Cat's Eye - Ein mögliches Ende
© 1999 by Merle Globisch
 

Disclaimer:

1. Ich habe mir die meisten Charaktere und die Grundidee von Tsukasa Hojo geklaut, alles andere ist meiner eigenen Fantasie entsprungen.
2. Ich habe die ganze Sache etwas umgebogen, habe nämlich das Café gestrichen und aus den dreien einfach normale Studenten gemacht.


Cat’s Eye

Ein mögliches Ende nach der 73. Folge

by Merle Globisch

1. Was vorher meiner Meinung nach geschehen sein kann

Michael Heintz wird am 03.07.1928 in Berlin geboren (seine Mutter ist kurz nach seiner Geburt gestorben, er wird von seinem Vater erzogen). 1939 muß er wie so viele andere Maler zur Nazizeit aus Deutschland fliehen (sein Vater vertraut ihm seinem Onkel an; Vater bleibt in Deutschland zurück, obwohl er selber befürchten muß von den Nazis gefaßt zu werden, da er als Journalist für die Nazis "unbequeme" Ansichten in seinen Artikeln äußert). Michael flieht also '39 in die damals ja neutrale Schweiz. Wenig später muß er aber erfahren, daß sein Vater von der Gestapo im Schlaf überrascht und getötet wurde.


Michael Heintz wandert 1959 aus den USA nach Japan aus und heiratet zwei Jahre später dort. Am 15.07.’62 wird Nami geboren, am 28.10.’64 Hitomi und am 12.01.’69 Love. Allerdings kommt die Mutter der drei und seine Frau 1971 bei einem schweren Autounfall in Boston, USA (sie war dort für einige Wochen in ihrem Beruf als Dolmetscherin tätig) um.

1981 hält sich Michael über den Sommer für einige Wochen in Bern auf, wo er ein paar Vorträge an der Kunstakademie halten soll. Er hat dort auch eine Zweitwohnung, und auch einen Großteil seiner Sammlung lagert er dort, nur wenige Stücke sind Zuhause in Japan.
Die Geschwister werden von einem dort lebenden Freund ihres Vaters benachrichtigt, daß Michael plötzlich spurlos verschwunden ist, und seine Sammlung ebenfalls...! Die drei fliegen sofort mit einem Freund der Familie (Herr Nagaishi) auch nach Bern. Und dort erfahren sie von diesem Freund, daß Michael vermutlich von Leuten verfolgt wurde (und wird), und daß die Gründe und die Antworten in der Vergangenheit ihres Vaters zu suchen seien. Der Freund weiß selber nichts genaues über Michael’s Vergangenheit, weil er ihn dafür noch nicht lange genug kennt.
Ihr Vater scheint vor irgend welchen geheimnisvollen Leuten geflohen zu sein und versteckt sich jetzt vor denen. Aber warum wissen sie nicht.
Aber sie finden heraus, daß seine Sammlung scheinbar in großer Eile verkauft wurde, und ihr Vater hat das nicht selbst getan, jedoch scheint auch der eigentliche Verkäufer (dessen Namen sie bald erfahren) spurlos verschwunden...! Und zunächst finden sie nichts genaueres über den Verbleib der Bilder heraus.
Auch in der Folgezeit sieht es nicht viel besser aus, sie versuchen zwar die Vergangenheit ihres Vaters zu durchleuchten, finden aber niemanden mehr, der darüber genauer Bescheid weiß. Auch sie selber wissen nur daß ihr Vater aus der Schweiz geflohen ist, dann in die USA, und danach nach Japan übergesiedelt ist.

1983, und bis jetzt haben sie im Ganzen nicht sehr viel mehr herausfinden können. Sie wissen ja nicht einmal, ob ihr Vater noch lebt, geben ihn aber trotzdem nicht auf. Er versteckt sich vor irgend welchen Leuten, vor augenscheinlich ziemlich mächtigen Leuten. Und sie müssen etwas mit der deutschen Vergangenheit ihres Vaters zu tun haben.
In der Zeit von ‘81-’83 tauchen immer mehr Kunstwerke aus der Sammlung ihres Vaters bei privaten Sammlern und Museen - vor allem in Japan - auf. Mit Hilfe ihres Freundes Herrn Nagaishi überprüfen sie das. Die Kunstgegenstände müssen in direktem Zusammenhang zu dem Verschwinden ihres Vaters stehen. Besonders die privaten Sammler scheinen allzu oft Verbrecher zu sein.
Sie spüren, daß sie nur über die Sammlung den Grund für das Verschwinden, die geheimnisvollen Verfolger und Michael selbst lebend wiederfinden werden. Und so werden sie schließlich zu Dieben. Wer die Idee zuerst hatte, weiß hinterher keiner mehr so genau. Herr Nagaishi agiert dabei im Hintergrund, er besorgt ihnen die nötigen Informationen und Mittel um die Sache durchzuziehen. Es wird bald klar, daß Michael indirekte Hinweise auf seine Verfolger und damit den Grund seines Verschwindens gegeben hat, besonders in den früheren Werken.


