein
ironisches Lächeln spielte um die Lippen der anderen. „Na
ja, es sieht nicht so aus, als könnte ich in absehbarer Zeit
wieder zurück nach Frankreich. Ich werde einfach für eine
Weile untertauchen, bis sich alles wieder beruhigt hat.“
Sie
legte Hitomi leicht eine Hand auf die Schulter und sah sie noch
einmal an. „Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht. Viel Glück,
Hitomi.“
Mit
diesen Worten wandte sie sich ab und war wenige Augenblicke später
in der Dunkelheit verschwunden.
4. Ende?
Freitag,
19. Februar 1988
Zürich,
Schweiz
Die
Maschine befand sich gerade im Landeanflug auf Zürich. Unter
sich konnte Hitomi Wälder, Wiesen und Felder sehen, die jetzt
fast vollständig vom weißen Schnee bedeckt waren. Wie
kleine Pfade zogen sich die vom Schnee befreiten Straßen durch
das Weiß hindurch, sie sah dort unten die Stadt liegen. Die
Sonne schien von einem blauen Himmel herunter, die zugeschneiten
Bergkuppen in der Ferne wurden von den Strahlen in ein glänzendes
Licht getaucht.
Es
war das zweite Mal seit vier Jahren, dass sie sich in der Schweiz
aufhielten. Damals hatten sie sich unter die Gäste einer
größeren Party eines kriminellen Sammlers gemischt und das
Gemälde ihres Vaters vor deren Nase weggestohlen.
Diesmal
stand alles auf einer Karte, hing alles an einem Faden.
Sie
alle wussten, was auf dem Spiel stand. Es ging um das Leben ihres
Vaters, und auch um ihr eigenes. Wenn es ihnen jetzt nicht gelang,
diese Chance zu nutzen, würden sie vielleicht nie wieder eine
bekommen...! Toshi war derzeit in einem wichtigen Einsatz unterwegs,
hatte aber versprochen, sobald wie möglich nachzukommen.
Herr
Nagaishi hatte schon alles arrangiert, außerdem hatte er
Baumgartner ausfindig gemacht. Sie mussten mit diesem Mann sprechen,
er war die entscheidende Verbindung zu ihrem Vater. Die Worte ihrer
Doppelgängerin gingen Hitomi durch den Kopf. Alles, was in den
Monaten und Jahren zuvor passiert war, zählte jetzt nicht mehr.
Alles, was jetzt noch wichtig war, war die Rettung ihres Vaters und
die Kreuzigung dieser Verbrecher, die ihn schon sein ganzes Leben
lang verfolgten.
Sie
wollten gerade den Ankunftsterminal verlassen, als ein Mann in ihren
Weg trat. Er hatte eine hohe Gestalt, kurze, schon leicht ergraute
Haare und trug einen schwarzen Anzug. Seine blauen Augen blitzten
unter seiner Nickelbrille hervor, und er sah sich ständig um,
als fürchte er verfolgt zu werden.
„Mein
Name ist David Baumgartner. Ihr Freund sagte mir schon, dass Sie
kommen würden.“ Er führte sie zu einem Wagen, der auf
einem Parkplatz geparkt worden war. „Ich fürchte, man ist
mir auf den Fersen. Ich musste vorerst aus meinem Haus verschwinden,
da war ich nicht mehr sicher.“, sagte er, während sie
einstiegen.
Assayah
ging mit den anderen Passagieren der Maschine aus Tokio durch die
Paßkontrolle des Züricher Flughafens. Sie hatte nur eine
Maschine nach den drei Schwestern genommen, noch einmal wollte sie
die drei nicht so einfach davonkommen lassen. Sie hatte
zähneknirschend eingesehen, dass sie wirklich der Doppelgängerin
von Hitomi auf dem Dach begegnet sein musste, auch wenn sie dadurch
nicht von ihrem Ziel abgelenkt worden war.
Es
waren inzwischen zu viele Übereinstimmungen auf einmal. Vor vier
Jahren waren die drei in der Schweiz gewesen, und genau zu der Zeit
hatten die Katzen in Zürich einen Diebstahl begangen. Dann die
Sache mit der Doppelgängerin. Sie hatte Hitomi und die andere
mit eigenen Augen gesehen, doch das überzeugte sie noch lange
nicht von der grundsätzlichen Unschuld Hitomi’s.
Diese
Frau war eine der Katzen, das sagte ihr ihr Instinkt. Auch wenn sie
noch so unschuldig schien, Assayah hatte sie durchschaut. Der
Detective war entweder blind, weil er die Wahrheit nicht sehen
wollte, oder er deckte sie. Wie auch immer, sie würde sie hier
in Zürich nicht aus den Augen lassen, und sie war sich ziemlich
sicher, dass sie fündig werden würde. Sie würde sie
auf Schritt und Tritt überwachen, wenn die Katzen hier einen
Diebstahl begehen wollten, dann würde sie sie dabei auf frischer
Tat verhaften...!
Sie
hatte sich über Polizeiquellen das Hotel ermitteln lassen, in
dem die drei sich einquartiert hatten. Sie würden ihr nicht noch
einmal entwischen.
Sie
verließ den Ankunftsterminal gerade, als sie deutlich spürte,
wie ihr von hinten etwas Hartes in den Rücken gehalten wurde. Es
war der Lauf eine Waffe, das wusste sie sofort. Der Mann, der sie
hielt, war größer als sie selbst, trug einen dunklen
Anzug, sie sah aus den Augenwinkeln seine verspiegelte Sonnenbrille.
„Bleiben Sie nicht stehen, drehen Sie sich nicht um!“,
befahl er ihr auf Japanisch mit rauh klingender Stimme und schob sie
weiter, einem schwarzen Wagen mit verdunkelten Fenstern entgegen.
„Lassen
Sie mich los...!“, zischte sie zwischen den Zähnen und
versuchte, nach ihrer Dienstwaffe zu greifen. Sie spürte, wie
etwas sie in den Oberarm stach, es war eine Nadel. Was immer er ihr
injiziert hatte, es wirkte schnell. Es begann dunkel um sie herum zu
werden, ehe sie einen Ton sagen oder sich wehren konnte. Sie bemerkte
gerade noch, wie sie in den schwarzen Wagen gestoßen wurde,
dann war alles schwarz...!
„Ich
bin Anwalt, wie Sie vielleicht schon wissen.“ Baumgartner stand
am Fenster des Hotelzimmers und sah nach unten auf die Straßen
der Stadt hinunter. Sie befanden sich im sechsten Stock, und von hier
oben hatte man eine gute Aussicht.
Sie
drei hörten den Ausführungen des Mannes zu, der womöglich
entscheidend war über Leben und Tod ihres Vaters.
„Ich
erinnere mich noch genau an den Tag, als Ihr Vater zu mir kam. Das
war 1981, und er machte auf mich den Eindruck, als wäre er auf
der Flucht und würde um sein Leben fürchten. Er hat mir
gesagt, er wüßte etwas über sehr mächtige Leute,
was ihn und seine Kinder in große Gefahr bringen könnte.
Und er hat um meine Hilfe gebeten. Er sagte, er bräuchte
jemanden, dem er Beweise und Unterlagen anvertrauen könne, die
ihn und mich das Leben kosten könnten.“
Er
machte eine kurze Pause und fuhr halb zu ihnen, halb zum Fenster
gewandt fort: „Dann ist er verschwunden, wollte sich aber
wieder melden, wenn es sicher und notwendig für ihn wäre.
Einige Monate später hat er sich mit mir in Sao Paulo getroffen,
da hat er mich ins Vertrauen gezogen darüber, was er wusste. Er
hat mir auch erzählt, warum er nach so langer Zeit jetzt wieder
fliehen musste. Er sagte, er sei in Bern von jemandem angesprochen
worden, der ihm Beweise für die Verbrechen von Viktor Berger
geben wollte. Er hätte ihm einen kleinen Teil des belastenden
Materials gegeben, später wollte er ihm den Rest zukommen
lassen. Doch bevor er ihm die Beweise geben konnte, hätte man
diesen Mann vor seinem Hotel erschossen und die Unterlagen gestohlen.
Michael sagte, ich solle mit niemandem darüber sprechen, ganz
besonders nicht mit Ihnen. Er fürchtete, dass Sie in die
Schußlinie dieser Leute geraten würden. Seitdem sind er
und ich in unregelmäßigem Kontakt geblieben, er hat mir
alles anvertraut, was er herausbekommen hatte.“
Er
wandte sich nun vollends zu ihnen, als er sagte: „Ich musste
Ihrem Vater damals versprechen, Sie unter keinen Umständen da
mit hineinzuziehen. Sie bedeuten ihm alles, und er vermißt Sie
sehr.“
„Wissen
Sie, wo er jetzt ist?“, hörte Hitomi ihre an den Türrahmen
gelehnte ältere Schwester fragen.
„Er
ist hier in Zürich, und er schwebt in großer Gefahr. Die
müssen wissen, dass er hier ist, denn die haben mein Haus und
mein Büro durchwühlt. Sie haben aber nichts gefunden, weil
ich die Unterlagen Ihres Vaters nicht dort aufbewahre.“
„Wo
genau ist er jetzt?“, fragte Hitomi, während sie aufstand.
„Die
Beweise sind in einer leerstehenden Villa am Zürichsee
untergebracht worden, dort wird er vermutlich gerade sein. Aber die
sind ihm auf den Fersen...!“
„Worauf
warten wir dann noch!?“
Es
hatte so lange gedauert, bis sie an diesem Punkt angekommen waren,
und jetzt schien alles mit rasender Geschwindigkeit auf sie
einzustürzen. Hitomi wusste, dass es heute auf die eine oder
anderen Weise zu einer endgültigen Entscheidung kommen würde.
Sie hatten eine lange Reise bis zu diesem Punkt hinter sich, sie
hatten Jahre voller Gefahren und auch Schmerzen hinter sich, ehe sie
das Puzzle endlich vollständig hatten zusammensetzen können.
Sie waren ihrem Vater und ihrem Ziel so nahe wie noch niemals zuvor,
aber sie hatte gleichzeitig auch Angst. Was, wenn sie es nicht
schaffen würden?! Wenn sie zu spät kommen würden...!
Mit
aller Macht drängte sie diese Gedanken jetzt aus ihrem Kopf, sie
mussten sich auf das Wesentliche konzentrieren, sie mussten so
schnell wie möglich zu dieser Villa.
Alles
war noch genauso, wie er es vor einigen Monaten zurückgelassen
hatte. Niemand schien seit der Zeit hier gewesen zu sein, nicht
einmal Baumgartner. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, konnte
er in einiger Entfernung zwischen den Büschen und Bäumen
hindurch das Boot sehen, wie es auf dem Wasser im leichten Wind des
späten Nachmittages hin und her schaukelte. Der Zürichsee
war so groß, dass auch im Winter nur Seitenarme und geschützte
Buchten zufroren. Die Bäume und die meisten Büsche waren
jetzt kahl und von weißem Schnee bedeckt, wie auch der Rasen
unter einen dichten Decke aus Schnee verborgen war.
In
wenigen Minuten würde er hier verschwunden sein, dann würde
die letzte und entscheidende Schlacht geschlagen werden. Er hob die
Diele des alten Holzfußbodens an. Darunter kam ein kleiner
Hohlraum zum Vorschein, gerade groß genug, dass man einen
kleinen Aktenkoffer darin unterbringen konnte. Er holte den Koffer
hinaus und öffnete das Zahlenschloß. Alle vorher dort
verstauten Unterlagen waren noch da. Die Kopien der Lieferlisten des
Goldes an die Schweizer National Bank aus den 40er Jahren, Tonbänder
mit abgehörten Gesprächen, Rechnungen, vertrauliche Briefe,
und alles trug Unterschriften und Stimmen von den Männern, die
ihn verfolgten.
Jetzt
tat er die neu dazu gekommenen hinzu. Mit einem zufriedenen Lächeln
schloß er den Koffer wieder. Mit dem, was er hier in der Hand
hielt, konnte er einige sehr mächtige Leute zu Fall bringen, und
das würde er tun. Er war lange genug davongelaufen, hatte sich
versteckt. Doch jetzt nicht mehr, jetzt würden sie für ihre
Verbrechen bezahlen.
Wenn
der ganze Spuk hier erst einmal vorbei war, konnte er zu seiner
Familie zurückkehren. Er hatte seine Töchter so lange nicht
gesehen, nur über Freunde mit ihnen Kontakt aufgenommen. Und das
auch nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Sie waren schon genug in
Gefahr geraten seinetwegen.
Er
wusste, er konnte im Leben nicht wieder gut machen, was die drei auf
sich genommen hatten während der letzten Jahre. Sie hatten sich
in endlos große Gefahren begeben, hatten sich selber in die
Schußlinie dieser Leute gebracht, aus der er versucht hatte,
sie herauszuhalten.
In
den letzten Jahren hatte er viel von ihnen gehört, aber immer
nur unter dem Decknamen, den sie als Diebe benutzten. Einmal war er
kurzzeitig in Frankreich gewesen und hatte dort gehört, dass ein
paar Leute sogar schon Wetten untereinander abgeschlossen hatten,
wann die Polizei sie fassen würde. Keiner gab der Polizei allzu
große Chancen. Obwohl auch keiner von ihnen glauben wollte,
dass sie niemals gefaßt würden. Irgend wann würden
sie einmal einen Fehler machen, und dann würden sie verhaftet.
Er
hatte das damals gehört und gedacht, wie wenig Ahnung diese
Leute doch hatten. Sie sahen die Katzen nur als raffinierte Diebe an,
und als nichts anderes. Er wusste es besser, denn sie waren seine
Kinder. Auch wenn er, als er das erste Mal von Katzenauge hörte,
am liebsten nach Japan gefahren wäre und ihnen allen Dreien das
Fell über die Ohren gezogen hätte. Sie hatten sich in eine
solch große Gefahr begeben, sie hatten mit ihrer Zukunft wie
mit Billardkugeln gespielt.
Das
war zu einer Zeit, als er keine allzu großen Hoffnungen mehr
hatte die Sache noch glücklich beenden zu können. Er war
allein, bis auf wenige Freunde, und hatte eine Übermacht im
Nacken - so schien es zumindest. Dann hatte er gemerkt, dass er nicht
so allein auf weiter Flur stand. Die Katzen waren gut, sie waren
verdammt gut. Sie tricksten die Polizei mit links aus, und sie
suchten unbeirrt nach ihm. Sie hatten ihn nie aufgegeben und ihm
wieder Hoffnung gegeben.
Sie
hatten ihm während der letzten Jahre sehr geholfen, auch wenn er
nur ahnen konnte, was für einen hohen Preis sie dafür
hatten zahlen müssen. Doch diesen letzten Schlag musste er
alleine ausführen.
Er
schob die Holzdiele wieder an ihren Platz und versicherte sich
gewohnheitsmäßig, dass nichts mehr von dem Versteck zu
sehen war. Er würde es zwar in der Zukunft wahrscheinlich nicht
mehr brauchen, trotzdem konnte man niemals vorsichtig genug sein. Das
hatte er inzwischen gelernt.
Er
kam auch fast niemals auf dem Landweg zu diesem Haus hier, er nahm
sich immer ein Boot und fuhr damit eine Strecke immer in Ufernähe
entlang bis zu diesem Grundstück.
Dabei
hatte er sich immer wieder nach Verfolgern umgesehen, eine
Gewohnheit, die ihm leider schon zu einer zweiten Natur geworden war.
Er wusste nicht, ob es ihm jemals gelingen würde, diese
Gewohnheit loszuwerden. Ob er jemals vollständig frei und ohne
Angst leben konnte.
In
den letzten Jahren war er um den gesamten Erdball gereist, von Bern
nach Paris, London, Washington, Rio de Janeiro, Manila, die Liste kam
ihm beinah endlos vor. In den ersten Monaten war er von Stadt zu
Stadt gereist, unter falschen Namen und mit anderen Pässen.
Zeitweise hatte er sich seine Haare anders gefärbt oder seinen
Bart abrasiert. Er hatte zufällig von dem Züricher Anwalt
Baumgartner erfahren, und er wusste, dass er den ganzen Spuk nur mit
der Hilfe von anderen ein Ende bereiten und am Leben bleiben konnte.
Ein
Jahr war er in Brasilien untergetaucht, hatte bald portugiesisch
gelernt und sich im Schutz einer ruhigen Kleinstadt mitten in
Brasilien versteckt gehalten. Er hatte sich in Japan zwar sicher
gefühlt, hatte sich aber niemals zu sehr in Sicherheit gewiegt
und im Laufe der Jahre eine Menge Pläne für den Fall
ausgearbeitet, dass es doch einmal nötig wurde zu fliehen. Er
hatte gehofft, diese Pläne niemals anwenden und die gefälschten
Pässe niemals benutzen zu müssen. Er kannte besonders in
den USA und Südamerika eine Menge Leute, die er auf seiner
ersten Flucht vor so vielen Jahren kennengelernt hatte und die ihm
jetzt geholfen hatten. Er war während der letzten Jahre zu einem
Meister des Verschwindens geworden, er wusste, wie man keine Spuren
hinterließ. Viele Menschen träumten davon, einfach
abzuhauen, zu verschwinden und ein neues Leben zu beginnen, sie
träumten von der totalen und grenzenlosen Freiheit. Er wusste,
das diese Freiheit oft nichts weiter als eine Illusion war. Er hatte
sich immer verstecken müssen, immer auf der Flucht und auf der
Suche nach neuen Beweisen, die diese Flucht endlich beenden konnten.