Ende des Jahres 1984. Sie erfahren durch einen Sammler, der wohl kein Krimineller zu sein scheint, und den sie bestehlen wollen, von einem anderen Kunststudenten, mit dem sich Michael ab 1944 in Bern eine Wohnung geteilt hatte. Der Vater des Sammlers war Lehrer an der Kunsthochschule in Bern und hatte auch Michael als Schüler. Der Sammler kannte Michael selbst nicht, und auch nur seinen Mitbewohner flüchtig. Aber er erfuhr durch Zufall etwas von den schmutzigen Geschäften, die dieser Mitbewohner mit einer Gruppe von Nazis trieb. Jedoch wurde dieser Ende 1944 brutal ermordet, regelrecht hingerichtet, aufgefunden. Und kurz darauf verschwand auch Michael. Der Vater des Sammlers stellte danach selbst einige Nachforschungen an, weil er vermutete, daß da etwas nicht stimmte.
Und er fand etwas für ihn sehr gefährliches heraus, denn einige Tage später übergab er seinem Sohn einen Umschlag mit den Worten, er solle ihn gut verstecken und auf keinen Fall einem anderen zeigen. Danach verschwand er und wurde wenige Tage später mit durchschossenem Schädel in einer Gasse aufgefunden...!
Der Sohn wußte, daß der Tod seines Vaters etwas mit dem Umschlag zu tun haben mußte. Er öffnete ihn und fand Listen einer deutschen Behörde, in denen Lieferungen von Nazigold an Schweizer Banken der letzten zwei Jahre aufgelistet waren. Er entnimmt den Listen und einigen Randbemerkungen außerdem, daß hier eine ziemlich große Summe Gold unterschlagen wurde. Außerdem den Namen eines bedeutenden Vorstandsmitgliedes der Bank, für die die Goldlieferungen bestimmt waren. Der hatte wohl bestimmten Leuten geholfen das Gold unbemerkt zur Seite zu schaffen und hing selber bis zum Hals in der Sache mit drin. Michael’s Mitbewohner hatte dabei wohl als eine Art Handlanger fungiert.
Der Sohn wußte, daß er da eine brisante Sache in Händen hielt, und daß sein Vater dafür sterben mußte. Er behielt den Umschlag zwar, versteckte ihn aber und stellte keine weiteren Nachforschungen mehr an, die auch ihn das Leben kosten könnten...!

Die Kinder vermuten jetzt, daß Michael auf irgendeine Weise in die Sache verwickelt ist, obwohl sie nicht glauben, daß er auch in der Ermordung ihres Freundes mitdrinhängt. Er scheint wohl eher über seinen Mitbewohner etwas über die Geschäfte der Nazis mitgekriegt zu haben und ist deshalb 1945 aus der Schweiz in die USA geflohen. Aber da muß noch mehr sein, und diese Sachen zusammengenommen scheinen auch der Hintergrund für sein jetziges Verschwinden zu sein...!
Er wußte schon von Anfang an zu viel und wird schon die ganze Zeit von den Leuten, die damals ihre Hände im Spiel hatten , verfolgt.

Das war ein äußerst wichtiger Schritt für die Katzen, weil sie jetzt zumindest eine ungefähre Spur haben und wissen, in welcher Richtung sie suchen müssen - nämlich in der Vergangenheit. Gleichzeitig ist das Ganze aber auch ziemlich beunruhigend, weil sie es mit einer sehr gefährlichen Sache zu tun zu haben scheinen. Und weil sie noch nicht einmal annähernd abschätzen können, wie weit diese Geschichte noch reicht, die ihre Wurzeln in dunkelster Vergangenheit zu haben scheint, wer alles mitdrinhängt und in wie weit ihr Vater etwas damit zu tun hat...!

Juni 1985:
Bei einer Aktion nimmt ein Mann Kontakt mit den Katzen auf, der sagt, daß er ein alter Freund ihres Vaters sei. Er sagt, er habe Michael kennengelernt, als der noch in Amerika lebte. Und er sagt, Michael habe ihn gebeten sie zu finden und ihnen eine Botschaft zu überbringen. Michael tut es unendlich leid, daß er auf diese Weise verschwinden mußte und er täte nichts lieber als den ganzen Spuk einfach zu beenden und wieder zurück in sein altes Leben mit ihnen zu kommen. Doch noch geht das nicht, denn er wird immer noch verfolgt, aber er denkt, daß eine Chance besteht, und daß sie gemeinsam wieder ein normales Leben führen können. Aber sie müssen ihm helfen diese Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Er kann ihnen nicht die ganze Geschichte erzählen, weil sie das zu sehr in Gefahr bringen würde. Doch er gibt ihnen einen Hinweis auf einen Mann, von dem er denkt, daß er ein wichtiger Schlüssel ist. In seiner gegenwärtigen Lage sei es viel zu gefährlich für ihn selbst Nachforschungen über diesen Mann anzustellen, aber er weiß, daß seine Töchter als Katzen das schaffen können.
Der Freund, der ihnen das alles von ihrem Vater erzählt hat, fügt noch hinzu, daß der Mann, ein Westdeutscher Anwalt mit Namen Karl-Heinz Reimers, in den späten 60ern längere Zeit für die Schweizer Bank gearbeitet hat, von der sie wissen, daß sie in die Unterschlagungen des Nazigoldes in den 40er Jahren verwickelt war.
Er soll auch Geschäftsbeziehungen mit einer Mafiaorganisation in den USA haben. Er ist zur Zeit in Japan, und er hat vor, hier ein wichtiges Drogengeschäft über die Bühne zu bringen, bei dem er als Kontaktmann fungieren wird. Er hat schon seit längerem Kontakte zu hiesigen Käufern, und kennt sich im Lande recht gut aus. Die Drogen sollen an Bord eines Navy-Schiffes geschmuggelt werden, das in wenigen Tagen in Tokio ankommen wird. Zahlungsmittel wird neben einer Summe Bargeld auch ein Gemälde aus der Sammlung ihres Vaters sein.
Wenn sie irgendwie herausfinden können, was Reimers weiß, oder was geschehen ist, werden sie einen großen Schritt weiter auf dem Weg gegangen sein, der sie zu der Wahrheit führt, die vor über 40 Jahren ihren Anfang nahm. Und nicht zuletzt werden sie auch die Chance haben ein weiteres Stück aus der Sammlung ihres Vaters wieder zurückzubekommen.

Doch es kommt alles ganz anders. Denn die Polizei hat Wind von der Übergabe bekommen, und die kippen die Veranstaltung. Alle, außer Reimers, werden verhaftet. Reimers flieht und setzt sich ins Ausland ab, sie können ihn nicht die in die Finger bekommen und auch nicht verfolgen. Das Bild bekommen sie zwar hinterher noch in die Hände, doch Reimers scheint für sie - zumindest vorerst - außer Reichweite zu sein.
Trotzdem kann ihnen eine nochmalige gründliche Überprüfung von Reimers Vergangenheit folgendes sagen: Der Bankkonzern, für den Reimers gearbeitet hat, war laut den Listen, die sie von dem Sammler bekommen haben, in die Unterschlagung von über 350 Millionen US-Dollar verwickelt. Reimers war eine Zeit lang einer von drei oder mehr Anwälten, die den Konzern in Rechtsfragen vertraten. Dabei muß er wohl etwas über die Gruppe von Nazioffizieren, die ihrerseits die Unterschlagung hauptsächlich in die Wege geleitet hatten, herausgefunden haben. Von etwa dem Zeitpunkt an muß er mit diesen Leuten in Kontakt getreten sein.

Wenig später erreicht sie ein Brief von Reimers:
„Ich kann eigentlich nur vermuten, daß Sie die Kinder des Mannes sind, dem diese Leute nun schon so lange hinterherjagen. Ihr Vater ist ein verdammt zäher Bursche, und ich muß zugeben, ich bewundere ihn ein bißchen. Aber glauben Sie nicht, daß ich Ihnen diesen Brief hier schreiben würde, wenn ich nicht wüßte, daß mir nicht mehr sehr viel Zeit bleibt.
Ich weiß, daß ein Killer auf mich angesetzt wurde. Ob nun von den Leuten, mit denen ich Geschäfte gemacht habe, und die jetzt, da ich fliehen muß, fürchten, daß ich rede um meine Haut zu retten; oder von denen, die einmal meine Geschäftsparter waren und Ihren Vater jagen, ist eigentlich einerlei. Kriegen werden sie mich vermutlich sowieso.
Aber bevor ich abtrete, will ich, daß diese Größenwahnsinnigen nicht mit ihrem Haufen voller Geld und ihren Gespenstern der Vergangenheit so einfach leben können, wie sie das gerne tun würden, wenn ihr Vater ihnen nicht immer noch im Weg wäre.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, daß es einer von denen war, der mich hat hochgehen lassen, und daß ich niemals meine Seele an diese Teufel hätte verkaufen sollen. Ich kann mit dem, was ich weiß, einige mächtige Leute zu Fall bringen. Die haben Präsidenten sterben sehen, und die werden auch über meinen Tod lächeln.
Am Anfang habe ich sie erpreßt, mit dem, was ich über ihre Geschäfte mit unterschlagenem Nazigold im Werte von mehreren hundert Millionen Dollar herausgefunden hatte. Dann bin ich ihr Partner geworden; man könnte sagen, daß ein - zwar wichtiger, aber dennoch entbehrlicher - Kontaktmann zur amerikanischen Mafia war. Bald ist mir klar geworden, daß Gespenstern wie denen Hilter’s Geister immer noch im Kopf herumspuken. Auch wenn das in der heutigen Zeit, 40 Jahre nach dem Krieg, vielleicht unwahrscheinlich klingen mag, aber es ist so. Ich bin ein Verbrecher, man könnte sogar sagen, daß ich mein Schicksal verdient habe, aber diese Geister sind nichts für mich.
Ich kann Ihnen nur zwei Namen nennen. Den einen werden sie wahrscheinlich schon kennen. Sebastian Steiner war Vorstandsmitglied in der Bank, für die ich in den 60ern gearbeitet habe. Bis zu seinem Tod Mitte der 50er ist er der Einflußreichste im Vorstand gewesen, und ich fand heraus, daß er um das unterschlagene Gold und einiges mehr wußte. Das alles gab er vor seinem Tod seinem Neffen, Günther von Kapp, weiter. Kapp übernahm auch seine Position im Vorstand und hat seitdem in der Gruppe - soweit sie nach dem Krieg noch existierte - das Erbe seines Onkels angetreten. Ich habe für Kapp gearbeitet, er war auch mein wichtigster Verbindungsmann zu der Gruppe.