Die
alten Holzdielen knarrten unter seinen Schritten, als er an dem
staubigen Holztisch und den Stühlen vorbei zur Terassentür
hinaustrat. Keine Spuren außer seinen eigenen von gerade eben
waren im Schnee zu sehen. Sie führten gerade von dem Bootssteg
zum Haus führten, und auf dem selben Weg ging er jetzt zurück.
Er hatte das Boot schon fast erreicht, als er harte Schritte von
hinten auf dem Holz des Steges hörte.
„Es
freut mich, Sie wiederzusehen, Michael...!“ Er brauchte sich
nicht umzudrehen, um zu wissen, wem die Stimme gehörte.
Vor
dem Hotel fuhren einige Wagen vorbei, einige davon waren Privatwagen,
andere Taxis. Baumgartner hatte dem Portier den Wagenschlüssel
zugeworfen, der war darauf davongeeilt um den Wagen zu holen. Ihr
fiel der schwarze Wagen auch nur auf, weil er langsamer fuhr als die
anderen. Und ihre von vielen Stunden auf dem Schießstand
geschulten Augen erkannten den Waffenlauf, der sich langsam und
scheinbar unauffällig aus dem Fensterschlitz schob. Sie konnte
ihn auch nur sehen, weil Hitomi nicht direkt vor ihr, sondern etwas
seitlich versetzt ging, sonst hätte sie ihr die Sicht verdeckt.
Hitomi hatte die Waffen nicht bemerkt, weil sie in eine andere
Richtung sah. Sie warf sich ihrer jüngeren Schwester in den
Rücken und riß sie mit sich auf den Boden, als sie den
Blitz in der Mündung sah. Es gab keinen Knall, und einen Moment
wartete sie verwundert darauf, dass der Schall sie erreichte. Dann
erst bemerkte sie, dass es Waffen mit Schalldämpfern sein
mussten.
Sie
und Hitomi lagen beide hinter einem geparkten Wagen in Deckung, sie
hatte gerade noch gesehen, wie Love sich hinter einen anderen Wagen
geschmissen hatte als der Kugelhagel um sie herum einschlug.
Baumgartner hatte sich hinter einer Häuserecke in Sicherheit
gebracht.
Die
Kugeln schlugen in die Karosserie des Wagens ein, die Scheiben gingen
zu Bruch, doch keine der tödlichen Geschosse traf einen von
ihnen. Nami wusste, wenn der so weiter schoß, würde er
irgendwann den Benzintank des Wagens treffen, und dann würden
sie beide mit in die Luft gehen.
Hitomi
lag immer noch halb unter ihrer Schwester, die sich ihr im letzen
Moment entgegengeworfen hatte und sie so beide vor den Kugeln
zumindest erstmal in Sicherheit gebracht hatte. Sie wusste nicht, wer
sie da gerade umbringen wollte, aber wer immer in diesem schwarzen
Wagen saß, so einfach würden die sie nicht aus dem Weg
räumen.
Sie
sah sich nach Love um. Sie sah gerade noch, wie ihrer Schwester der
Griff einer Pistole hart über den Kopf gezogen wurde, sie brach
zusammen. Immer noch schlugen die Kugeln um sie herum ein, aber das
zählte für Hitomi nicht, als sie sah, wie zwei Männer
in dunklen Anzügen Love auf den Schultern im Feuerschutz ihres
Komplizen mit sich zum Wagen trugen. Mehr sah sie nicht, denn wenige
Sekunden später hörte das Feuer plötzlich auf, und sie
hörte den Wagen mit quietschenden Reifen starten.
Ohne
nachzudenken kam sie hoch, um den Wagen davonrasen zu sehen - mit
ihrer Schwester.
Kein
weiterer Gedanke wurde verschwendet als sie hochschoß und über
die Kühlerhaube des Wagens auf die Straße sprang. „Fahrt!
Ich verfolge sie!“, rief sie den beiden anderen zu ohne sich
umzudrehen, während sie hinter dem Wagen hinterher rannte, der
sich schon in beträchtlicher Entfernung befand. Sie durfte die
nicht davonfahren lassen...!
Sie
machte eine harte Kurve nach rechts, als sie aus den Augenwinkeln den
Mann sah, der gerade seine Maschine am Seitenstreifen parken wollte.
Überraschung und Schreck erschienen in seinem Gesicht, als er
von ihr kurzerhand von der Maschine gerissen wurde. Eine Sekunde
später war sie auf das Motorrad gesprungen und jagte dem Wagen
hinterher.
„Hitomi!“
Nami sah ihre Schwester auf der Straße, sah, wie der völlig
überraschte Fahrer des Motorrades auf dem Asphalt landete und
Hitomi im nächsten Moment um die Ecke verschwunden war, hinter
dem Wagen her.
Sie
richtete sich auf, es war ein Wunder, dass der Wagen noch nicht
explodiert war. Sie sah sich um, Baumgartner lugte um die Ecke und
kam dann zu ihr gelaufen. Einige Sekunden sahen beide wie erstarrt
dem schon längst verschwundenen Wagen und Hitomi hinterher.
Dann
nahm er ihren Arm und zog sie mit sich. „Kommen Sie, wir haben
nur noch wenig Zeit, wenn wir Ihren Vater noch retten wollen!“
„Aber
wir können die beiden doch nicht einfach...!“ Nami
sträubte sich dagegen, ihm zu folgen und ihre Schwestern
möglicherweise ihrem Schicksal zu überlassen.
„Wir
können ihnen im Moment nicht helfen. Los, wir haben keine Zeit
mehr!“, rief er ungeduldig, während er sie am Arm hinter
sich her um die Ecke zerrte. Der Portier hatte den Wagen geholt,
hatte sich aber in Angst an die Mauer gedrückt gehalten.
Schon
während sie einstiegen, hörten sie die Polizeisirenen,
darum konnten sie sich im Augenblick aber nicht weiter kümmern.
Baumgartner startete den Wagen, innerhalb weniger Sekunden waren sie
auf dem Weg zur vielleicht letzten Chance, die sie jemals bekommen
würden.
Sie
überschritten die Geschwindigkeitsbegrenzung sicher um einiges,
als der Anwalt den Wagen durch die Straßen aus der Stadt
herausfuhr, und es war ein Wunder, dass sie nicht von der Polizei
verfolgt wurden oder irgendeinen Unfall verursachten. Sie waren
gerade knapp einem Anschlag entgangen, und das bewies
nur
noch mehr, dass sie sich jetzt beeilen mussten. Hoffentlich kamen sie
nicht schon zu spät...!
Die
Fahrt dauerte zwar im Grunde nicht allzu lange, aber trotzdem wurde
sie mit jeder Sekunde, die verstrich, unruhiger. Und nicht zu wissen,
was mit ihren beiden Schwestern geschehen war, machte die Sache nicht
eben erträglicher.
Schließlich
stoppte Baumgartner den Wagen in einem kleinen Kiesweg. Man konnte
von hieraus die spiegelnde Oberfläche des Sees sehen, der hier
nicht zugefroren war. Kahle Laubbäume rahmten die Straße
ein, in einiger Entfernung konnten sie das Haus sehen.
Zwei
dunkle Wagen standen vor dem Eingang auf einer speziellen Einfahrt
aus Kies. „Wir sind zu spät gekommen...!“ Es konnte
nicht anders sein, die beiden Wagen waren Zeichen genug. Angst schien
sie momentan einzufrieren, als sie erkannte, dass sie vielleicht die
allerletzte Chance nicht genutzt hatten.
„Das
ist noch nicht sicher!“, sagte Baumgartner, als sie ausstiegen.
„Kommen Sie.“ Er führte sie in einem Bogen an das
leerstehende Haus heran. Sie schlichen geduckt durch von den
Sträuchern gedeckt durch den Schnee.
„Sehen
Sie, dort...!“ Während sie hinter einem der Sträucher
im Schnee kauerten, zeigte er mit einem Finger auf die beiden
Gestalten, die an einem der Wagen lehnten und sich unterhielten. Sie
schienen nicht mit ungebetener Gesellschaft zu rechnen. Vielleicht
war es doch noch nicht zu spät, und wenn es so war, sollten die
nicht so einfach davonkommen...!
Sie
erklärte dem Anwalt, was sie vorhatte, und wenige Sekunden
später war sie mit einem Sprung auf den untersten Ästen der
großen Eiche, die ihre Äste über die kleine Straße
streckte. Es war nicht ganz einfach auf den zum Teil mit Schnee
beladenen Ästen das Gleichgewicht zu halten, ohne sich zu früh
zu erkennen zu geben oder auszurutschen und zu fallen. Außerdem
hatte sie nicht ihren Anzug an, sondern nur Stiefel, Jeans und eine
Jacke. Doch sie hatte nicht umsonst jahrelange Erfahrung in solchen
Sachen, auch wenn ihr Herz schneller schlug als jemals bei einer
ihrer Aktionen. Hier ging es um alles, und sie durfte sich noch viel
weniger als sonst einen Fehler erlauben.
Sie
war nahe genug an den beiden dran, sie hatten sie noch nicht bemerkt,
obwohl sie nur wenige Meter über ihnen war. Ohne Vorwarnung
sprang sie. Wie ein Blitz kam sie über die beiden überraschten
Männer, riß den einen mit der Wucht des Sprunges zu Boden
und hatte den anderen sofort danach schon mit einem Fußtritt
seinem Kumpanen hinterher geschickt. Sie ließ sie keinen
weiteren Laut von sich geben, als zwei gezielte Schläge in die
Nacken der beiden sie augenblicklich bewußtlos zusammenbrechen
ließen.
Sie
winkte Baumgartner, der in diesem Moment schon geduckt auf sie zu
gelaufen kam. Sie nahm sich die Waffe des einen Mannes und gab ihm
die zweite. Er nahm sie und wies dann auf das verlassene Haus, dessen
Scheiben schon vielfach kaputt oder vom Staub und Schmutz verdunkelt
waren.
„Dort
drin sind sicher noch mehr denen. Kommen Sie!“, flüsterte
er ihr zu, während er vorsichtig um den Wagen herumlugte.
Im
Schutz des zweiten Wagens erreichten sie das Haus und schlichen sich
an der Außenseite entlang um eine Ecke. Die Putz war vielfach
schon abgeblättert, darunter kam das nackte Mauerwerk aus
Ziegelsteinen zum Vorschein. Der ehemals sicher sehr schöne
Vorgarten war inzwischen verwildert, soweit man das unter dem dichten
Schnee noch sehen konnte.
Sie
kamen an einen Anbau, eigentlich war es mehr ein Bretterverschlag,
aber er hatte eine hölzerne Tür, die augenscheinlich nach
drinnen zu führen schien. Die Tür war nicht verschlossen,
und Baumgartner öffnete sie geräuschlos. Der Raum schien
einmal als Lagerraum für alles mögliche gedient zu haben,
einige leere Kisten standen noch in dem kleinen Raum, an dessen
hinteren Wand eine weitere Tür ins Innere des Hauses führte.
Sie waren so leise, wie es auf den Dielen aus Holz eben nur ging. Sie
konnten aber niemanden sonst hören, aber Nami war sich so gut
wie sicher, dass noch welche im Haus waren.
Vorsichtig
öffnete sie die Tür einen Spalt weit. Licht fiel durch ein
kleines Fenster auf den Boden eines Raumes, der einmal eine Küche
gewesen war. Staub lag auf dem Boden und tanzte glitzernd in den
Sonnenstrahlen.
In
der Küche war niemand, es gab überhaupt keine Spur, dass
jemand während der letzten Jahre diesen Teil des Hauses betreten
hatte.
Beide
hörten die Stimmen, die sich ihnen aus dem anderen Teil des
Hauses her näherten, als Nami um die
Ecke
in einen der alten Wohnräume spähte. Schnell zog sie den
Kopf zurück. Mit einer Hand zog sie den Anwalt gegen die Wand
und entsicherte mit der anderen leise ihre Waffe.
„Warum
haben sie nicht geantwortet?“, fragte jetzt eine der Stimmen,
während sich die Schritte auf den Holzdielen ihnen immer weiter
näherten.
„Ich
weiß nicht. Laß uns lieber einmal nachsehen.“,
antwortete der eine. Sie waren anscheinend nur zu zweit.
In
dem Moment, als der erste um die Ecke kam, hinter der sie standen,
wurde er von einer Hand nach hinten gezogen. Er stieß einen
überraschten Hilfeschrei aus, der aber sofort erstickte, als ihm
der Griff einer Pistole hart ins Genick geschlagen wurde. Er sank zu
Boden, gerade als der andere seine Waffe zog.
Seine
MP wurde von ihrem Fuß aus der Hand geschlagen, sie landete mit
einem dumpfen Laut in einiger Entfernung auf dem Fußboden. Er
warf sich auf sie, doch Nami wich ihm aus. Sie hielt ihn dabei am
Kragen fest und riß ihn herum. Ihre Hand landete in seinen
Nacken und ließ ihn genau wie seinen Kameraden mit einem
schmerzhaften Stöhnen auf dem Boden zusammensinken.
Als
sie den Kopf zur Seite wandte, erstarrte Nami bei dem Anblick. Durch
das dreckverschmierte Fenster sah sie in einiger Entfernung zwischen
den Büschen und Bäumen hindurch zwei Gestalten auf dem
Bootssteg am Wasser stehen. Ein Boot war dort vertäut worden und
schaukelte ein wenig auf den leichten Wellen.
Der
eine Mann stand mit dem Rücken zu ihnen, hatte einen schwarzen
Anzug an. Das Gesicht des anderen konnte sie sehen. Eine hohe
Gestalt, zerschlissene Jeans und eine blaue Jacke, das schwarze Haar
von wenigen grauen Strähnen durchzogen, der Schnurrbart auch
schon leicht grau, die grünen Augen blitzten im Sonnenlicht. Er
stand am Steg, dicht am Wasser.
Einen
Moment schien die Zeit zu stoppen, als sie ihn dort stehen sah. Er
hatte sich wenig verändert in den letzten Jahren. Der Ausdruck
auf dem Gesicht ihres Vaters war der eines hilflosen Mannes. Sie sah,
wie der Anzugmann außer einem kleinen, schwarzen Aktenkoffer
noch eine Waffe auf ihn gerichtet hielt.
Als
sie das sah, fuhr sie aus ihrer Erstarrung hoch.
„Ich
muss zu ihm! Kümmern Sie sich um die anderen.“ Ohne den
Anwalt anzusehen war sie in der nächsten Sekunde schon auf dem
selben Weg aus dem Haus, auf dem sie gekommen waren. Sie musste ihm
jetzt helfen. Sie faßte die Waffe in ihrer Hand fester, das
kühle Metall gab ihr ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit,
während sie durch den Schnee die andere Seite des Hauses
erreichte.
Die
Sonne war schon recht nahe am Horizont und sandte ihre Strahlen über
den See und die verschneiten Flächen. Als sie vorsichtig um die
Ecke blickte, sah sie die beiden immer noch stehen, sie schienen
miteinander zu reden. Sie konnte noch nicht genau verstehen, was sie
sagten, sie war noch zu weit entfernt.
Vor
ihr lag der tiefverschneite ehemalige Garten des alten Hauses, in der
Nähe des Steges stand eine alte Bretterbude, die einmal als
Bootshaus gedient haben mochte. Eine alte, halb eingefallene Mauer
führte von hier bis zum alten Bootshaus, sie war wohl einmal
Grundstücksbegrenzung gewesen. Sie war zwar nicht mehr als einen
Meter hoch, doch die davor angepflanzten und inzwischen verwilderten
Sträucher gaben ihr zusätzlichen Schutz. Sie dachte daran,
die Waffe anzulegen und den Mistkerl im schwarzen Anzug einfach von
hier aus über den Haufen zu schießen, doch das war ein zu
unsicheres Ziel, zumal noch einige Bäume dazwischen standen. Sie
entsicherte die Waffe ein zweites Mal und lief geduckt durch den
Schnee die niedrige Mauer entlang. Nein, so einfach würden sie
nicht davonkommen. Sie würden dafür bezahlen...!
„Sie
sind uns jahrelang immer wieder entkommen. Aber diesmal haben Sie
sich verrechnet!“ Die Genugtuung sprach aus der Stimme des
Mannes, der nach wie vor mit angelegter Waffe vor ihrem Vater stand.
„Sie
werden damit nicht durchkommen. Es gibt Leute, die wissen, was ich
weiß. Sie sind am Ende, Kapp,
auch
wenn Sie mich jetzt umbringen!“
Es
tat gut, seine Stimme wieder zu hören, auch wenn sie jetzt
voller ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit war.