Außer von Kapp sind mindestens noch zwei weitere Mitarbeiter der Bank in die Sache verwickelt, und auch ein paar hochrangige DDR-Offiziere hängen mit drin. Die Gruppe ist nach dem Krieg fast aufgelöst worden, aber sie wurde von einem geheimnisvollen Anführer, den selbst ich nie zu sehen bekommen habe, zusammengehalten und wieder neu aufgebaut. Und diese Gruppe macht Jagd auf Ihren Vater.
Mehr Informationen kann ich Ihnen nicht geben. Falls ich überlebe, führt das zu sehr in meine Nähe, und wenn die mich umbringen, nehme ich das Wissen wohl mit in mein Grab.“

Wenig später findet Herr Nagaishi über seine Verbindungen heraus, daß Reimers nur einen Tag nachdem der Brief datiert ist tot in seinem Hotelzimmer in Rio de Janeiro aufgefunden wurde. Die Polizei vermutet die Mafia dahinter, aber die Katzen glauben, daß es die ‘Gruppe’ war.
Die Sache wird langsam äußerst brisant...! Reimers hatte angedeutet, daß diese Gruppe aus mächtigen Personen besteht, die Visionen davon haben, so etwas wie das III. Reich wieder zum Leben zu erwecken...! Auch wenn das, wie Reimers selbst gesagt hatte, heute fast unmöglich wäre, macht es diese Leute nicht weniger gefährlich - im Gegenteil. Die Geldmittel, die Verbindungen und die Macht, die diese Gruppe zu haben scheint, verschaffen ihnen die Möglichkeiten ihre wahnsinnigen Vorhaben vorzubereiten...

Diese Leute scheinen sehr gefährlich zu sein, und sie ziehen eine blutige Spur hinter sich her. Und Michael scheint am Anfang Zeuge ihrer Verbrechen geworden zu sein, und muß sich seitdem ständig vor ihnen in Acht nehmen und sich verstecken. Er kann mit seinem Wissen - vielleicht sogar mit Beweisen - diese Leute in große Gefahr bringen.
Aber sie haben immer noch nicht den direkten Auslöser dafür, warum ihr Vater 1981 verschwunden ist, denn mehr oder weniger scheint er sich schon sein ganzes Leben zu verstecken. Irgend etwas scheint in diesem Sommer vorgefallen zu sein, das ihn zwang, erneut zu fliehen und seine Spuren zu verwischen. Und der Schlüssel scheint mehr denn je in der Vergangenheit zu liegen; besonders in der Schweiz, der BRD und der DDR, wo alles seinen Anfang zu haben scheint.

Im Jahr 1986 passiert nicht sehr viel, sie kommen einfach nicht weiter, obwohl sie jetzt schon so viele Hinweise haben. Und über von Kapp finden sie nur heraus, daß er immer noch im Vorstand sitzt und vermutlich finanzielle Geschäfte für die ‘Gruppe’ abwickelt.
Über ihn könnten sie an die Gruppe heran kommen, aber er ist zur Zeit unauffindbar, sozusagen auch verschwunden.

Erst im März/April 1987 kommt wieder Bewegung in die Sache. Bei einer Aktion bekommen die Katzen ein Bild in die Hände, von dem nur der Rahmen von ihrem Vater stammt, und daher ist auch nur er für sie von Interesse. Der Rahmen ist eine relativ frühe Arbeit von ihm, ungefähr aus den Anfang 50ern.
Im Rahmen versteckt finden sie ein kleines Stück Papier, auf dem ein zunächst unverständlicher Teil einer chemischen Formel notiert ist. Sie finden heraus, daß es ein Teil einer Formel für extrem gefährliches Giftgas ist!
Das könnte ein Schlüssel dafür sein, warum Michael damals (1944) aus der Schweiz geflohen ist, denn aus irgend einem Grund wußte er von der Formel.
Aber es ist gleichzeitig auch sehr beunruhigend, weil sie nur vermuten können, daß das Giftgas von deutschen Wissenschaftlern entwickelt wurde. Und sie haben keine Ahnung, wie ihr Vater an die Formel gekommen ist und wie tief er in die Sache verwickelt ist...!

Wenig später taucht bei ihnen ein Mann auf, der behauptet, der frühere Lehrer ihres Vaters zu sein. Er habe eine lange Zeit damit zugebracht sie zu suchen, und jetzt, da er sie gefunden habe, habe er nur eine Bitte an sie: sie sollen als Katzen eine Weinflasche stehlen, die demnächst auf einer Auktion in Tokio versteigert werden wird. Das Etikett auf dieser Flasche hat ihr Vater gemalt, das ist noch in seiner Zeit in der Schweiz gewesen. Und er wolle sich noch einmal „an diesem Meisterwerk von Heintz erfreuen“.
Es ist erst kürzlich als einzige noch heile Flasche von zwanzig anderen aus einem Anfang 1945 gesunkenen deutschen U-Boot geborgen worden. Es sollte damals als besonderes Geschenk von Deutschland an seine Verbündeten, die Japaner gehen.
Doch der Mann erzählt ihnen, was die wirkliche Absicht dieser Sendung gewesen ist. Denn die Weinflaschen sollten nur als Vorwand dienen, um ein äußerst geheimes und schändliches Vorhaben zu decken. Auf den Weinflaschen sollte die Giftformel, die sie schon aus dem Rahmen ihres Vaters her kennen, von Deutschland nach Japan gebracht werden, es sollte ein Gemeinschaftsprojekt von Nazis und Japanern sein. Und in Japan sollte das Gas dann endgültig hergestellt werden...!
Der Mann erzählt ihnen auch, daß Michael den Auftrag die Etiketten zu malen angenommen hat, ohne daß er von dem wirklichem Zweck der Sendung wußte. Und als er es herausgefunden hat, war es schon zu spät. Dennoch hat er damit gedroht, die Leute öffentlich anzuprangern. Und als er dann auch noch Zeuge wurde, wie sein Mitbewohner, aus welchen Gründen auch immer, erschossen wurde, mußte er endgültig fliehen.