Kapp
lachte höhnisch auf. „Wer immer Ihre Freunde sind, sie
werden nichts beweisen können ohne das hier...!“ Er hob
den Koffer, den er in der linken Hand hielt, leicht an und fuhr dann
fort: „Ich denke, das dürften Sie genauso gut wissen wie
ich.“
Sie
hatte sich dicht an die Bretterwand des Bootshauses gedrückt und
sah um die Ecke. Es waren nur wenige Meter, die sie jetzt noch von
ihrem Vater und Kapp trennten. Sie hatte ihre Waffe bereit, und sie
wusste, sie würde schießen ohne zu zögern.
Michael
erwiderte auf die Worte seines Gegenübers nichts, er blieb
stumm, ballte nur eine Hand zur Faust. Er hatte seine würdevolle,
gerade Haltung nicht verloren, auch wenn er dem Tod ins Auge blickte.
Kapp
hob die Waffe an. Das Grinsen war ihm aus der Stimme herauszuhören.
„Und ich werde jetzt endlich das Vergnügen haben, Sie zu
töten!“
„Lassen
Sie das fallen!“ Ihre scharfe Stimme schnitt durch die kalte
Winterluft, als sie aus ihrem Versteck hinter Kapp und ihrem Vater
trat. Sie sah das Aufblitzen in den Augen ihres Vaters, als er sie
augenblicklich erkannte. Kapp erstarrte in der Bewegung, machte aber
sonst keine Anstalten ihren Worten zu folgen.
Nami
sah ihren Vater jetzt nur aus den Augenwinkeln heraus, all ihre
Aufmerksamkeit war auf Kapp gerichtet. Sie hatte die Waffe im
Anschlag, sie würde abdrücken, sobald er auch nur die
kleinste falsche Bewegung machte.
„Sofort!“
Ihre Stimme war mehr ein drohendes Zischen, als sie von hinten näher
an ihn herantrat. Er ließ die Waffe fallen, sie landete im
Schnee auf dem Steg. Sie war jetzt dicht hinter ihm und schlug die
Pistole mit dem Fuß von ihnen weg, die Waffe rutschte über
den Schnee hinweg vom Steg und fiel mit einem dumpfen Laut ins
Wasser.
Kapp
sagte nichts, er hatte den kleinen Koffer immer noch in der Hand.
„Geben Sie ihm den Koffer!“
Diesmal
gehorchte er ihrem Befehl sofort und stellte den Koffer vor ihren
Vater hin, der ihn wieder an sich nahm.
Sie
packte ihn mit der anderen Hand an der Schulter und drehte ihn zu
sich herum. Sie hielt ihm den Lauf der Pistole hart unters Kinn,
während sie ihn am Kragen festhielt. Einige Sekunden sahen sie
sich nur an. In den Augen dieses Mannes sah sie Machtgier und
Verbitterung, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war inzwischen der
Angst gewichen. Dieser Mann war einer der Haupttäter, er war
verantwortlich, dass ihr Vater sich praktisch sein ganzes Leben lang
verstecken musste.
„Nennen
Sie mir nur einen Grund, warum ich Sie nicht sofort erschießen
sollte...!“ Wut und Haß sprachen aus ihrer eiskalten
Stimme, als sie den Mann, der kleiner war als sie selbst, nur noch
härter am Kragen packte.
Ein
Rufen und Schritte. Sie kamen von weiter hinten, und Nami drehte den
Kopf. Sie sah einen von Kapp’s Männern auf sie zurennen,
doch plötzlich wurde er von jemandem angefallen und nach unten
in den Schnee gezogen. Es war Baumgartner, der sich auf den letzten
noch verbleibenden Wachmann gestürzt hatte.
Gerade
noch sah sie, wie er ihm einen Hieb verpaßte, als sie spürte,
wie ihr die Waffe hart aus der Hand geschlagen wurde. Sie hörte
den Warnschrei ihres Vaters, doch es war schon zu spät. Kapp
stieß sie von sich weg, so dass sie in dem Schnee beinahe
gestürzt wäre.
„Sie
werden mich nicht aufhalten, Katze!“ Sie sah nur, wie er etwas
in der Sonne aufblitzen ließ und damit auf sie zukam. Sie sah
seine Armbewegung, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Ein
kurzer Schmerz durchzuckte sie, und sie sah etwas Blut ihren rechten
Arm herunterlaufen, dort, wo das Messer sie getroffen hatte. Einen
hatte er, mehr würde er nicht bekommen.
Ein
Schrei, und er kam mit gezücktem Messer auf sie zugerannt. Sie
wich ihm aus, er setzte nach. Plötzlich stand ihr Vater hinter
ihm, hielt mit einer Hand den Arm fest, mit dem Kapp das Messer
hielt. Kapp wollte sich dagegen wehren und den Angreifer abschütteln,
aber Michael packte ihn nur noch fester. Das gab ihr genügend
Spielraum, um Kapp das Messer mit einem Tritt aus der Hand zu
schlagen. Eine Sekunde später taumelte er zur Seite, als er von
ihrem heftigen Faustschlag getroffen wurde.
Sie
setzte nach, und er stürzte zu Boden, in den Schnee. Sie war
jetzt über ihm, zog ihn mit einer Hand am Kragen hoch. Blut lief
ihm aus der Nase, er war halb bewußtlos.
Sie
hielt ihn auf halber Höhe, er war zu benommen um sich noch
ernsthaft zu wehren. Ihre Faust fuhr hart auf seine Schläfe
nieder, er sackte vollständig bewußtlos zurück in den
Schnee. Sie blickte einige Sekunden auf den gefallenen Mann
hinunter.
Erst
als sie hoch sah, wurde ihr bewußt, dass es vorbei war. Sie sah
ihren Vater dort stehen, gerade aufgerichtet, den Blick genauso stumm
wie sie selbst auf sie gerichtet.
Sie
waren am Ziel. Sie hatten so viel hinter sich, bis sie hier her
gekommen waren, aber sie hatten niemals die Hoffnung aufgegeben. Sie
sah nur seine Augen, als sie sich langsam aufrichtete. Alles andere
wurde in diesem Moment unwichtig. Es schien eine Ewigkeit zu dauern,
in der sie sich gegenüberstanden, keiner sagte er ein Wort. Er
tat einen Schritt auf sie zu. „Nami...!“
Das
war das einzige, was er sagte. Aber dieses eine Wort, dieser Name
beinhaltete all die Gefühle, die sich in seinen Augen
widerspiegelten.
Dann
brach das Eis. Sie lag in den Armen ihres Vaters. Sie wusste, dass
jetzt alles wieder in Ordnung kommen würde. Egal, welche
Schwierigkeiten noch auftauchen würden.
Sie
war dem schwarzen Wagen quer durch die ganze Stadt hindurch gefolgt
und hatte immer einen Abstand von einigen Wagen zwischen sich und ihm
gelassen, war aber auch vorsichtig gewesen ihn nicht zu verlieren.
Sie durfte sich nicht von ihm abhängen lassen, das Leben ihrer
Schwester hing möglicherweise davon ab. Sie hatte nicht die
geringste Ahnung, was die wollten oder was sie vorhatten. Sie wusste
nur, dass
es
die Leute der Gruppe - die Verfolger ihres Vaters - sein mussten, die
den Anschlag verübt hatten. Vielleicht hatten sie, als sie
gemerkt hatten, dass ihre Kugeln sie nicht treffen würden,
beschlossen ihre Schwester zu entführen. Oder das war von Anfang
an so geplant gewesen, und dann musste sie noch viel mehr auf der Hut
sein vor ihrem teuflischen Plan.
Sie
kannte sich in Zürich nicht gut aus, sie war auch nur einmal
zuvor hier gewesen, aber sie merkte bald, wohin die Fahrt ging. Es
war nicht schwer, dem Wagen auf der Autobahn, die aus Zürich
hinausführte, unbemerkt zu folgen. Sie fuhren in Richtung
Flughafen. Und sie hoffte, dass sie sie daran hindern konnte, in ein
Flugzeug zu steigen und mit ihrer Schwester davonzufliegen. Sie
musste ihr helfen, das musste sie ganz einfach.
Doch
bald merkte sie, dass der Wagen nicht die notwendige Ausfahrt zum
Flughafen nahm, sondern ein Stück weiter eine andere. Die Straße
führte in das weit gefächerte Industriegebiet rund um den
Flughafen. Alle möglichen Firmen hatten sich hier angesiedelt,
Lagerhallen und Werkstätten verteilten sich über die
Flächen.
Sie
sah aus sicherer Entfernung heraus, wie der Wagen in eine Einfahrt
einer Lagerhalle fuhr. Es schien hier ein wenig benutzter Teil des
Gebietes zu sein, zumindest sah sie keine anderen Menschen um die
Halle und die Nebengebäude herumlaufen. Das Gelände
insgesamt war auch nicht sehr groß, von ihrer gegenwärtigen
Position aus konnte sie drei Nebengebäude und eine Fabrikhalle
zählen. Sie wiesen nicht darauf hin, was hier einmal hergestellt
worden war oder immer noch wurde. Vorsichtig fuhr sie die Maschine
noch ein Stück weiter heran. Den Wagen oder die Fahrer konnte
sie nicht mehr sehen, weil sie hinter einer Ecke eines Nebengebäudes
verschwunden waren, das ihr noch die freie Sicht auf das Lagerhaus
nahm.
Sie
stellte die Maschine ab und schlich sich näher an die Ecke
heran. Als sie vorsichtig den Kopf um die Ecke schob, sah sie den
Wagen dort vor einem Eingangstor stehen. Im Hintergrund bemerkte sie
aus den Augenwinkeln ein paar aufgestapelte Paletten und wenige Meter
von sich selbst entfernt waren einige rote Fässer aufgestapelt
worden.
Sie
ballte die Hand zur Faust, als sie sah, wie einer der Männer
ihre bewußtlose Schwester auf die Schulter hob und seinem
Komplizen folgte, der auf die Tür neben dem großen Tor
zusteuerte. Sie hatte keine Ahnung, was dieses ganze Szenario zu
bedeuten hatte, aber sie würde es sicher bald herausfinden.
Sie
sah den Blitz in der Mündung der Waffen erst, als die erste
Kugel dicht neben ihrem Kopf in die Mauerecke einschlug. Sie riß
den Kopf zurück, dann erst sah sie, woher die Kugeln kamen. Sie
hatte hier keine Deckung mehr. Sie bemerkte das und hatte dann keine
Zeit mehr, um sich Gedanken darüber zu machen.
Sie
warf sich vorwärts, landete hart auf dem asphaltbedeckten Boden.
Ein Luftzug an ihrem Kopf, ein stechender Schmerz an ihrem linken
Arm. Im Liegen sah sie das Blut von ihrem Arm laufen, es war nur ein
Streifschuß. Sie lag hinter den Fässern in Deckung,
zumindest würden sie ihr für den Moment Schutz bieten
können. Denn die Kugeln schlugen immer noch um sie herum ein,
das war nun schon das zweite Mal heute, dass sie knapp den tödlichen
Geschossen entging.
In
einem entfernten Gedanken dachte sie an ihre ältere Schwester,
die ihr vorhin zum inzwischen wiederholten Male das Leben gerettet
hatte. Ob sie und der Anwalt es geschafft hatten? Ob sie ihren Vater
noch rechtzeitig hatten retten können?
Ein
Symbol tauchte direkt vor ihren Augen auf, es sah aus wie eine große,
gefährliche Flamme. Darunter waren merkwürdige kleine
Zahlenkombinationen geschrieben. Immer noch kamen die Kugeln, sie
kamen wie kleine, pfeifende Boten des Todes von scheinbar allen
Seiten auf sie zu und trafen sie doch nicht. Die roten Fässer
türmten sich vor ihr auf wie eine riesige Schutzwand, vielleicht
das einzige, was sie momentan vor den Kugeln schützte.
Aber
da stimmte etwas nicht. Das Rot der Fässer wurde größer,
die große Flamme, die sie eben noch gesehen hatte, wurde
plötzlich riesig, sie schien überall zu sein. Zu spät
erkannte sie das Symbol für Benzin auf den Fässern. Die
Hitze und der Druck der Explosion schleuderten sie zurück, und
sie landete mit dem Rücken hart auf dem Boden. Im ersten Moment
schien es ihr alle Luft aus der Lunge zu ziehen. Der Knall der
Explosion schien alles andere in ihrem Bewußtsein zu
verschlingen, zumindest für einen Augenblick.
Es
dauerte einige Sekunden, bis die Hitze nachließ und sie endlich
wieder atmen konnte. Die Luft brannte sich wie Feuer in ihre Lunge,
sie roch den Geruch von verbranntem Benzin und geschmolzenem
Kunststoff. Der riesige Feuerball vor ihr hatte sich verkleinert zu
einzelnen Flammen, die unsichtbaren Feinde hatten aufgehört zu
feuern.
Es
kam ihr in den Sinn, dass sie nun keine Deckung mehr hatte, als sie
gerade noch sah, wie die zwei Männer mit ihrer Schwester im
Inneren der Halle verschwanden. Die Tür schloß sich hinter
ihnen, sie konnte sie nicht mehr sehen.
Ohne
noch über irgendwelche Gefahren nachzudenken, richtete sie sich
aus der kleinen Deckung auf, die ihr die brennenden Fässer noch
gaben, und lief in gebückter Haltung quer über den Platz.
Sie wusste, wer immer noch da war, der auf sie geschossen hatte,
hatte jetzt ein bequemes Ziel, doch das kümmerte sie im Moment
überhaupt nicht. Sie musste zu Love, das war das einzige, was
für sie zählte.
Sie
schien die Feinde überrascht zu haben, denn die Kugeln flogen
weit an ihr vorbei. Sie hatten anscheinend nicht damit gerechnet,
dass sie nach der Explosion noch im Stande war zu Laufen. Tatsächlich
hatte sie nur den einen Streifschuß am linken Oberarm
davongetragen, ansonsten war sie in Ordnung.
Schon
hatte sie die Deckung des schwarzen Wagens erreicht. Ein dritter Mann
stieg aus der Fahrertür, ein Kick von ihr sandte ihn mit einem
überraschten Schrei zurück ins Wageninnere. Eine Sekunde
später wurde er aus dem Wagen gezerrt, ein weiterer Schlag ließ
ihn bewußtlos auf dem Boden zusammensacken. Sie ging in die
Knie, als sie wieder die Kugeln um sich herum einschlagen hörte.
Sie nahm dem niedergeschlagenen Fahrer seine Waffe aus dem Gürtel.
Die anderen schienen jetzt sparsamer mit ihrer Munition umzugehen,
denn sie legten eine kurze Feuerpause ein. Sie lugte durch die
inzwischen zerschossenen Fenster des Wagens und zog den Kopf sofort
zurück, als sie das Blitzen der Mündung sah. Die Kugel
verfehlte sie, aber jetzt wusste sie zumindest, wo einer von ihnen
stand.
Sie
kroch an dem auf dem Boden Liegenden vorbei, als ihr etwas auffiel,
das er in der Hand hielt. Die untergehende Sonne spiegelte sich
glitzernd darin und ließ sie aufmerksam werden. Sie nahm es ihm
aus der schlaffen Hand. Es war eine gläserne Ampulle, sie war
leer. Auf dem Etikett stand eine medizinische Fachbezeichnung, die
sie nicht verstand, aber sie vermutete, dass es irgendwelche Drogen
gewesen sein mochten, die man ihrer Schwester gegeben hatte. Auch
dafür würden sie bezahlen müssen...!
Grimmig
ließ sie die Ampulle zu Boden fallen und packte ihre Waffe
fester. Als er das nächste Mal schoß, konnte sie den
Standort des einen Schützen genau feststellen. Er stand auf
einer erhöhten Position. Ein grimmiges Lächeln umspielte
ihre Mundwinkel, als sie sah, was er da direkt neben sich stehen
hatte.
Eine
gezielte Kugel von ihr genügte, die Fässer neben dem
Schützen in einem ohrenbetäubenden Knall in die Luft
fliegen zu lassen. Sie hörte seinen Schrei, der in dem Brüllen
der Explosion beinah unterging, und sah, wie er schwer auf den Boden
stürzte.
Sie
zog den Kopf zurück, als die Kugeln des zweiten Schützen
neben ihr einschlugen. Es waren nur zwei von ihnen, das hatte sie
inzwischen herausgefunden. Sie hatte keine Zeit mehr, sich um den
Ersten zu kümmern, der würde sowieso für eine Weile
außer Gefecht gesetzt sein. Sie fürchtete, dass ihr die
Zeit davonlief. Was immer sie mit ihrer Schwester vorhatten, sie
musste es verhindern.
Wieder
sah sie das Blitzen der Mündung der MP, als der Schütze
sich zum Zielen leicht aus seiner Deckung hervortraute. Die Kugeln
verfehlten sie alle.
Einige
Kugeln von ihr in seine Richtung waren die Antwort, doch sie wusste,
dass sie nicht treffen würde. Als er sich das nächste Mal
vorbeugte, schmetterte ihr eine Kugel die Waffe hart aus der Hand und
durchschlug seinen Handknochen. Sie hörte seinen schmerzhaften
Aufschrei. Sie hatte jetzt keine Zeit mehr sich um ihn zu kümmern,
sie musste in die Halle hinein.