Die Katzen stehlen die Weinflasche, und auch die vollständige Formel findet sich darauf. Doch sie müssen bald feststellen, daß der Mann sie belogen hat. Denn er will die Formel für sich alleine haben, ist, nach eigenen Worten, sogar ein ehemaliges Mitglied dieser Gruppe, und will mit der Formel seine ganz eigenen „Ideen“ verwirklichen.
Er nimmt ihnen die Flasche, doch bald darauf können sie sie wieder zurückholen. Bei dieser Aktion verunglückt der Mann und stirbt. Vorher nennt er ihnen aber noch einen Namen:
Viktor Berger. Er ist der geheimnisvolle Anführer der Gruppe, der sie damals zusammengehalten hat, und er ist es auch gewesen, der höchstpersönlich den Mitbewohner von Michael umgebracht hat. Er ist schon sehr alt, über 80, aber er leitet diese Gruppe immer noch, und er ist hinter ihrem Vater her.

Das ist der Stand der Dinge, an dem das folgende einsetzt.

2. Meine Vorstellung der „Quadratur eines Kreises“

Donnerstag, 10. September 1987
Tokio, Japan

„Nein,...das kann nicht sein!“ Hitomi hoffte, dass sie nur träumte. Reiko saß ihr in einem Café gegenüber, und Hitomi blickte ihre Freundin wie erstarrt an. Das konnte doch alles nur ein Traum sein, das war keine Realität. Sie war in einer entsetzlichen Traumwelt gefangen.
Ihre Freundin riß sie aus ihren Gedanken. „Doch, es ist wahr, Hitomi. Die Katzen haben das Gemälde kaltblütig gestohlen, obwohl sie wahrscheinlich gewußt haben, dass man meinen Vater dafür zur Verantwortung ziehen wird.“ Hitomi nahm die Geräusche oder sonst irgend etwas um sich herum nicht mehr wahr, Reiko’s Worte klangen in ihrem Kopf nach. Beinah wäre sie aufgesprungen. Sie wollte Reiko sagen, dass sie das unter keinen Umständen gewollt hatte. Sie hatte ihre Freundin niemals da mit hineinziehen wollen.

Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatte ihre Schwestern gebeten, es nicht zu tun, und sie hatten nach einer Weile eingewilligt. Dennoch hatten sie es getan ohne ihr auch nur ein Wort zu sagen und ihr Versprechen gebrochen. Sie hatten das Gemälde ihres Vaters gestohlen, obwohl sie von Hitomi gewußt hatten, dass sie Reiko’s Vater damit in den Ruin treiben würden. Der war Direktor des Nakameguro- Museums, und das Gemälde war dem Museum nur ausgeliehen worden. Das bedeutete, wenn das Bild gestohlen wurde, würde er als Direktor des Museums dafür aufkommen müssen. Hitomi kannte ihn und wusste, dass er ein ehrlicher Mann war, der es durch ehrliche Arbeit zu diesem Posten gebracht hatte.
Jetzt waren ihre Schwestern eindeutig zu weit gegangen. Sie hatten mit ihren Aktionen nie Personen schädigen wollen, die es nicht ohnehin verdient hatten. Niemals hatten sie andere absichtlich verletzt, wenn es nicht sein musste. Es war ja wahr, sie stahlen, das konnte man nicht leugnen. Aber sie hatten damit niemals einen ehrlichen Menschen so sehr schädigen wollen, wie sie das jetzt ohne Zweifel getan hatten. Reiko’s Vater würde persönlich für den Schaden aufkommen müssen, und damit würde er alles verlieren, was er besaß. Bis auf seine einzige Tochter, ihre Freundin Reiko, würde er alles verlieren. Nami und Love hatten das gewußt, aber sie hatten es trotzdem getan!

„Können die Katzen so herzlos sein? Ich habe zwar gewußt, dass sie Verbrecher sind, aber ich dachte bisher, dass sie wenigstens noch einen kleinen Funken Moral und Ehrgefühl hätten. Wie können die sowas tun, Hitomi?!“, fragte Reiko jetzt leise. Ja, genau das war die richtige Frage: wie hatten sie sowas tun können?
„Ich weiß es nicht.“ Sie hatte wirklich keine Ahnung. Am Liebsten wäre sie sofort mit der U-Bahn nach Hause gefahren um ihre Schwestern zu fragen, was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hatten. Obwohl sie und Reiko jetzt schon lange befreundet waren, ahnte Reiko nichts von Katzenauge, bzw. wer dahinter stand. Sie kannte auch ihre beiden Schwestern, und dennoch ahnte sie nichts von alledem.
„Ich habe keine Ahnung, was jetzt werden wird.“, meinte Reiko wieder leise, doch Hitomi hörte sie nur mit einem Ohr. Sie spürte die Wut in sich aufsteigen. Ihre grünen Augen wurden fast schwarz, wie sie das immer wurden, wenn etwas sie sehr erschreckte oder wenn sie wütend war. Es hatte einige Gelegenheiten gegeben, an denen sie eine ihrer Schwestern oder gleich alle beide zusammen am Liebsten auf den Mond geschossen hätte, aber das hier war schlimmer als das. Sie hatten sich immer felsenfest aufeinander verlassen können, das war eine ihrer Stärken, doch jetzt hatten die beiden ihr Versprechen gebrochen, das sie Hitomi gegeben hatten. Was immer die beiden dazu sagen würden, sie konnten sich auf etwas gefasst machen.
Sie unterhielt sich noch eine Weile weiter mit Reiko, dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zu der nahegelegenen U-bahn-Station. In weniger als 15 Minuten hatte sie nur noch ein paar hundert Meter bis nach Hause zu gehen. Es war beinah halb sieben Uhr abends und September, der Wind wehte schon recht kühl für diese Jahreszeit. Sie war vollauf damit beschäftigt sich auszumalen, was für eine Erklärung sich die beiden wohl einfallen lassen würden. Die beiden kannten sie, und sie konnten sich wohl denken, dass ihre Schwester wütend sein würde.