„Was
wollen Sie überhaupt von mir?!“ Assayah war außer
sich vor Wut, als sie von den beiden Männern in dunklen Anzügen
den Gang entlang geführt wurde. Ihr waren die Hände mit
Stricken hinter dem Rücken zusammengebunden, einer der Schränke
hinter ihr hielt ihr eine Hand auf die Schulter, so als wollte er sie
selbst jetzt noch am Fliehen hindern.
Sie
bekam keine Antwort, sondern wurde nur mit noch mehr Eile den Gang
entlang geschoben. Es hatte keinen Sinn sich zu sträuben, die
Kerle waren zu stark für sie. Auch sie als nahkampferprobte
Polizistin war mit gefesselten Händen und ohne ihre Waffe, die
sie ihr während ihrer Bewußtlosigkeit abgenommen hatten,
hilflos. Das machte sie um so wütender, je weiter diese Männer
alle ihre Fragen ignorierten.
Sie
hatten das Ende des dämmerigen Ganges erreicht, sie betrat einen
Teil einer Lagerhalle, wie es schien. Die Decke war nicht sehr hoch,
es war wohl nur ein Nebenraum. Er war leer bis auf einige Kisten und
Werkzeuge.
„He,
lassen Sie das...!“, zischte sie zwischen den Zähnen
hervor, als sie von der kräftigen Männerhand in den Raum
gestoßen wurde und beinah gestolpert wäre.
„Sie
hätten sich da nicht einmischen sollen!“ Sie blieb stehen
und sah in die Richtung der Stimme, die aus dem hinteren Teil des
Raumes zu kommen schien.
Aus
dem Dämmerlicht trat ein hagerer, alter Mann hervor. Die Züge
waren von Alter und Bitterkeit gekennzeichnet, in seinen Augen lag
eine Kälte und eine Art Dunkel, das sie momentan leicht
schaudern ließ. Sein weißes, schütteres Haar war
dünn geworden, die Gestalt steif aufgerichtet. Aus diesen Augen
blitzte es wie eine dunkle Vorahnung eines Gewitters.
„Wer
zum Teufel sind Sie, dass Sie es wagen...!“ Weiter kam sie
nicht, als sie aus den Augenwinkeln zwei weitere Männer den Raum
betreten sah.
Als
sie den Kopf wandte, sah sie, dass einer der beiden eine Person auf
der Schulter trug. Sie bewegte sich nicht, sie war bewußtlos.
„Love?!...Verdammt,
was haben Sie...!“
„Sie
haben sich da in eine gefährliche Sache eingemischt, das kann
tödlich für Sie werden!“, sagte der Hagere und winkte
dabei dem Mann, der die junge Frau immer noch auf der Schulter trug.
Alle zuckten sichtlich zusammen, als sie von draußen die
Schüsse und das Schreien hörten.
„Sie
scheint ja einfach nicht aufzugeben...!“ Der Hagere sprach die
Worte grimmig, aber auch mit einer gewissen Achtung in der Stimme. Er
winkte die beiden Männer, die sie hier her geführt hatten.
„Übernehmt
ihr beiden sie. Sie wird es nicht schaffen, alleine alle meine Männer
in Schach zu halten!“ Die beiden Männer zogen ihre Waffen
und stürmten durch die Tür davon.
Die
beiden Männer mit Love auf der Schulter verschwanden ebenfalls
durch eine weitere Tür. Der Hagere und sie waren als einzige in
dem kleinen Raum verblieben. Er trat zu ihr heran und machte eine
Bewegung
ihnen zu folgen.
„Sie
werden damit nicht ungestraft davonkommen.“ Obwohl Assayah die
Angst spürte, die sich in ihrer Brust zu formen begann, war ihre
Stimme kalt und klar. „Glauben Sie, Sie können eine
Polizistin so einfach...!“
Er
ließ sie nicht ausreden, denn er lachte auf und unterbrach sie.
„Aber, aber, ich werde Sie doch nicht töten...!“ Sie
gingen wieder durch einen kleinen Gang, bis sie schließlich in
den großen Hauptraum der Lagerhalle kamen. Hier stapelten sich
Kisten und Kästen, doch die Halle war längst nicht
vollständig voll. Sie sah zwei Wagen nahe einem Tor stehen, in
einigen Metern entfernt sah sie einen der Männer die junge Frau
mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt von seiner Schulter
laden.
„Sie
wird es tun!“ Der Hagere machte eine Handbewegung zu der
Bewußtlosen hin.
Assayah
musste ein Lachen unterdrücken. „Sie!?“
„Kommen
Sie!“ Der Hagere führte sie vor sich her mit einer Hand an
ihrem Arm. Einer der Männer beugte sich über die Bewußtlose
und gab ihr eine Spritze mit irgendeiner Droge darin. Der Hagere
zwang sie, sich einige Meter neben ihr an die Wand gelehnt zu setzen,
er nahm ihr die Fesseln ab. Assayah sah sehr wohl den zweiten Mann
mit auf sie gerichteter Waffe dort stehen, keine Chance zu entkommen.
Wenige Augenblicke später band der Hagere sie mit den festen
Nylonstricken an ein Eisengeländer, das fest in die Wand
eingelassen worden war.
In
einer wütenden und hilflosen Geste zerrte sie an ihren Fesseln,
konnte aber natürlich nichts gegen sie unternehmen. Das Lachen
der Männer machte sie nur noch um so wütender.
„Geben
Sie sich keine Mühe, Sie werden hier nicht lebend
herauskommen...!“
Sie
wollte sie anschreien, dann sah sie, wie die Bewußtlose langsam
wach wurde. Der eine Mann kniete neben ihr und sprach in einem leisen
Flüsterton auf die noch halb Ohnmächtige ein. Sie schien
gefangen von seinen Worten, die Assayah nicht verstehen konnte.
„Was
soll das alles? Was wollen Sie von ihr?“ Sie hatte irgendwie
das unangenehme Gefühl, dass sie in eine Sache geraten war, die
viel gefährlicher war, als sie hatte ahnen können.
„Ich
habe es Ihnen doch schon gesagt: Sie haben sich da in eine Sache
eingemischt, die Sie nicht einmal annähernd verstehen!“,
antwortete der Hagere. Der Mann richtete sich von der inzwischen
vollständig wach gewordenen Love auf. Assayah bemerkte, dass man
sie nicht gefesselt hatte.
„So,
wir werden Sie beide jetzt alleine lassen. Es gibt noch genügend
andere Probleme, um die wir uns kümmern müssen.“ Mit
diesen Worten verließen die Männer die Halle durch die
Seitentür, durch die sie hier hereingebracht worden war.
Assayah
sah sich jetzt wieder nach Love um, die inzwischen aufgestanden war.
„Love, holen Sie mich aus diesen Fesseln raus, schnell! Ich
kann sie vielleicht noch...!“ Ihre Stimme erstickte in ihrer
Brust, als sie den Ausdruck in den Augen der jungen Frau sah, die
einige Meter vor ihr stand und auf sie hinunterblickte.
„Mein
Gott,...was haben sie mit Ihnen gemacht...?!“, flüsterte
sie entsetzt.
Einige
Sprünge über mehrere Kistenstapel und ein letzter Sprung
brachten Hitomi auf das Dach der Lagerhalle. Das Dach war leer und
mit feinem Kies bedeckt, in einiger Entfernung schien eine Treppe ins
Halleninnere zu führen. Sie lief in gebückter Haltung auf
diesen Eingang zu, stoppte aber augenblicklich, als sie hinter sich
schwere Schritte im Kies hörte.
Sie
wich dem Mann mit der durchschossenen Hand aus, als er sich schreiend
auf sie stürzte. Er hatte keine Waffe mehr, seine rechte Hand
konnte er nicht mehr gebrauchen. Ein Tritt von ihr ließ ihn
aufstöhnend in die Knie gehen, mit dem nächsten Tritt lag
er ohnmächtig auf dem Dach.
Sie
hatte keine Ahnung, wie viele von denen noch da waren. Sie wirbelte
auf dem Absatz herum, als sie hinter sich gedämpfte Stimmen
hörte. Sie kamen näher.
Als
der erste der beiden Männer gerade aus der Tür zum Dach
treten wollte, sandte ihn ein Kick von ihr schreiend rückwärts.
Er riß seinen Komplizen mit sich in die Tiefe. Sie hörte,
wie die beiden schreiend die Treppe hinunterfielen und dann hart auf
einer Plattform landeten, von wo aus eine Treppe weiter nach unter
führte.
Keine
Zeit zum Nachdenken, sie zog die Waffe aus dem Gürtel und war
durch die Tür verschwunden. Sie hielt die Waffe auf die beiden
liegenden Gestalten gerichtet, die sich nicht mehr rührten. Sie
überprüfte sie vorsichtig, sie waren nur bewußtlos
und würden es auch noch für eine Weile bleiben.
Jetzt
sah sie sich zum ersten Mal um. Sie befand sich auf der Treppe einige
Meter über dem Boden, in einem kleinen, vom Rest der Halle
augenscheinlich abgetrennten Teil. Es waren Kisten aufgestapelt, an
der einen Wand sah sie eine Tür.
Sie
behielt die Waffe in der Hand. Das hier war alles andere als Routine,
und sie musste jeden Augenblick darauf gefaßt sein, dass wieder
von irgendwoher die Kugeln flogen. All ihre Nerven und Muskeln waren
bis in die kleinste Faser angespannt. Ihr Herz begann schneller zu
schlagen, als sie mit angelegter Waffe langsam und vorsichtig die
noch verbleibenden Treppenstufen hinunterstieg.
Doch
alles schien still, nichts rührte sich. Sie hörte keinen
Laut mehr außer dem Geräusch ihrer eigenen Schritte auf
dem Metallgitter der Treppenstufen.
Sie
bemerkte die Anwesenheit eines anderen Menschen im Raum früher
als den Knall der Waffe. Sie stand jetzt auf festem Boden und warf
sich hinter eine der Kisten in Deckung. Noch im Liegen legte sie die
Waffe an und feuerte auf die Stelle, wo sie eben den Mündungsblitz
gesehen hatte.
Mit
einem schmerzhaften Schrei ging der Angreifer zu Boden. Sie wusste
nicht, ob sie ihn lebensgefährlich verletzt hatte, aber das war
ihr im Moment auch egal.
Sie
lag immer noch auf dem Betonfußboden. Plötzlich drehte sie
den Arm und feuerte auf den Schatten hinter ihr. Mit einem Schrei
wurde auch ihm die Waffe aus der Hand geschlagen, aber er trug keine
weiteren Verletzungen davon. Er stürzte sich auf sie. Nur aus
einem Reflex heraus packte sie den Angreifer beim Kragen und schmiß
ihn über sich hinüber. Er landete krachend in einem der
Kistenstapel und wurde von den Kisten begraben.
Sie
hatte ihre Waffe aus der Hand verloren, aber das kümmerte sie
nicht. Immer in Deckung der Kisten lief sie geduckt die wenigen Meter
bis zu der Tür, die aus dem Raum hinausführte.
Dicht
an die Wand gedrückt öffnete sie mit einer Hand die Tür,
die ohne einen Laut aufschwang. Als sie vorsichtig um die Ecke lugte,
sah sie vor sich den Hauptteil der Halle. Hier waren ebenfalls Kisten
teilweise bis unter die Decke aufgestapelt. Weiter hinten, in der
Nähe des großen Haupttores, standen zwei dunkle Wagen.
Allerdings schien sich hier drin niemand sonst aufzuhalten.
Sie
schlich sich weiter, ihre ganzen Sinne angespannt, auf jede noch so
kleinste Bewegung und jedes noch so kleinste Geräusch achtend.
Sie zuckte zusammen, als sie eine gedämpfte Stimme aus dem
hinteren Teil der Halle hörte. Das konnte doch gar nicht sein.
Hinter einem Kistenstapel verborgen beobachtete sie mit angehaltenem
Atem das Schauspiel, das sich ihr in einigen Metern Entfernung bot.
Sie
sah Unterinspektor Assayah mit Stricken an eine in der Wand
eingebetteten Stange gefesselt am Boden sitzen, vor ihr stand ihre
Schwester mit einer auf sie gerichteten Pistole. Sie konnte nicht
glauben, was sie
sah
und hörte, das konnte doch nur ein schrecklicher Alptraum sein.
„Sie
hätten sich früher überlegen müssen, mit wem Sie
sich anlegen!“ Die Stimme ihrer Schwester war eiskalt, fremd.
Sie hatte etwas mörderisch entschlossenes an sich, und Hitomi
fuhr unwillkürlich schaudernd zusammen. Das da konnte nicht ihre
Schwester sein, obwohl sie im selben Moment einsehen musste, dass sie
es eben doch war. Was hatten sie mit ihr gemacht? War das Zeug aus
den Ampullen dafür verantwortlich?
„Ich
weiß, dass Sie das nicht wirklich tun wollen, Love. Hören
Sie mir zu...!“ Assayah’s Stimme verriet ihre Angst,
hatte aber die Entschlossenheit der Polizistin noch nicht ganz
verloren. Sie wurde von einem Schlag ins Gesicht unterbrochen.
„Seien
Sie still! Sie bringen mich nicht davon ab!“, zischte Love und
entsicherte die Waffe.
Eine
Karte flog blitzartig auf sie zu und riß ihr die Pistole aus
der Hand. Die Karte bohrte sich weiter hinten in das Holz einer
Kiste, die Waffe schlitterte außer Reichweite. Mit einem Schrei
wirbelte Love herum.
„Ich
kann dich das nicht tun lassen!“ Hitomi hatte keine Ahnung, wie
sie die Worte so ruhig herausbrachte, als sie langsam aus ihrer
Deckung hervortrat.
Der
Ausdruck in den Augen ihrer Schwester hatte nichts Warmes an sich, er
war kalt, fremd. Ihre Augen funkelten in Haß, Kälte und
Hohn auf sie und ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Einen solchen Ausdruck hatte sie noch niemals gesehen, etwas derartig
Fremdes...
Mit
einem kalten Hochziehen eines Mundwinkels, das sehr an das
Zähnefletschen eines Tigers erinnerte, erwiderte Love: „Du
warst in meinem Plan nicht vorgesehen, Schwesterchen...!“
„Das
ist nicht dein Plan! Das ist Berger’s Plan, oder?!“
Die
beiden Schwestern standen sich einige Momente schweigend gegenüber,
sie schienen alles andere um sich herum vergessen zu haben. Wieder
grinste Love. „Gut, dann werde ich dich eben auch töten...!“
„Ich
weiß nicht, was sie mit dir gemacht haben. Aber du musst
dagegen ankämpfen! Ich weiß, dass du noch da drin bist, du
bist kein Mörder...!“
Die
beiden begannen im Kreis zu gehen, den anderen nicht eine Sekunde aus
den Augen lassend. Hitomi wusste, sie musste ihre Schwester zur
Vernunft bringen, sah aber ihre Chancen mit jedem kalten Blick
schwinden, sie mit Worten von der Wirkung dieser Drogen zu befreien.
„Berger
hat dir das angetan, stimmt’s?! Wenn er es bei Vater nicht
schafft, will er zumindest uns zerstören...!“
Love
bückte sich, ohne ihre Schwester dabei aus dem Blick zu lassen.
Sie hatte eine Eisenstange in der Hand, die sie zum Zuschlagen bereit
hielt. Hitomi war klar, dass sie nicht zögern würde, auf
sie damit loszugehen. Diese Drogen schienen die Person, die sie sonst
war, zu unterdrücken und durch eine völlig neue zu
ersetzen.
„Ich
werde nicht mit dir kämpfen, Love.“
Ein
eiskaltes Aufblitzen in den Augen ihrer Schwester. „Dann
stirbst du eben ohne Kampf!“ Sie stürmte auf sie zu, die
Stange gegen ihren Kopf gerichtet.
Hitomi
wich ihr aus, hörte das Holz der Kiste splittern, als die
Eisenstange über ihren Kopf hinwegschlug. Love drehte sich
blitzschnell um und schlug ein zweites Mal zu. Auch diesmal verfehlte
sie sie. Aber Hitomi merkte, welche Kraft hinter den Schlägen
steckte. Sie hätte ihr sofort den Schädel zertrümmert,
wenn sie getroffen hätte. Die Drogen schienen ihre Kräfte
auf eine merkwürdige Art und Weise zu mobilisieren.
„Love,
komm wieder zu dir!“ Sie wich einem erneuten Angriff nur knapp
aus, spürte den harten Luftzug an ihrem Kopf. „Die haben
dir Drogen gegeben!“
Die
einzige Anwort war ein Schrei, wieder sah sie die Stange auf sich
zurasen. Wieder wich sie aus und hatte in der nächsten Bewegung
die Stange mit beiden Händen gepackt. Beide hielten jetzt die
Stange, es war ein Kräftemessen. Es war unglaublich, wie die
Drogen die Kräfte ihrer Schwester vervielfacht hatten. Beiden
rangen miteinander.
Sie
spürte, wie sie zurückgedrängt wurde, wie sie dieses
stumme Kräftemessen zu verlieren begann. Die Wunde des
Streifschusses von gerade eben hatte sie zusätzlich geschwächt,
sie wusste nicht, welche Kraft sie noch von ihrer Schwester zu
erwarten hatte.
Die
Stange wurde ihr mit einem Ruck aus den Händen gerissen. Sie sah
noch, wie die Stange herumgeschwungen wurde und duckte sich
instinktiv. Ein kurzer, stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf,
der ihre Nervenbahnen entlangraste. Sie spürte das Blut an ihrer
Stirn herablaufen, für Augenblicke begann sich ihr Blick zu
vernebeln. Sie verlor leicht das Gleichgewicht, ihre Gedanken
schienen auf eine merkwürdige Art und Weise eine Zeit lang wie
eingefroren zu sein.
Sie
sah wie in Zeitlupe, wie die Stange ein zweites Mal auf sie zukam.
Ihre jahrelang trainierten Instinkte übernahmen die Kontrolle
über ihren Körper, sie trat ihr die Stange mit einem harten
Kick aus der Hand. Sie hörte den Stahl einige Meter weit von
ihnen entfernt mit einem Klirren auf den Boden schlagen. Love wich
leicht zurück, ließ sie aber keine Sekunde aus den Augen.
„Ich
bin nicht dein Feind...! Du darfst dich nicht von ihm unter Kontrolle
halten lassen.“
„Du
sagst mir nicht, was ich tun soll...!“, wurde sie von Love
knurrend unterbrochen. Das kalte Funkeln in ihren Augen wurde zu
einem offenen Feuer, das alles vernichtete, das wagte in seinen Weg
zu treten. Hitomi sah sich momentan von diesen Augen gefangen, es
war, als hätten sie eine eigenartige Wirkung, die sie in ihren
Bann zog. Sie wollte sich von diesem Blick losreißen, doch sie
konnte nicht. War das so etwas wie Hypnose, die sich nun auch auf sie
übertrug? Mit einem entfernten Gedanken dachte sie an die
Polizistin, die immer noch an die Wand gefesselt war. Der Gedanke
verschwand jedoch so schnell, wie er gekommen war, als sie Love einen
Schritt auf sich zutreten sah, und immer noch konnte sie ihren Blick
nicht aus dem ihrer Schwester loslösen.
„Das
hast du lange genug getan...!“, zischte Love. Hitomi sah sie
wie in Zeitlupe auf sie zukommen, sie schien von ihren Augen noch
immer festgehalten zu werden, denn sie konnte sich einfach nicht
bewegen. Sie sah den Schlag kommen, doch sie konnte nichts tun, um
ihm auszuweichen, sie schien auf den Boden festgezaubert worden zu
sein. Erst der Schmerz rüttelte sie aus ihrer Erstarrung wieder
wach, sie taumelte von der Wucht des Schlages gezwungen nach hinten,
das Blut lief ihr aus dem Mundwinkel.
Ungläubig
wischte sie sich das Blut vom Gesicht, dann blieb ihr keine Zeit mehr
zum Nachdenken. Sie hörte mehr den Luftzug des Schlages, als
dass sie die Faust wirklich sah. Ihre Hand schnellte hoch, sie packte
Love’s Handgelenk und hatte sie im nächsten Moment mit
Hilfe ihrer zweiten Hand weit von sich geschmissen. In dem Stoß
lag eine solche Wucht, dass die Überraschte einige Meter
entfernt auf dem Boden landete.
Für
einen kleinen Moment schien das Feuer in den Augen ihrer Schwester zu
versiegen, als sie dort auf dem Boden lag und sie sich sekundenlang
wieder nur ansahen. Wieder hatten die Instinkte Kontrolle über
ihren Körper genommen. Hitomi hatte keine Ahnung, was sie gerade
eben an den Blick ihrer Schwester gefesselt hatte, aber so einfach
würden die nicht damit durchkommen.
„Das
bist nicht du! Wenn du mich umbringen willst, musst du mich schon
holen...!“ Mit diesen Worten sprang sie hoch in die Luft,
landete auf einem Kistenstapel, sprang auf einen weiteren und war in
der nächsten Sekunde auf dem Metallgitter des von der Decke her
angebrachten Ganges gelandet. Die vermutlich für die Arbeiter
angebrachten Fußsteige unter der Decke zogen sich beinah durch
die ganze Halle, immer am Rand entlang. An einigen Stellen führten
Treppen nach unten, an einer Stelle auch nach oben aufs Dach.
Sie
sah, wie sich ihre Schwester mit einem kalten Grinsen um die
Mundwinkel vom Boden aufrichtete. Mit wenigen Sprüngen über
die Kistenstapel war sie bei ihr. Sie stieg über das Geländer
ohne sie dabei ein einziges Mal aus den Augen zu lassen.
Hitomi
sah wieder das Feuer in den Augen ihrer Schwester, während sie
sich beide auf dem schmalen Gitter des Ganges gegenüberstanden.
Links und rechts war das Geländer, über ihnen die Decke,
einige Meter unter ihnen lag die Halle mit ihren
aufeinandergestapelten Kisten.
Es
gab hier keinen Weg an der Konfrontation vorbei, aber sie war sich
inzwischen nicht mehr sicher, ob sie es überhaupt noch vermeiden
konnte, mit ihr zu kämpfen. Sie schien mit Worten bei ihr nichts
zu erreichen. „Na..., merkst du, dass ich besser bin als du,
Schwesterchen?!“ In Love’s Stimme lag eiskalter Hohn, sie
trat einen Schritt vor. Hitomi wich unter ihrem stechenden Blick
unwillkürlich zurück.
„Du
wirst nichts tun können, um mich aufzuhalten...!“, fuhr
Love lachend fort, es klang wie das Lachen eines Raubtieres kurz vor
dem Sprung.
Hitomi
wartete keine Sekunde länger. Völlig unerwartet sprang sie
hoch in die Luft und dann mit einem Salto über Love hinweg. Sie
landete hinter ihr, ihre Schwester wirbelte herum.
„Wenn
du mich haben willst, musst du schon schneller sein!“
Love
schmiß sich ihr mit einem Schrei entgegen. Das kam so
unerwartet, dass Hitomi keine Zeit mehr zum Ausweichen blieb, sie
wurde von der Wucht mit ihrer Schwester zusammen nach unten auf die
Metallgitter geworfen. Sie landeten hart auf dem Gitter, der Schmerz
des Aufpralls fraß sich momentan durch ihre Nervenbahnen.
Eine
Sekunde lang sah sie die Blitze sprühenden Augen über sich,
dann wurde sie von einem Faustschlag getroffen, der ihren Kopf hart
gegen den Stahl knallen ließ.
Der
Schmerz flammte in ihrem Gehirn auf wie ein leuchtend rotes
Warnfeuer, für Momente konnte sie keinen klaren Gedanken mehr
fassen.
Ihre
Instinkte reagierten selbst für sie ungewöhnlich heftig,
als sie mit ihrer freien Hand Love einen Kinnhaken verpaßte,
die mit einem schmerzlichen Zischen den Griff um ihr anderes
Handgelenk lockerte. Das verschaffte ihr den Raum, ihr rechtes Bein
zu benutzen, um die über ihr Liegende mit einem heftigen Stoß
zurückzuschlagen.
Love
kam dadurch wieder auf die Beine, es entstand ein Raum von mehreren
Metern zwischen ihnen. Das ließ Hitomi die Zeit selber wieder
aufzustehen. Sie fühlte sich von dem Schlag benebelt und spürte
das warme Blut an ihrem Kinn hinablaufen, doch sie schaltete das
jetzt alles aus.
Sie
standen sich beide schwer atmend gegenüber, der Blick in den
Augen ihrer Schwester machte Hitomi von Sekunde zu Sekunde mehr
Angst. Aber noch viel mehr Angst machte ihr ihre eigene Reaktion. Sie
spürte, wie sie zusehends die Kontrolle verlor. Sie durfte nicht
vergessen, dass das immer noch ihre Schwester war, mit der sie da
kämpfte, auch wenn die jetzt eine völlig Andere geworden zu
sein schien.
„Siehst
du denn nicht, dass Berger dich benutzt, uns beide benutzt?!“
Sie wischte sich dabei das Blut vom Kinn und trat einen Schritt auf
Love zu. „Er ist der Feind, nicht ich...! Er ist der, der uns
unseren Vater genommen hat!“
Sie
hatte gehofft, dass die Erwähnung ihres Vaters zumindest irgend
etwas in ihrer Schwester auslösen würde. Sie musste die
Kontrolle wiedergewinnen, wenn eine von ihnen beiden sie schon
verloren hatte, durfte sie sie nicht auch noch verlieren.
„Du
lügst! Das ist nicht wahr!“, knurrte ihr Gegenüber
und kam einen Schritt näher. Die Distanz zwischen ihnen hatte
sich auf Armeslänge verringert.
„Das
ist es, oder?! Er hat deine Erinnerung nicht irgendwie gelöscht,
er hat die Wahrheit verdreht...!“
Sie
sah die Augen ihrer Schwester wieder gefährlich aufflammen und
machte sich dazu bereit, einem erneuten Angriff zu entgegnen.
„Wahrheit...!“,
schnaubte Love. „Was ist denn schon Wahrheit in unserem Leben?!
Die ganzen letzten Jahre haben wir nach einer Lüge gelebt!“
Sie
griff wieder an, doch Hitomi parierte den Schlag und hielt ihr
Handgelenk wie mit einer Eisenklammer, ihre andere schloß sich
um die Schulter ihrer Schwester. Ihre Augen verfinsterten sich, sie
zog die Augenbrauen zusammen.
„Sie
hetzen uns gegeneinander auf, merkst du das nicht?! Was immer sie dir
gesagt haben, es ist nicht wahr!“
„Nein!“
Es war ein zorniger Aufschrei, mit dem sich Love ruckartig aus ihrem
Griff befreite. Von einem harten Faustschlag getroffen wurde Hitomi
gegen das Geländer zurückgeschleudert. „Was weißt
du denn schon von Wahrheit?!“
Ein
weiterer Schlag ließ sie fast in die Knie gehen. Über sich
sah sie das vor Zorn zu einer steinernen Maske gewordene Gesicht. „Du
hast alle belogen, selbst Toshi! Also erzähl’ mir nichts
von Wahrheit!“
Hitomi
benutzte ihr rechtes Bein um ihr beide Beine wegzufegen, Love stieß
einen überraschten Schrei aus. Sie ließ ihre Faust hart
gegen Love’s Kinn fahren, so dass ihre Schwester zur Seite auf
das Geländer stürzte. Sofort war Hitomi wieder auf den
Beinen. Alles in den letzten Sekunden hatte sich automatisch
abgespielt, sie fühlte, wie sie wieder die Kontrolle über
sich verlor. „Ja, ich habe gelogen. Genau wie wir alle den
Preis gezahlt haben.“
Love
lag immer noch auf dem Gitter und kam jetzt langsam wieder hoch.
„So
einfach werde ich es ihm nicht machen!“ Mit diesen Worten
sprang Hitomi über das Geländer auf einen Kistenstapel und
dann mit einem Salto auf festen Boden.
Assayah
sah Hitomi wieder auf dem Boden landen, sie schien den Sprung
scheinbar mit Leichtigkeit zu schaffen - sie hatte ihn in den letzten
Jahren sicher auch mehr als einmal ausgeführt.
Das
war Wahnsinn, was hier vor ihren Augen ablief. Diese ganze Situation
war wahnsinnig, noch immer spürte sie die beängstigen Augen
von Love sich in ihre brennen. Da war nichts gewesen außer
Finsternis und Haß.
Sie
selbst war hier an die Wand gefesselt und musste hilflos mit ansehen,
wie die beiden Schwestern sich halb zu Tode schlugen. Sie fing einen
kurzen Blick von Hitomi auf, der ihr sagte, wie viel Angst sie um
ihre Schwester hatte. Sie sah die Angst, die Kontrolle über sich
und die Situation zu verlieren auf ihrem Gesicht geschrieben, bevor
der Blickkontakt zwischen ihnen abriß. Love war inzwischen auch
hinuntergesprungen, sie standen sich wieder gegenüber.
Neben
ihnen beiden türmten sich einige der Kisten zu Stapeln auf. Das
Blut lief Love am Kinn hinunter, sie schien es nicht zu bemerken.
Hitomi dachte daran, dass sie dafür verantwortlich war, und ihr
liefen Schauer den Rücken herunter. Die Augen ihrer Schwester
waren noch genauso angsteinflößend, kalt und fremd, aber
gleichzeitig von einem unheimlichen Feuer.
Sie
sah etwas in ihrer Hand aufblitzen, im nächsten Augenblick sah
sie es auch in Love’s Augen wieder aufblitzen. Sie kam einen
Schritt auf sie zu, Hitomi wich zurück, jeden kleinsten Teil
ihres Körpers angespannt.
Love
verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. „Hast du etwa Angst vor
mir, große Schwester?!“
„Du
musst aufhören damit...!“ Sie wich einen weiteren Schritt
zurück. „Weißt du noch, was für ein Gefühl
es war, Vater zu verlieren? Nicht zu wissen, ob er noch lebt, oder ob
sie ihn umgebracht haben...! Berger ist all die Jahre damit
durchgekommen, und er kommt wieder damit durch, wenn wir ihn diesmal
nicht stoppen!“
Sie
blieb stehen, fixierte den Blick ihrer Schwester. Diesmal würde
sie die Kontrolle behalten, Berger konnte sie nicht zerstören...!
„Du
bist schlau, aber das wird dir jetzt nichts mehr nützen...!“
Hitomi
sah, wie Love ihr scheinbar in Zeitlupe entgegenflog, die Klinge
blitzte in ihrer Hand, sie war gegen sie gerichtet. Sie blockte den
Arm ab, die Klinge des Springmessers war nicht weit von ihrer Kehle
entfernt. Für eine halbe Ewigkeit sahen sie sich an, sie sah in
den Augen ihrer Schwester den Haß lodern, den unkontrollierten
Spaß am Töten...!
Lange
würde sie das mit ihrer Armverletzung nicht mehr durchhalten,
sie spürte, wie sie zurückgedrängt wurde, sie hatte
keine Wahl als dem enormen Druck nachzugeben. Die Schmerzen waren
vergessen, wieder war sie in ihren Augen gefangen.
„Merkst
du, wie du verlierst?!“, grinste Love höhnisch.
Das
riß Hitomi aus ihrem Bann. Mit einem wütenden Knurren
verdrehte sie ihr den Arm plötzlich und so heftig, dass diese
mit einem überraschten und schmerzhaften Aufschrei die Waffe
fallen lassen musste. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte
ihr den Arm gebrochen. Sie erwartete fast das Knacken von Knochen zu
hören. Mit der zweiten Hand packte sie ihre Schulter, die andere
behielt Love’s Arm in einem eisernen Griff.
Mit
einem Schrei schleuderte sie sie weit von sich. Love wurde dadurch
hart gegen einige Kisten geworfen, sie hörte das Holz splittern.
Einige Sekunden lang war alles still. Sie sah ihre Schwester dort
zwischen den Kisten liegen, sie richtete sich nur langsam wieder auf.
Sie
hatte schon wieder die Kontrolle verloren. Ihr erster Impuls war, zu
ihr hin zu laufen und ihr zu helfen. Als sie sich daran erinnerte,
dass Love nicht mehr sie selbst war, blieb sie stehen. Sie stand
einfach nur da und sah zu, wie Love mit etwas Mühe wieder auf
die Beine kam.
Als
sie ihren Blick hob und ihr in die Augen sah, erschrak Hitomi. Das
Blut lief ihrer Schwester die Schläfe hinab, der Mund war wieder
zu einem Grinsen verzogen.
„Endlich
fängst du mal richtig an zu kämpfen...! Na los, komm schon,
zeig, was du drauf hast, Katze...!“ Sie kam langsam einige
Schritte auf sie zu, sie hinkte leicht, aber das schien sie nicht zu
stören.
„Wir
müssen aufhören damit, wir beide...! Wir müssen die
Kontrolle behalten!“ Hitomi wich einen Schritt zurück,
während Love immer näher kam.
„Aber
es macht Spaß die Kontrolle zu verlieren, nicht wahr?!“
Plötzlich
warf sie sich ihr mit einem Schrei entgegen. Hitomi kam es so vor,
als würde sie für unendliche Sekunden in der Luft schweben,
als würde der Schrei für eine Ewigkeit zwischen ihnen
hängen. Sie spürte, wie sie auf einmal das Messer in der
Hand hatte, Love wich mit einem Schrei zurück.
Sie
sah eine Mischung aus Überraschung, Schmerz und Unglauben in
ihren Augen, und zuerst wusste sie nicht, was passiert war.
Erst
als Love zurückstolperte, sah sie den Griff des Messers aus
ihrer Brust ragen.