Sie trat durch die Haustür und sah dann ihre Schwestern in der Küche am Tisch sitzen Sie sahen hoch, als sie ihre Schwester hereinkommen hörten. Beide sahen danach zu Boden, sie wussten ganz genau, dass sie ein Versprechen gebrochen hatten. Nami sah ein wenig hoch und wollte mit einer Erklärung anfangen. „Weißt du, Hitomi,...!“
„Sag kein Wort, Nami!“, fauchte Hitomi sie an. „Warum? Warum habt ihr das getan?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Ihr habt es gewußt, ihr habt es ganz genau gewußt, ihr hattet mir versprochen, dass ihr es nicht tut! Ist euch eigentlich klar, was ihr da getan habt?!...Reiko’s Vater wird dafür voll haftbar gemacht werden!“
Love meinte leise: „Aber das Bild gehörte früher unserem Vater, hast du das vergessen?“
„Nein, das hab’ ich nicht vergessen! Aber ist dieses Bild so wichtig, dass wir bereit sind in Kauf zu nehmen damit einen ehrlichen Menschen und seine Tochter praktisch in den Ruin treiben?!“
„Wir mussten es einfach tun. Versteh doch, es gab keinen anderen Weg!“, sagte Nami jetzt.
„Ach ja, gab es wirklich keinen? Das Bild war für unsere Suche nicht wichtig, es hätte genauso gut im Museum bleiben können!... Ihr seid verdammt egoistisch, wißt ihr das?! Wir wollten niemals mit unseren Aktionen die Zukunft eines ehrlichen Menschen zerstören, aber genau das habt ihr gerade getan!“ Sie war verdammt wütend, und sie dachte nicht daran, die Sache jetzt als nicht mehr zu ändern hinzunehmen.
Nami senkte den Blick und meinte leise: „Tut mir leid. Aber du musst uns verstehen,...wir...!“
Weiter kam sie nicht. Ehe sie weiter darüber nachgedacht hatte, was sie tat, hatte Hitomi ausgeholt, und schlug ihrer Schwester ein krachende Ohrfeige ins Gesicht. Beide, Nami und Love, schraken zurück.
„Da gibt es wohl nichts zu verstehen!“, fauchte Hitomi.
Doch ehe sie sich versah, hatte auch ihre ältere Schwester ausgeholt und schlug zurück, das ließ sie sich nicht bieten. „Das reicht jetzt!“, zischte sie nun ihrerseits zurück.
Nami sah ihre Schwester leicht nach hinten zurückweichen, aber Hitomi sagte nichts. Sie zog nur die Augenbrauen finster zusammen, und ihre Augen waren jetzt wieder fast schwarz. Schließlich wandte sie sich wortlos um und wollte gehen. „Wohin gehst du?“, fragte Nami sie.
„Das wieder glattbügeln, was ihr angerichtet habt!“, antwortete Hitomi ohne sich umzudrehen.
„Das kannst du nicht!“ Nami stand auf.
Hitomi fuhr herum und fauchte wieder: „Und ob ich das kann!...Willst du es mir etwa verbieten?!“
„Wenn es sein muß,...ja!“
„Dann versuch doch mich aufzuhalten!“ Ehe sich die beiden versahen war ihre Schwester schon zur Tür raus und aus dem Haus, in der Dunkelheit verschwunden.