Die
Zeit stoppte, alles stoppte. Ihre Blicke waren miteinander
verschlungen, alles andere hörte auf zu existieren. Wie in einem
Traum sah sie Love den Griff mit beiden Händen umfassen, sie zog
die Klinge heraus. Das blutige Messer landete mit einem Klirren auf
dem Boden, das in ihren Ohren laut und schrecklich klang.
Sie
konnte sich nicht bewegen, keinen einzigen Muskel, ihre Gedanken
schienen still zu stehen, sie stand wie angewurzelt da. Sie war in
ihrer Bewegung erstarrt, sie sah das T-Shirt ihrer Schwester rot
werden vom Blut. Love taumelte weiter zurück. Der kalte, fremde
Blick schwand aus ihren Augen, aber das Blut war immer noch da.
Hitomi sah den Schock in ihren Augen, Love betrachtete ungläubig
das Blut an ihren Händen. Schließlich sank sie an einem
Kistenstapel zu Boden.
Jetzt
endlich fand Hitomi die Kraft einen Fuß vor den anderen zu
setzen. Das konnte nur ein schrecklicher Alptraum sein, das durfte
einfach keine Realität sein...! Sie war bei, kniete neben ihr.
„Hitomi...,
was passiert mit mir?!“ Ihre Stimme hatte den fremden Klang
verloren, es war nur ein Flüstern. Hitomi hielt ihre Schwester
in den Armen, fürchterliche Angst und tiefer Schock in ihren
Augen
„O
Gott, was...was hab’ ich getan?!“, stammelte sie. Sie
wollte nicht, konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war.
Love
berührte mit einer Hand ihre, Hitomi spürte das warme Blut
daran. „Nicht deine Schuld...meine...!“ Sie sprach noch
leiser und begann, die Augen zu schließen. „Müde...!“
Es war nur noch ein schwaches Flüstern.
„Nein,
bleib’ wach! Bleib’ hier, Love...!“ Kalte Angst
packte sie, als sie ihre Schwester sterben sah.
„Kann
nicht...!“ Es war fast nur ein Hauch, ihre Augen waren beinah
ganz geschlossen.
Für
eine Ewigkeit war alles still, alles war gestoppt und eingefroren.
Nichts um sie herum hatte mehr eine Bedeutung. Sie sah auf das
Gesicht ihrer Schwester in ihren Armen nieder. Sie sah dort die
furchtbare Gewißheit, dass sie ihre eigene Schwester umgebracht
hatte...!
„Nein!!!“
Der
Schrei hallte tausendfach in ihren Ohren wieder und zerriß die
Stille mit grausamer Gewalt. Mit ihrem Taschenmesser hatte Assayah es
endlich geschafft, sich von den Fesseln zu befreien. Sie war
aufgesprungen und stand jetzt stocksteif da.
In
einiger Entfernung sah sie Hitomi auf dem Boden knien, ihre Schwester
in den Armen haltend. Die Polizistin fühlte sich leicht
benommen, das hätte nicht so passieren dürfen. Wer immer
der Hagere war, und was immer er von ihnen wollte, er hatte gewonnen.
Er hatte die beiden Schwestern bewußt gegeneinander aufgehetzt
und hatte sie selbst zur hilflosen Zeugin des unheimlichen
Schauspiels werden lassen.
Sie
hatte es geschafft, sie war endlich am Ziel. Sie hatte Katzenauge
endgültig enttarnt, aber im Moment war ihr nicht nach Feiern zu
Mute. Sie spürte keinen Triumph, keine Befriedigung, sie fühlte
sich, als hätte sie gewonnen, aber dennoch verloren.
Langsam
trat sie auf die beiden zu. Hitomi hob den Kopf, ihr Gesicht war
überströmt von Tränen und Blut, ihre Augen leer und
ausdruckslos. Assayah erschrak, das hatte sie so nicht gewollt...!
Vorsichtig
ließ Hitomi den leblosen Körper ihrer Schwester zu Boden
gleiten und richtete sich auf. Ihr Hemd war auch voller Blut, sie
hatte getrocknetes Blut an ihrem Arm von der Wunde eines
Streifschusses. Die Haare hingen ihr wirr in die Stirn, aber das
furchteinflößendste waren ihre Augen. Da war nichts, sie
waren absolut leer. Sie sah sie auch gar nicht direkt an, sondern an
ihr vorbei.
„Jetzt
können Sie mich als Dieb und als Mörder verhaften...!“
Ihre Stimme war tonlos und genauso leer wie ihre Augen.
Assayah
stand immer noch regungslos da, sie brachte keinen Ton heraus. Hitomi
ging an ihr vorbei, die Augen dabei die ganze Zeit auf etwas hinter
ihr gerichtet. Erst als die Polizistin sich umdrehte, sah sie den
Hageren dort vorne im dämmerigen Licht stehen.
Obwohl
Hitomi ihn niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie
sofort, wer es war. Sie hatte alles andere vergessen, die Polizistin,
einfach alles. Sie wusste nur, dass er dafür verantwortlich war.
Er hatte ihren Vater seit Jahrzehnten gejagt, er hatte sie dazu
gebracht, dass sie ihre Schwester...!
Sie
ging auf ihn zu, kam ihm Stück für Stück näher.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, schlugen mit voller Wucht auf
sie ein, kamen immer wieder. Sie hatte kein Chance ihnen
auszuweichen, vor ihnen zu fliehen, und je öfter sich die
Gedanken in ihrem Kopf wiederholten, desto willenloser wurde sie
ihnen gegenüber. Sie hatte ihren Entschluß schon längst
gefaßt.
Sie
wusste nicht wie, aber plötzlich hatte sie die Waffe in der
Hand, diejenige, die sie ihrer Schwester vorhin aus der Hand
geschmettert hatte. Ihr Kampf flimmerte noch einmal in
sekundenschnelle an ihr vorbei, das „vorhin“ schien eine
Ewigkeit entfernt zu sein. Das schwere Metall fühlte sich gut
an, es gab ihr die Kontrolle wieder, die sie unbedingt wiederbekommen
wollte.
Berger
stand alleine und unbewaffnet völlig ruhig da, er bewegte sich
auch nicht, als sie die Waffe entsicherte und auf ihn anlegte. Der
Lauf war auf seine Brust gerichtet, es wäre so einfach jetzt
abzudrücken. Sie merkte nicht einmal mehr, wie ihre Füße
den Boden berührten, sie sah nichts außer dem Metall der
Waffe vor ihren Augen und das Ziel, auf das sie gerichtet war.
Berger
schwieg noch immer, je länger sein kalter, gleichgültiger
Blick auf ihr lag, desto wütender wurde sie.
Sie
hatte ihn erreicht, die Waffe berührte schon fast seine Brust.
Sie standen nur stumm da und sahen sich an.
Sie
sah sich selbst abdrücken, ein, zwei, drei Mal. Sie hörte
den Knall der Waffe, sah den entsetzten Ausdruck in seinen Augen. Als
er sich mit schmerzverzogenem Gesicht an die Brust griff, war das
Blut an seinen Händen genauso rot wie das ihrer Schwester. Sie
sah den alten Mann zusammenbrechen und verzog den Mund zu einem
grimmigen Lächeln.
Plötzlich
fror alles in der Bewegung ein, sie stand immer noch da, die Waffe
auf den vor ihr Stehenden gerichtet. Es dauerte eine Sekunde, bis ihr
bewußt wurde, dass sie nicht abgedrückt hatte. Einige
Augenblicke lang war Stille.
„Na
los, Katzenauge, drücken Sie schon ab! Nach all der Zeit haben
Sie ein Recht dazu.“ Seine Stimme war vollkommen ruhig. Er
wusste, er hatte so oder so schon gewonnen, er hatte sie zerstört.
Ein
harter Schlag von ihr ließ ihn in die Knie gehen, Blut lief ihm
aus einem Mundwinkel. Sie stand über ihm, die Waffe an seiner
Stirn.
„Sie
hatten das von Anfang an geplant, nicht wahr?! Alles hat hervorragend
in ihren Plan gepaßt...!“ Ihre Stimme war eiskalt, aber
auch voller Wut, Schmerz und Haß. Dieser Bastard verdiente
nichts anderes als den Tod!
„Sie
haben ihn niemals in Ruhe gelassen, Sie haben ihn die ganzen 40 Jahre
gejagt!“
Er
wischte sich das Blut vom Kinn und stand langsam wieder auf. „Sie
können mich erschießen, wenn Sie wollen. Ich bin ein alter
Mann, ich habe meine Zeit gehabt. Sehen Sie mich an, alles, was ich
jetzt noch habe, ist ein bißchen Macht.“
Ein
weiterer Faustschlag traf ihn. „Was hat er Ihnen denn getan?!“,
schrie sie.
„Er
existiert.“ Er machte eine kurze Pause. „Es wäre
alles gut gegangen, aber dann tauchte Ihr Vater in Bern wieder auf.“
Langsam kam er hoch, sie hielt die Mündung der Waffe immer noch
auf ihn gerichtet.
„Er
hätte es niemals ohne Sie geschafft, Sie waren der Schlüssel
seiner Stärke. Wenn also die Töchter von Heintz zerstört
sind, wird auch er zerstört sein!“
„Nein...!“
Mit diesem wütenden Schrei schlug sie ihn ein weiteres Mal. Er
taumelte zurück, blieb aber auf den Beinen.
„Vielleicht
haben Sie uns zerstört, aber ihn werden Sie niemals kriegen!“
Eiskalte Wut lag in ihrer Stimme, sie holte kurz aus und schlug ihm
den harten Metallgriff der Waffe ins Gesicht. Er wehrte sich immer
noch nicht.
Er
ging vom Schmerz gezwungen in die Knie, ein Fußtritt ließ
ihn rückwärts auf den Betonboden schlagen. Sie kümmerte
sich nicht darum, ob sie ihn zu Tode prügelte oder nicht. Dieser
Kerl war für jede einzelne Sekunde der Sorge und der Angst der
letzten Jahre verantwortlich, er hatte ihrer Schwester diese Drogen
gegeben. Bilder der letzten Minuten ihres Kampfes mit ihr rasten in
Fetzen durch ihren Kopf. Der ungläubige Ausdruck in Love’s
Augen, als sie das Messer fallen ließ. Wie sie die Augen
schloß.
Sie
sah Berger vor sich liegen, sah im Geiste noch einmal diese ruhige
Gewißheit des Sieges in seinen Zügen. Sie trat zu, hörte
das dumpfe Geräusch, als ihr Stiefel hart mit seinen Rippen
kollidierte. Er krümmte sich zusammen vor Schmerzen.
Schon
war sie über ihm, zog ihn hoch und stieß ihn rückwärts
gegen die Wand. Sofort hatte sie ihn am Kragen gepackt, die Waffe lag
an seiner Schläfe. Sein Gesicht war blutüberströmt, er
war fast bewußtlos.
Sie
hatte gedacht, dass es schwieriger wäre, jemanden umzubringen.
Jetzt schien es so leicht, so einfach. Immer wieder sah sie das
Gesicht ihrer Schwester vor sich, sah das Blut an ihren eigenen
Händen. Sie war auf einmal ganz ruhig. Der Schmerz hämmerte
zwar immer noch in ihrem Kopf, aber er war jetzt leichter zu
ertragen. Sie war bereit abzudrücken, und sie wusste, das würde
sie auch...!
Eine
Seitentür wurde aufgestoßen, sie fuhr herum, hielt Berger
dabei weiter am Kragen gepackt vor sich. Eine Gestalt erschien in der
Tür und trat jetzt langsam näher. Sie erstarrte, als sie
ihren Vater erkannte. Es konnte nicht sein, das war nicht real.
Er
kam Schritt für Schritt näher, sein Blick lag nur auf ihr
und Berger, der immer noch nicht wieder richtig bei Bewußtsein
war. Er war kaum gealtert, er sah beinah noch genauso aus wie vor
sechseinhalb Jahren. Dann stand er da, nur wenige Meter von ihnen
entfernt.
„Hitomi...!“
Es war so lange her, seit sie seine Stimme das letzte Mal gehört
hatte. Es war doch alles nur ein Traum, oder?
„Vater?!“
Es war eine ungläubige Frage, sie konnte immer noch nicht recht
glauben, dass das wirklich wahr sein konnte.
„Hitomi,
bitte laß die Waffe fallen.“ Er trat langsam einen
weiteren Schritt auf sie zu.
Sie
hatte die Mündung immer noch an Berger’s Schläfe,
ihre andere Hand hielt mit unverminderter Härte seinen Kragen
gepackt.
„Ich...ich
kann nicht...!“
„Doch,
du kannst.“ Seine Stimme war sanft und fest. „Wirf dein
Leben nicht weg wegen ihm, er ist es nicht wert.“
„Das
spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Love ist tot! Ich hab’ sie
umgebracht!“, schrie sie. Ihre letzten Worte trafen sie selbst
am allerschlimmsten. „Ich hab’ sie umgebracht...“,
wiederholte sie leise.
Assayah
hatte alles verfolgt, was in den letzten Minuten geschehen war.
Plötzlich ließ sie etwas den Kopf drehen, sie hatte etwas
wahrgenommen, wusste aber nicht, was es war oder woher es stammte.
Erst eine Sekunde später bemerkte sie, was ihre Aufmerksamkeit
erregt hatte. Sie kniete bei Love nieder; ihr Hemd war noch genauso
rot vom Blut wie vorher, ihre Augen waren geschlossen, aber etwas war
anders. Da war es wieder, ein leichtes Klopfen, eher ein Kratzen. War
da noch Leben?
Hoffnung
keimte in ihr, als sie sofort den Puls untersuchte. Er war sehr
schwach, dennoch war er da. Auch die Atmung war flach, aber sie
lebte!
Sie
sah, wie Love eine Hand bewegte, der Zeigefinger fuhr auf dem rauhen
Betonboden entlang und erzeugte dieses kratzende Geräusch. Sie
war zwar nicht bei Bewußtsein, aber...!
„Sie
ist am Leben!“ Als sie das hörte, drehte Hitomi
augenblicklich den Kopf zur Seite. Was war das gewesen? Sie sah die
Polizistin bei ihrer Schwester auf dem Boden knien. Assayah sah jetzt
hoch.
„Sie
lebt noch, aber wir müssen ihr schnell helfen!“
Hitomi
schwankte zwischen neuer Hoffnung und Unglauben. Sie sah wieder ihren
Vater an, der noch genauso da stand wie zuvor. Immer noch hielt sie
Berger die Waffe an die Schläfe, sie glaubte, er wäre auf
dem Boden zusammengesunken, würde sie ihn nicht aufrecht halten.
Ihr
Vater hielt ihr eine Hand entgegen. „Hitomi, gib’ mir die
Waffe...!“, wiederholte er sanft. „Es ist noch nicht zu
spät.“
Berger
bewegte sich leicht, automatisch verstärkte sich ihr Griff an
seinem Kragen. „Wir können ihn jetzt nicht so einfach
davonkommen lassen,...nach allem, was er dir angetan hat.“
„Er
wird nicht davonkommen, diesmal nicht. Er oder die anderen aus seiner
Gruppe werden nie wieder ein Verbrechen begehen. Es ist vorbei,
Hitomi.“
Sie
warf einen weiteren Blick zu ihrer Schwester und der daneben knienden
Polizistin hinüber, beinahe so, als erhoffe sie sich dadurch
irgendeine Antwort. Es war so oder so zu spät, egal was sie
jetzt tat. Assayah würde sie hinter Gitter bringen, sie hatte
genug gesehen und gehört um sie zehnmal zu verhaften.
Sollte
es tatsächlich so enden? Sie hatten alles gewonnen, alles
erreicht, wofür sie die ganzen Jahre gekämpft hatten.
Selbst wenn ihre Schwester noch lebte, sie hatten doch alles gewonnen
und im selben Moment alles verloren.
Sie
sah ihren Vater wieder an. Ob ihm klar war, dass er seine Töchter
wieder hatte nur um sie gleich darauf zu verlieren? Was machte es
dann noch für einen Sinn? Ob Berger jetzt starb oder seinen
Prozeß bekam, war doch egal. Wenn er wegen seines Alters
überhaupt verurteilt würde, die wenigen Jahre, die er
danach im Gefängnis verbringen würde, könnten niemals
das aufwiegen, was er ihnen allen angetan hatte. Also war doch der
Tod die einzige angemessene Strafe für seine Jahrzehntelangen
Verbrechen, oder?
Wenn
du ihn jetzt erschießt, hat er gewonnen, antwortete die andere
Stimme in ihr. Er will doch, dass du ihn umbringst. Das ist sein
Plan, sein allerletzter Versuch, dich für seine Zwecke zu
manipulieren. Wenn du ihm helfen willst, seiner Strafe zu entgehen
und gleichzeitig dich selbst zu zerstören, dann nur zu, drück’
ab...!
Dieser
Streit in ihrem Inneren schien eine Ewigkeit zu dauern, so dass sie
kaum bemerkte, wie sie Berger die Waffe von der Schläfe nahm.
Sie ließ ihn los, er taumelte nach vorne. Der Metallgriff der
Waffe traf ihn in den Nacken, er sackte ohne einen Laut bewußtlos
auf dem Boden zusammen. Sie hatte gar nicht richtig mitgekriegt, was
sie in den letzten Sekunden getan hatte, als sie die Waffenmündung
auf den Boden haltend ihrem Vater gegenüber stand.
Sie
hörte kaum das Klirren, als sie die Waffe zu Boden fallen ließ.
In der nächsten Sekunde hielt er sie in den Armen, sie wäre
zu Boden gesunken, würde er sie nicht festhalten. Nur wie aus
weiter Ferne hörte sie seine beruhigende Stimme, sie wusste
nicht, wie viel Zeit verging.
Sie
hatte auch die Martinshörner des Krankenwagens wie aus einer
unwirklichen Welt kommend gehört. Die Ärzte hatten sie
gleich mit behandeln wollen, aber das Blut auf ihrem Hemd war nicht
ihres gewesen, ihre Schwester hatte deren Hilfe viel dringender
gebraucht. Zumindest hoffte sie, dass sie ihnen das klar gemacht
hatte. Sie hatten gesagt, Love hätte eine Menge Blut verloren,
aber es gäbe gute Chancen, dass sie durchkommen würde. Die
Fahrt war ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit, jede Sekunde konnte über
Leben und Tod ihrer Schwester entscheiden. Die Gedanken an die
Polizistin und das unvermeidliche Danach hatte sie aus ihrem
Bewußtsein gedrängt, alles, was im Augenblick gezählt
hatte, war das Überleben ihrer Schwester gewesen.
Die
Gedanken kamen aber wieder, als sie jetzt neben ihrem Vater in einem
Wartezimmer des Krankenhauses saß. Der Arzt hatte gesagt, wenn
ihre Schwester den OP überleben würde, würde alles gut
werden.
Was
immer „gut werden“ in unserem Leben noch bedeutet,
dachte sie mit einem zynischen Hochziehen der Mundwinkel. Sie hatte
Assayah in dem ganzen Trubel aus den Augen verloren. Sie wusste immer
noch nicht, wie die Polizistin eigentlich in diese Halle gekommen
war. Es konnte nur zum teuflischen Plan Berger’s gehört
haben, sie auf jeden Fall zu zerstören, auf die eine oder andere
Weise. Auch wenn er selbst dabei auf der Strecke geblieben war, er
hatte sein Ziel doch erreicht.
Michael
sah seiner Tochter an, was sie dachte. Er wusste nicht, wer diese
andere Frau in der Halle gewesen war, aber er konnte es sich denken.
Er hatte die verschiedenen Gefühle in Hitomi’s Augen
flackern sehen, als sie Berger die Pistole an die Schläfe hielt.
Da waren Haß, Angst, Gleichgültigkeit und totale
Verlorenheit gewesen, und er hatte Angst um sie bekommen. Er kannte
sie so gut, aber er wusste nicht, ob er sie nach einer so langen Zeit
noch richtig einschätzen konnte. Er wusste nur, wäre er an
ihrer Stelle gewesen, hätte er vermutlich abgedrückt.
Er
hatte sofort geahnt, wohin man Love gebracht hatte, als Nami ihm von
der Entführung erzählt hatte. Seine älteste Tochter
war bei Baumgartner geblieben und hatte ihm geholfen, während er
in einer fürchterlichen Vorahnung dessen, was er vorfinden
würde, zu der Lagerhalle gefahren war. Er kannte die Halle, sie
war eines der vielen Verstecke der Gruppe. Er kannte Berger
inzwischen lange genug, und wenn der das endgültige Ende drohen
sah, würde er alles aufbieten, um doch noch zu gewinnen. Er
wusste, seine Töchter würden Berger als Mittel dienen um
ihn zu treffen.
Er
sah jetzt hoch, als er Schritte hörte. Die Sorge und die Angst
waren Nami ins Gesicht geschrieben, als sie auf sie zukam. „Vater,
Hitomi,...was ist passiert? Sie haben mir nur gesagt, dass...!“
Sie stoppte, als sie ihre Schwester genauer ansah und das Blut
bemerkte.
„Hitomi,...was
zum Teufel haben sie mit dir getan?!“, fragte sie, während
sie ihre Schwester umarmte und ihr besorgt eine schweißfeuchte
Haarsträhne aus der Stirn strich. Noch bevor Hitomi oder Michael
irgend etwas antworten konnten, kam ein Arzt auf sie zu.
„Sie
hat großes Glück gehabt.“, meinte er auf Deutsch.
„Die Klinge ist an ihrem Herz vorbei gegangen und hat keine
irreparablen Schäden verursacht. Wir konnten den Blutverlust
wieder wettmachen, sie wird zwar noch eine ganze Menge Ruhe brauchen,
aber sie wird keine bleibenden Schäden davontragen.“
Hitomi
fühlte sich, als wäre das Damoklesschwert, das über
ihrer aller Köpfe - besonders über ihrem - gehangen hatte,
in allerletzter Sekunde zurückgezogen worden. Sie war beinah zur
Mörderin ihrer eigenen Schwester geworden, egal, ob sie aus
Notwehr gehandelt hatte oder nicht. Sie hatte kaum bemerkt, wie ihr
Vater gerade eben aufgestanden war und hörte ihn jetzt auch nur
kaum fragen: „Können wir zu ihr?“ Der Arzt nickte.
Die
Sonne war schon längst untergegangen, Assayah’s Uhr zeigte
21 Uhr. Seit einigen Minuten schon stand sie mit verschränkten
Armen am Geländer der steinernen Brücke und sah auf die
zugefrorene Fläche des kleinen Sees hinaus. Die Geräusche
der Stadt drangen nur gedämpft in den Park, in dem sich auch um
diese Uhrzeit noch Menschen außer ihr selbst aufhielten.
Ihr
war sofort klar gewesen, was Hitomi vorhatte, als sie die Waffe auf
den Hageren anlegte. Sie hatte gewußt, sie hätte sie nicht
aufhalten können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie
hatte irgendwie nicht das Recht gehabt, da einzugreifen, auch wenn
sie es als Polizistin eigentlich unter allen Umständen hätte
verhindern sollen. Sie hatte den leblosen, blutigen Körper von
Love auf dem Boden liegen sehen, und sie war stehen geblieben. Was
immer da zwischen den Schwestern und dem Hageren sein mochte, Hitomi
musste ihre Entscheidung allein treffen.
Als
der Hagere den Namen Heintz genannt hatte, war ihr für einen
Moment der Atem gestockt. Also waren die Katzen, diese drei
Schwestern, wirklich die Töchter dieses Malers...! Hatte der
Detective also doch recht gehabt mit seiner Vermutung? Ja, das hatte
er wohl. Vielleicht wusste er es sogar genau, vielleicht hatte er
schon vor einer ganzen Weile Hitomi und ihre Schwestern als Katzen
erkannt. Wenn dem so war, deckte er sie nicht nur, sondern half ihnen
auch bei ihren Diebstählen.
Sie
war hier her gekommen, um Katzenauge endgültig zu enttarnen,
doch die Dinge hatten irgendwie eine seltsame Wendung genommen.
Hitomi hatte selbst zugegeben, dass sie gelogen hatten, doch der
springende Punkt war, warum sie gelogen hatten. Hitomi hatte etwas
davon gesagt, dass der Hagere ihren Vater 40 Jahre lang gejagt hätte.
Vielleicht war er deswegen verschwunden, und seine Töchter waren
zu Kriminellen geworden, um ihn zu suchen. Das Rätsel war nur,
warum Heintz gejagt wurde.
Doch
das war für sie auch eigentlich unwichtig, denn sie hatte, was
sie hatte haben wollen. Die drei würden sich der Verhaftung
nicht widersetzen, sie würden nicht mehr leugnen, das wusste
sie. So einfach war es aber nicht, das wurde ihr in diesem Moment
klar. Vielleicht war es der hilflose, angsterfüllte Ausdruck,
den sie in Hitomi’s Blick während des Kampfes mit ihrer
Schwester gesehen hatte, vielleicht waren es ihre leeren und
ausdruckslosen Augen, als sie Love für tot gehalten hatte,
vielleicht war es auch nur die Tatsache, dass die Katzen nicht bloße
Diebe, sondern sehr viel mehr waren.
Hitomi
schien nicht nur die raffinierte Diebin zu sein, für die sie sie
bis jetzt gehalten hatte, sondern vor allem wie ihre Schwestern die
Tochter eines Vaters, die alles tun würde, um ihn
wiederzufinden. Sie hatte vermutlich niemals gern gelogen, besonders
nicht Detective Uzumi gegenüber, aber den Weg, den sie alle drei
gegangen waren, war dennoch falsch gewesen. Jedoch hatten sie am Ende
gefunden, was sie gesucht hatten, und, wenn sie richtig annahm,
gleichzeitig Jahrzehntelange Verbrechen ans Tageslicht gebracht.
Sie
schüttelte ärgerlich über sich selbst den Kopf. Die
ganzen Überlegungen halfen ihr nicht, sie saß weiterhin in
einer Zwickmühle. Sie konnte jetzt zum Krankenhaus fahren und
die beiden Schwestern verhaften, es war sogar ihre Pflicht als
Polizistin. Nahm sie dabei aber nicht Heintz seine Töchter in
dem selben Augenblick weg, in dem er sie wieder hatte? Durfte sie
solche gefährlichen Gedanken überhaupt haben? Wenn sie sie
nicht verhaftete, wenn sie die Diebe schützte, die sie nun schon
seit zweieinhalb Jahren verfolgte, machte sie sich dann nicht zur
Mitschuldigen?
Oder
würde sie sich besser fühlen, wenn sie die beiden abführte
und Heintz damit seine Töchter wegnahm?
Als
Hitomi durch die Tür trat, sah sie ihre Schwester dort liegen.
In dem Raum standen ein Bett, und viele medizinische Geräte -
ein EKG, eine Lungenmaschine und noch einiges mehr. Sie gaben ein
leises, konstantes Piepsen von sich, das anzeigte, dass mit dem
Menschen, der in dem Bett lag, zur Zeit alles in Ordnung war.
Zumindest so lange sie an die Maschinen angeschlossen war.
Sie
war sich sicher gewesen, dass sie ihre Schwester umgebracht hatte,
bis Assayah gerufen hatte, dass sie noch am Leben war. Egal, warum
sie plötzlich das Messer in der Hand gehalten hatte, sie hatte
es getan. Sie war dafür verantwortlich, dass ihre Schwester
jetzt hier lag. Sie hatte sich nur verteidigt, aber das löschte
nicht das schreckliche Bild ihrer regungslos auf dem Boden liegenden
Schwester, das sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatte.
Sie
blieb stehen und starrte einige Sekunden lang ins Nichts.
„Wer
hat das getan?“ Sie hörte die Stimme ihrer älteren
Schwester kaum, sah auch nur aus den Augenwinkeln, wie diese eine
Hand zur Faust ballte. Sie hatte ihren Zorn verdient, mehr noch haßte
sie sich selbst. Dafür, dass sie die Kontrolle verloren hatte.
Dafür, dass sie keinen anderen Weg gefunden hatte, um ihre
Schwester zur Vernunft zu bringen. All ihre Kampferfahrung, ihre
Kraft und ihre Schnelligkeit hatten ihr nichts genützt, sie
hatte sich die Kontrolle nehmen lasen, hatte Berger genau in die
Hände gespielt.
„Ich...ich
habe sie fast umgebracht...!“ Ihr war kaum bewußt, dass
sie das sagte. In ihrem Kopf wiederholten sich die Szenen von vorhin,
der Schrei ihrer Schwester hallte noch einmal in ihrem Ohr wieder.
Ihr eigener Schock und ihre Weigerung, das zu glauben, was vor ihren
Augen geschah.
Erst
die Stimme ihrer Schwester brachte sie in die Gegenwart zurück.
„Was?!“
Hitomi
wagte weder dem Blick von Nami oder ihrem Vater zu begegnen, als sie
eine Hand in einer hilflosen Geste leicht hob, sie zu einer Faust
schloß und wieder öffnete.
„Ich
hab’ das Messer in der Hand gehalten, und...!“ Ihre
Stimme verlor sich, sie trat auf die bewußtlos daliegende Love
zu. Sie schien so friedlich, fast so, als wären die letzten
Stunden nie geschehen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und
sah sekundenlang nur geradeaus.
Sie
spürte die Hand ihrer Schwester auf ihrer Schulter und sah zu
ihr hoch. Sie bemerkte die Tränen in ihren eigenen Augen kaum.
Konnte sie ihr das verzeihen, konnte sie sich das selbst verzeihen?
Sie sah wieder geradeaus, während sie ihnen erzählte, was
sich in der Halle abgespielt hatte.
Nachdem
ihre Schwester fertig war, sah Nami für einige Sekunden aus dem
Fenster, an dem sie inzwischen stand. Die Gedanken in ihrem Kopf
waren ein einziges Chaos. Sie waren am Ziel, sie hatten es geschafft.
Aber zu welchem Preis? Sie hatten beinahe ihre Schwester verloren.
Sie war zwar am Leben, aber für was? Assayah würde kommen
und sie verhaften. Sie waren der Katastrophe schon öfter sehr
nahe gewesen, doch nur einmal so nahe wie jetzt. Toshi hatte damals
Hitomi enttarnt, der Fall hatte jedoch eine Wende genommen, weil er
Hitomi wirklich liebte und das Risiko einging, sie zu decken.
Assayah
war schon immer die größte Gefahr gewesen, die ihnen von
Seiten der Polizei gedroht hatte. Sie wartete nur auf die
Gelegenheit, die Schlinge um ihren Kopf zuziehen zu können.
„Es
ist endgültig vorbei, Vater.“, sprach Hitomi in diesem
Moment aus, was sie selbst dachte. „Wir sind verantwortlich für
das, was wir getan haben. Es gibt keinen Weg daran vorbei.“
Michael
stand auf. „Nein,...ich habe euch schon einmal verloren. Ich
lasse nicht zu, dass sie mir meine Töchter noch einmal
wegnehmen!“
Er
sah zwischen ihnen beiden hin und her. In seinen Augen waren die
Angst, die Entschlossenheit und die Weigerung zu sehen, das zu
akzeptieren, was sie selber schon längst als letzte Konsequenz
akzeptiert hatten.
„Sie
hat recht. Wir haben das, was am Ende passieren kann, von Anfang an
gewußt.“, meinte Nami und wandte ihren Blick vom Fenster
ab.
„Aber
ihr habt das Ganze nur wegen mir getan. Ich hätte es niemals
ohne euch geschafft. Ihr seid keine Kriminellen, das müssen die
doch berücksichtigen!“
„Sie
werden es berücksichtigen.“ Hitomi holte bei ihren Worten
eine ihrer Karten aus der Tasche und hielt sie so zwischen zwei
Fingern, als wollte sie sie werfen.
„Aber
das ändert nichts daran, dass wir die Gesetze gebrochen haben.
Egal mit welchem Motiv, wir sind immer noch Diebe. Assayah ist seit
Jahren hinter uns her, aber wir waren am Ende immer besser als sie.
Diesmal waren wir es nicht...!“
„Nein,
diesmal nicht.“ Niemand von ihnen hatte die Person bemerkt, die
auf der Türschwelle stand und Hitomi’s Worte wiederholt
hatte.
Hitomi
war inzwischen aufgestanden, einige Sekunden sahen sich die beiden
nur an. Beide waren sich zum selben Zeitpunkt bewußt, dass sie
jeweils einem alten Gegenspieler gegenüberstanden. Irgendwann
hatte es zu diesem Punkt kommen müssen, alle Kämpfe der
letzten Jahre hatten zwangsläufig auf diese endgültige
Konfrontation hinauslaufen müssen.
Die
Stille schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Hitomi schließlich
dieses eigenartige Schweigen unterbrach. „Worauf warten Sie
noch?!“ In ihrer Stimme lag Bitterkeit, sie wandte ihren Blick
nicht von dem Assayah’s ab, während sie die Karte immer
noch in der gesenkten Hand hielt.
Die
Katzen waren geschlagen, sie alle wussten das. Trotzdem stand sie ihr
jetzt so aufrecht gegenüber. Sie hatte das Gefühl, etwas
anderes hätte die Polizistin von ihr auch gar nicht erwartet.
Assayah
erwiderte nichts, sondern trat nur wortlos an Hitomi vorbei und an
die bewußtlose Love heran. „Es tut mir leid, dass das so
passiert ist.“ Ihr Blich ruhte unverändert auf der
Bewußtlosen.
Das
hatten die beiden Schwestern am wenigsten als Reaktion von ihr
erwartet. Sie wirkte nicht so kaltblütig wie sonst, sondern
irgendwie anders. Schließlich wandte die Polizistin ihren Blick
ihrem Vater zu, der bis jetzt stumm das Geschehen verfolgt hatte.
„Ich
habe Sie immer für einen Geist gehalten.“ Sie drehte sich
zu Hitomi um und zog eine der Karten der Katzen aus der Tasche, sie
betrachtete sie einige Sekunden wortlos.