Nami wollte ihr hinterherlaufen, doch sie fühlte, wie Love sie mit einer Hand am Arm festhielt. „Nein, tu das nicht!“, meinte ihre Schwester.
„Wieso nicht? Sie wird das Gemälde zurückbringen!“ Sie riß sich von der Hand ihrer Schwester los.
„Aber vielleicht hat sie recht! Vielleicht war es wirklich falsch, was wir gemacht haben! Hast du schon mal darüber nachgedacht?“ Damit wurde sie alleingelassen.
Ihre jüngere Schwester ließ eine nachdenklich gewordene Nami zurück. Sie war zwar immer noch wütend, das hätte Hitomi nicht tun dürfen, aber irgendwie hatten die letzten Worte von Love sie nachdenklich gestimmt.
Sie hatte ihre Schwester selten so wütend erlebt, und Hitomi hatte meistens gute Gründe dafür. Vielleicht war es wirklich falsch gewesen. Vielleicht hatte Hitomi wirklich recht gehabt, als sie gesagt hatte, dass sie egoistisch wären.
Aber immerhin hatte dieses Bild ihrem Vater gehört! Wenn sie nicht auf alles vorbereitet gewesen waren, dann hätten sie das Feld niemals betreten dürfen. Das wusste Hitomi selbst am Besten. Aber trotzdem....!
Vielleicht hatte sie recht gehabt. Sie waren zwar Diebe, aber sie waren nicht wirklich kriminell. War es nicht kriminell, die Zukunft eines Menschen zu zerstören?
Im Nachhinein wusste sie selbst nicht so genau, warum sie ihre jüngere Schwester, die von Anfang an Bedenken dagegen gehabt hatte, dazu überredet hatte, mit ihr die Aktion durchzuziehen. Sie wussten beide, was Reiko ihrer Schwester bedeutete. Sie hatten ein Versprechen gebrochen, etwas, was noch niemand von ihnen getan hatte. Sie wussten, dass sie sich fest auf das Wort des anderen verlassen konnten, also warum hatten sie es jetzt gebrochen?!
Vielleicht waren sie alle im Moment unruhig und auch unvorsichtiger geworden, diese Suche dauerte schon zu lange. Immer noch hatten sie keine Ahnung, ob sie jemals in der Lage sein würden ihren Vater lebend wiederzufinden. Die letzten Monate hatten nicht sehr viel neues gebracht, sie wussten zwar schon den größten Teil dessen, was ihrem Vater widerfahren war. Aber damit hatten sie ihn noch nicht wieder, und der wichtigste Teil fehlte immer noch: wie konnte man diese Leute, die ihn nun seit über 40 Jahren verfolgten, kriegen? War das überhaupt möglich? Waren sie nicht schon zu mächtig für sie?
Würde der ganze Spuk vorbei sein, wenn sie ihn lebend bei sich hatten? Würde er jemals wieder in der Lage sein mit ihnen ein normales Leben zu führen, oder würde er sich weiter verstecken müssen?
Vielleicht war gestern alles ein wenig aus dem Lot geraten, als sie das Bild gestohlen hatten. Sie haßte es, sich mit ihren Schwestern zu streiten, auch wenn sie es eigentlich nur sehr selten taten. Hitomi war wirklich kein Mensch, der es darauf anlegte sich zu streiten, aber manchmal schlug auch sie über die Stränge. Genauso, wie sie selbst das vermutlich gerade getan hatte, auch wenn sie das eigentlich nicht gewollt hatte. Sie wusste, dass Hitomi sich so oder so nicht von dem abhalten lassen würde, was sie im Begriff war zu tun. Sie kannte ihre kleinere Schwester sehr gut. Hitomi hatte den Dickkopf ihres Vaters geerbt, wenn sie sich einmal etwas fest vorgenommen hatte, brachte auch nichts und niemand sie mehr davon ab.
Vermutlich war es ganz gut so. Auch wenn Hitomi und sie sich erst hatten schlagen müssen, bevor sie es einsah. Ihre Schwester hatte wohl allen Grund gehabt wütend zu sein.

Hitomi hörte ihre Schritte relativ ruhig auf dem Pflaster des Bürgersteiges entlanglaufen. Doch innerlich war sie nicht halb so ruhig. Sie hätte ihren Schwestern liebend gerne noch einige andere Sachen an den Kopf geworfen, aber das hätte zu nichts weiter als einem wirklich handfesten Krach zwischen ihnen dreien geführt. Das war wirklich sehr selten, es war ja sowieso schon selten, dass sie sich stritten. Es war eben nicht immer einfach mit ihnen dreien, und auch ihr Vater hatte sie manchmal scherzhaft ein „Trio infernale“ genannt.
Ihr geheimes Versteck, wo sie alle inzwischen zurückgeholten Kunstwerke ihres Vaters aufbewahrten, lag in einer Lagerhalle am Hafen. Es war von hier bis dorthin keine allzu weite Strecke, doch man brauchte immerhin eine gute halbe Stunde um mit der U-Bahn dorthin zu gelangen. Niemandem außer ihnen selbst war das Versteck und der Zugang bekannt.
Sie wusste eigentlich nicht genau, wie sie es anstellen sollte, dass Gemälde wieder ins Museum zurückzubringen. Sicher, das Museum würde heute abend nicht so gut bewacht sein, weil sie sich nicht angekündigt hatten, wie sie das ja sonst immer taten. Manche Leute mochten sie wegen dieser Angewohnheit auslachen, aber es war nur fair den Polizisten gegenüber.
Mit einem Anflug von Trauer dachte sie an Toshi. Sie hatte ihn wegen der letzten Aktion vor zwei Wochen wieder anlügen müssen. Sie konnte schon nicht mehr mitzählen, wie oft sie es jetzt schon getan hatte, und wie oft sie ihm etwas verschwiegen hatte, damit er von anderen Dingen nicht erfuhr. Sie liebte ihn, aber sie konnte ihm davon nichts erzählen. Er durfte niemals etwas davon erfahren, sonst war es aus. Nicht nur für Katzenauge, sondern auch zwischen ihnen beiden. Es grenzte ja sowieso eigentlich schon an eine reine Unmöglichkeit, dass eine Diebin die Verlobte eines Polizisten war, der er in vielen Nächten hinterherjagte. Doch es war leider die reine Wirklichkeit, und das schlimme war, dass sie nicht mal etwas daran ändern konnte.