„Wer
hätte das gedacht.“, meinte sie anschließend fast
wie zu sich selbst. Sie legte die Karte auf einen kleinen Tisch und
sah Hitomi wieder an, die immer noch schweigend dastand.
„Ich
habe die Karte mitgenommen, bevor irgend jemand sie bemerkt hat.
Niemand wird die Katzen mit dem Vorfall in Verbindung bringen. Ich
kehre nach Tokio zurück,...passen Sie auf sich auf.“
Bevor
irgend einer reagieren konnte, war sie aus der Tür und
verschwunden. Die Schwestern sahen sich an, die Verwirrung stand
beiden ins Gesicht geschrieben. Damit hatte keiner von ihnen
gerechnet.
Auf
dem Gang holte Hitomi die Polizistin ein. „Warum tun Sie das?“
Assayah
blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Einen Moment lang sahen sie
sich wieder nur an. „Ich weiß es selbst nicht.“,
antwortete sie schließlich. „Ich habe damals dem
Detective mit seiner Theorie um Ihren Vater nicht geglaubt. Ich hätte
es wohl besser getan. Er war vielleicht der einzige, der zumindest
versucht hat zu verstehen. Wenn ich Sie jetzt nicht verhafte, dann
nur deswegen, weil ich zum ersten Mal in den Katzen die Töchter
eines Vaters sehe. Das soll aber nicht heißen, dass das alles
Bisherige entschuldigt, und ich schwöre Ihnen, wenn die Katzen
noch einen einzigen Diebstahl begehen, werde ich Sie verhaften.“
Damit
wandte sie sich um, blieb aber noch einmal stehen und sah sie an.
„Der Detective weiß es, oder?“
Hitomi
nickte nur. Assayah schien nicht sonderlich überrascht zu sein.
„Ich dachte es mir.“
Es
war später Abend, fast schon Mitternacht. Sie waren so lange bei
Love geblieben, wie man es ihnen erlaubt hatte. Michael saß in
einem Stuhl, zeitweise lugte der Mond hinter der Wolkendecke hervor
und schien durch das Fenster hinein, an dem er saß. Seine
beiden Töchter waren gleich nachdem sie im Hotel angekommen
waren erschöpft in einen tiefen Schlaf gefallen. Er selbst war
auch müde, aber er wollte sich nicht hinlegen. Zu große
Angst hatte er davor, dass sie nicht mehr da sein würden, wenn
er aufwachte. Dass alles nur ein Traum gewesen sein könnte.
So
saß er also hier und sah auf die beiden friedlich daliegenden
Frauen. Er wusste, Hitomi fühlte sich schuldig am Zustand ihrer
jüngeren Schwester. Er war nicht dabei gewesen, aber nach allem,
was sie ihnen erzählt hatte, war es ein Unfall gewesen. Trotzdem
wusste er, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie darüber
hinweg kommen würde.
Die
drei hatten sehr genau gewußt, was für Gefahren sie
eingingen und welche Opfer sie würden bringen müssen, als
sie Diebe wurden. Doch sie hatten niemals die dunkle, grausame und
abgrundtiefe Wahrheit ahnen können, die sie noch erfahren
würden. Niemals hätten sie das bizarre Szenario erahnen
können, in das Berger sie gezwungen hatte.
Er
haßte ihn dafür, dass er seinen Töchtern so etwas
angetan hatte. Er haßte ihn für die Ungewißheit, die
Angst und den Schmerz der letzten Jahre. Berger würde sein
Urteil bekommen, er würde für den Rest seines kläglichen
Lebens keinen Fuß in die Freiheit setzen.
Das
alles war vorbei, das alles lag hinter ihnen. Das Leben auf der
Flucht war vorbei. Fast schon kam es ihm komisch vor. Obwohl es noch
eine Weile dauern würde, bis er sich nicht mehr bei jedem
kleinsten Geräusch umsehen würde, konnte er jetzt wieder
anfangen, ein normales Leben zu führen.
Er
wusste, das würde nicht einfach werden. Er hatte so viel
nachzuholen, so vieles über seine eigenen Töchter zu
lernen. Die letzten Jahre hatten sie sicher in mehr als einer
Hinsicht verändert. Sie hatten für ihn alles aufs Spiel
gesetzt, ihr Leben, ihre Freiheit...! Er konnte nur versuchen
zurückzukehren und ihnen wieder ein guter Vater zu sein - etwas,
was er die letzten sechseinhalb Jahre lang nicht hatte sein können.
Was
wäre gewesen, wenn es nicht so glücklich geendet hätte?
Wenn diese Polizistin seine Töchter verhaftet hätte, wenn
man sie in Handschellen abgeführt hätte...! Das hätte
er nicht ertragen.
Er
hatte vorhin die Resignation in den Augen seiner beiden Töchter
gesehen, sie waren bereit gewesen, die Konsequenzen zu tragen.
Jedesmal, wenn sie eines seiner Stücke stahlen, war diese Gefahr
dicht neben ihnen gewesen.
Er
wusste, sie wollten nicht, dass er sich für ihre Entscheidung
damals verantwortlich fühlte. Aber Tatsache
war
und blieb, dass ohne ihn nichts von alledem passiert wäre.
Sein
Blick fiel wieder auf die friedlichen Gesichter der beiden. Oh
hör’ auf, du alter Narr...!, dachte er dabei, und ein
Lächeln trat in sein Gesicht. Du bist zurück bei ihnen,
das alleine zählt.
Sie
waren wahrhaftig um so vieles älter geworden, sie waren
erwachsen geworden. Es war für einen Vater nicht einfach, so
einen riesigen Schritt in so kurzer Zeit zu tun. Doch er wusste, dass
er es schaffen würde, mit ihrer Hilfe.
Die
Sonne schickte gerade ihre ersten Strahlen über den Horizont,
als Hitomi die letzten hundert Meter bis zum Krankenhaus zu Fuß
lief. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, war sie vor
ihrer Schwester und ihrem Vater aufgewacht. Sie hatte eigentlich
keine Ahnung, warum sie nach den ganzen Anstrengungen der letzten
Tagen um diese frühe Stunde schon auf den Beinen war, aber sie
konnte nicht mehr schlafen und musste irgendwie Klarheit in ihren
Kopf bekommen.
Auf
einmal schien es vorbei zu sein, all die ganze Unsicherheit der
letzten Jahre war mit einem Mal nicht mehr existent. Sie hatte ihren
Vater gerade eben gesehen, in seinem Gesicht war ein Ausdruck von
Frieden gewesen. Sie wäre am liebsten den ganzen Tag so stehen
geblieben und hätte ihn nur angesehen, nachdem sie ihn so lange
Jahre nur in ihrer Erinnerung und auf Fotos gesehen hatte, aber sie
musste jetzt erst mit sich und den Erinnerungen von gestern ins Reine
kommen. Mehr unbewußt hatte sie die Richtung zum Krankenhaus
eingeschlagen. Als sie es merkte, fürchtete sie sich fast vor
dem Zusammentreffen mit ihrer jüngeren Schwester. Zwar würde
Love wahrscheinlich noch nicht wach sein, aber schon ihr fragender
Blick, als das Messer zwischen ihren Rippen hervorragte, und der sich
ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatte, reichte.
Wenige
Minuten später stand sie am Fensterrahmen gelehnt und blickte
gedankenverloren auf das Gesicht ihrer immer noch bewußtlosen
Schwester. Sie drei waren im Laufe der Jahre schon so oft in
Lebensgefahr geraten, man hatte sie gefangen genommen, gejagt oder
mit allen möglichen Waffen und Fallen angegriffen, und sie waren
immer entkommen. Mehr als einmal waren sie in den letzten Jahren über
die eine oder andere Sache in Streit geraten, aber sie hatten am Ende
immer zusammen erreicht, was sie sich vorgenommen hatten. Berger
hatte das gewußt und genau das gegen sie verwendet. Ihre
Schwester hätte sie niemals freiwillig angegriffen, also hatte
er sie dazu gezwungen. Sie hatte das Gefühl, als würden die
Bilder niemals aus ihrem Kopf verschwinden, als würde sie immer
noch diese lähmende Erkenntnis spüren, dass sie zur
Mörderin an ihrer eigenen Schwester geworden war. Sie wusste
zwar im selben Moment, dass jetzt alles wieder in Ordnung kommen
würde, doch das löschte die Erinnerung nicht.
Sie
saß inzwischen neben der Schlafenden. „Ich wäre fast
zum zweifachen Mörder geworden da drin...!“, meinte sie
leise und zu niemandem direkt. „Innerhalb einer Sekunde hat
sich alles verändert.“
„Du
wirst mir doch jetzt nicht sentimental werden, oder?“, riß
sie jäh aus ihren Gedanken. Hörte sie jetzt schon Stimmen?
Als sie den Kopf drehte, sah sie ihre jüngere Schwester zu ihr
blicken, der Ausdruck in ihren Augen war klar und wieder völlig
normal. Einige Sekunden lang sahen sie sich beide nur an, dann
grinste Hitomi erleichtert: „Du würdest selbst im Tod noch
solche Sachen sagen...!“
„Ich
bin ja nun doch noch nicht tot.“, grinste ihre Schwester mit
gespielt empörtem Tonfall zurück.
Hitomi
wandte ihren Blick ab. „Nein,...aber fast wärst du es
gewesen....!“
Die
letzten Sekunden ihres Kampfes liefen in Gedanken an ihr vorbei, und
sie schloß, wie um diese schmerzvollen Erinnerungen zu
vertreiben, für einen Moment die Augen. Dann stand sie auf und
trat zum Fenster hin. Während sie hinaussah, den Anblick aber
kaum wahrnahm, meinte sie leise: „Wie man es auch sieht, ich
habe dich beinah umgebracht...!“
„He,
immerhin war ich es, die mit einer Stange und einem Messer auf dich
losgegangen ist.“
„Ja,
aber du standest auch unter Drogen.“ Sie stockte kurz. „Ich
habe zu spät erkannt, was Berger vorhatte. Ich habe genau das
getan, was er wollte,...ich habe die Kontrolle verloren...!“
„Du
hast dich nur verteidigt, gib dir nicht die Schuld.“
Hitomi
fuhr herum. „Doch, ich hätte verhindern können, dass
es so weit gekommen ist! Durch all die Jahre, die wir jetzt schon
Katzen sind, hätte ich genügend Erfahrung haben müssen!“
„Nichts
und niemand hätte dich auf das vorbereiten können...!“
Nach einigen Sekunden der Stille fuhr sie fort: „Ich habe
versucht, mich gegen diese fremde Stimme in meinem Kopf zu wehren,
die sie mir irgendwie gegeben haben, aber sie war zu stark. Ich...ich
konnte nichts gegen sie tun, ich konnte nur daneben stehen und
zusehen. Es war, als hätte nicht mehr ich, sondern jemand
anderes die Kontrolle über mich,...und ich musste mit ansehen,
wie ich dich ein ums andere Mal angriff...! Du hast die ganze Zeit
versucht, mich zur Vernunft zu bringen. Berger ist der Schuldige,
nicht du.“
Hitomi
senkte den Blick. „Als ich dachte, du wärst tot,...da hab
ich Berger fast umgebracht...! Ich konnte nur daran denken, dass er
für alles verantwortlich war...und hab ihn beinah erschossen.“
Ihr
wurde erst jetzt richtig bewußt, wie haarscharf sie am
Überschreiten der endgültigen Grenze drangewesen war.
„Was
ist mit Vater?“ Die Frage riß sie aus ihren dunklen
Gedanken, lächelnd trat sie wieder zu ihrer Schwester heran und
setzte sich neben sie auf den Stuhl.
„Ihm
geht es gut, wir sind noch rechtzeitig gekommen. Alles ist in
Ordnung.“
Die
überraschte und übermütige Freude standen ihrer
Schwester ins Gesicht geschrieben. Wenn ihr gegenwärtiger
Zustand das erlaubt hätte, wäre sie vor Freude durch den
Raum gesprungen, das sah Hitomi ihr deutlich an.
Im
selben Moment verfinsterte sich das Gesicht ihrer Schwester aber auch
wieder. Sie senkte den Kopf und meinte leise: „Es ist vorbei,
oder? Assayah hat uns gesehen, sie wird uns verhaften...!“
Hitomi
lächelte. „Nein, es ist nicht vorbei.“ Als Love
erstaunt den Kopf hob und sie ungläubig ansah, fuhr sie fort:
„Ich kann immer noch nicht richtig begreifen, warum sie es
getan hat, aber Assayah verhaftet uns nicht.“
„Wieso
sollte sie das tun,...nach allem, was passiert ist?“
„Sie
sagte etwas davon, dass sie zum ersten Mal in den Katzen die Töchter
eines Vaters sähe...!“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Warum auch immer sie uns beschützt, wir sollten dankbar
dafür sein.“
„Der
Skandal um die Schweizer Nationalbank und die damit in Verbindung
stehende Unterschlagung von Nazigold in den 40er Jahren zieht immer
weitere Kreise. Das FBI wurde ebenfalls hinzugezogen, was eine
globale Verzweigung immer wahrscheinlicher werden läßt.
Nachdem vor knapp zwei Wochen schon Geschäfts – und
Büroräume, sowie zahlreiche Privathäuser im In –
und Ausland durchsucht wurden, gestanden heute angesichts einer
erdrückenden Beweislast die führenden Köpfe der
kriminellen Vereinigung, über deren Mitglieder und weitere
Verbrechen immer noch keine detaillierten Angaben gemacht wurden.
Wegen der vor zwei Wochen verhängten Nachrichtensperre, die
immer noch in Kraft ist, wurden ebenfalls noch keine genaueren
Angaben über den oder die Informanten gemacht. Aus Gründen
der persönlichen Sicherheit des oder der Informanten, sei auch
damit zu rechnen, dass er oder sie unter Zeugenschutz gestellt
würden, das heißt, die Öffentlichkeit würde den
wahren „dritten Mann“ niemals zu Gesicht bekommen...“
Michael
faltete lächelnd die Zeitung zusammen, als er seine Töchter
kommen sah. Die letzten zwei Wochen waren die besten und
glücklichsten gewesen, die er seit sechseinhalb Jahren erlebt
hatte. Es war zwar am Anfang für ihn und – so vermutete er
– auch für die drei etwas schwierig gewesen, richtig zu
realisieren, dass es vorbei war. Er war nicht mehr auf der Flucht und
sie nicht mehr auf der Suche. Baumgartner hatte alle Dinge in die
Hand genommen, er war auch der geheimnisvolle Informant, von dem die
Zeitungen sprachen. Er hatte ihm versprochen, weder seinen noch den
Namen seiner Familie preis zu geben. Er würde das dem Anwalt
niemals vergessen, der schon seit sechseinhalb Jahren für ihn
Kopf und Kragen riskierte. Es wurde nicht nur in den
Zeitungsberichten viel spekuliert über den Informanten und was
für ein Verhältnis er zu der Gruppe hatte, aber trotz der
vielen Thesen, die inzwischen schon aufgestellt worden waren, würde
niemals jemand hinter das Geheimnis des Malers und seiner Töchter
kommen. Und die, die es wussten, schwiegen.
Genauso
wie der junge Detective, der den dreien nun schon seit über drei
Jahren auf den Fersen war. Hitomi hatte ihm von dem Ereignis erzählt,
das ihn die Wahrheit über die Katzen hatte erkennen lassen. Er
hatte in den letzten Wochen auch Zeit mit dem Detective verbracht,
der ihm einiges über seine Töchter und die Katzen erzählt
hatte. Die drei waren die ganzen Jahre durch die Hölle und
zurück für ihn gegangen, und dabei war Hitomi immer
zwischen dem Detective, den sie liebte, und ihm, ihrem Vater, hin-
und hergerissen gewesen.
Er
kam mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück, als Love zu
Toshi, der neben ihnen stand, meinte: „Ich frage mich, wie eure
Leute die ganzen Wochen ohne unsere Mithilfe überstanden
haben...!“
In
Toshi’s Blick war gespielte Entrüstung zu sehen. „Willst
du etwa sagen, dass wir ohne euch nicht in der Lage gewesen wären,
die Typen zu schnappen, die ihr uns geliefert habt?!“
Ein
dreifaches, gleichzeitiges „Ja!“ war die Antwort. Gegen
diese Übermacht konnte er nichts ausrichten und zuckte nur
grinsend mit den Schultern, während Michael amüsiert den
Wortwechsel beobachtete.
„Was
immer ihr sagt, was immer ihr sagt...!“ Mit diesen Worten
wandte er sich ihnen voraus dem Eingang zum Flugsteig zu. Ihre
Maschine würde in einer halben Stunde Schweizer Boden verlassen,
und dann konnten sie endlich wieder anfangen, ein halbwegs normales
Leben zu führen. Was immer normal mit diesen dreien auch
heißen mochte.
Ende
Yep, das war meine vielleicht etwas abwegige Vorstellung, wie es nach der 73. Folge hätte weitergehen können. Wenn’s euch gefallen hat, oder wenn ihr irgend welche Kritik habt, schickt mir ‘ne mail nach merbama.globisch@nwn.de