Erst ein paar Ecken zu spät merkte sie, dass sie schon viel früher hätte abbiegen müssen, um zur nächstgelegenen U-bahn-Station zu kommen. Aus Gewohnheit war sie diesen Weg gegangen, denn sie fand sich plötzlich vor dem Haus von Chang wieder.
Chang war knapp 50 Jahre alt, er war ihr Meister. Den schwarzen Gürtel in Karate hatte sie nicht von allein bekommen, drei Mal in der Woche trainierte sie mit ihm in seiner eigenen kleinen Halle. Sie hatte total vergessen, dass heute eigentlich Training war.
Wenn man Chang sah, konnte man nicht glauben, dass er mühelos ein Dutzend Männer allein auf die Matte schickte. Denn Chang war seit einem schweren Motorradunfall gelähmt und saß im Rollstuhl. Aber wenn er ernst machte, mochte sie es nicht mit ihm aufnehmen. Er war ein alter Freund ihres Vaters, und er war auch ihrer aller Freund geworden. Er kannte sie schon sehr lange, und er wusste über die Sache Katzenauge Bescheid.

Sie entschloß sich kurzfristig, ihre Pläne zu ändern, sie würde ohnehin noch warten müssen, denn jetzt konnte sie unmöglich schon in das Museum hinein. Sie ging über die schweren Holzdielen, die zu seiner Haustür führten, kam aber nicht dazu anzuklopfen.
Denn ein Mann mittleren Alters, mit stoppelkurzen, immer noch pechschwarzen Haaren und in einem Rollstuhl sitzend öffnete die Tür. Er musste ihre Schritte mit seinem außergewöhnlich guten Gehör schon vorher wahrgenommen haben.
Er lächelte und sagte nur: „Du kommst spät.“
Sie war seine Art gewöhnt und trat ein. Sie folgte ihm quer durch das kleine Haus in die Halle. Sie kannte sich hier im Schlaf aus, schon seit sie zehn war, war er ihr Meister. An seinen Wänden hingen Rollbilder mit vietnamesischen Schriftzeichen darunter. Obwohl sie den japanischen entfernt ähnlich waren, konnte sie die Zeichen nicht lesen. Chang war gebürtiger Vietnamese, hatte aber den größten Teil seines Lebens in Japan verbracht. Sie kannte ihn jetzt schon so lange, aber trotzdem verstand sie einige Teile an ihm immer noch nicht. Er redete nicht gerne über seine Vergangenheit - also bevor er ihren Vater kennengelernt hatte - und sie hatte ihn auch nie danach gefragt.
Wenig später stand sie ihm gegenüber. Er hatte wie meistens seinen kurzen Bambusstab in der Hand, mit dem er meisterhaft umzugehen verstand. Er ließ sie einige Übungen machen, wie er das immer tat. Aber sie traf mit den Füßen die Ziele, die er ihr angab, nicht hundertprozentig und ihre Faustschläge saßen zu locker. Sie merkte das selbst, aber sie konnte es nicht ändern.
Auch seinen guten Augen entging das nicht. „Konzentriere dich!“
Sie versuchte es, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie musste immer wieder an die Sache mit Reiko denken, sie konnte sie einfach nicht aus dem Kopf kriegen. Er wiederholte es noch mal: „Na los, konzentriere dich!“
Es schien zu funktionieren, sie traf die Ziele jetzt besser und wurde sicherer. Wenn sie das Bild nicht zurückbrachte, würde Reiko’s Vater dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Plötzlich spürte sie einen kurzen Schmerz in ihrem rechten Bein. Sie merkte, wie der Boden unter ihr schwand - fast so, als würde er ihr unter den Füßen weggezogen. Sie spürte, dass sie unsanft auf den Boden fiel. Es war viel zu schnell gegangen, als dass sie nur an Gegenwehr hatte denken können.

Jetzt sah sie hoch und sah Chang vor sich in seinem Rollstuhl sitzen. Keine Gefühlsregung zeigte sich in seinem Gesicht, nur den Bambusstab wiegte er bedeutungsvoll in der Hand. Im selben Moment wusste sie, was er getan hatte. Er hatte ihre mangelnde Konzentration gegen sie selbst benutzt und sie so nur mit einem Stab zu Boden geschickt. Das war seine Art ihr etwas zu sagen.
„Was ist los mit dir? Ich habe dich selten so unkonzentriert erlebt.“
Sie schüttelte den Kopf, blieb aber halb aufgerichtet auf dem Boden liegen. „Nichts, es ist alles in Ordnung. Ich kann mich heute nur nicht so gut konzentrieren, das ist alles.“
Er sah sie lange an, dann meinte er: „Wenigstens ich kann dir noch ansehen, wenn du lügst, Hitomi.“
„Ich habe dir noch nie etwas vormachen können, oder, Chang?!“ Er wandte sich von ihr ab und fuhr langsam um sie herum, sie folgte ihm mit den Augen.
Meister Chang, zumindest in diesem Raum.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Weißt du noch, als ihr Katzenauge ins Leben gerufen habt?!...Damals warst du wütend. Wütend auf die Leute, die eurem Vater und meinem Freund das angetan hatten, wütend auf dich selbst, weil du merktest, dass es so nicht weiter gehen konnte. Du wusstest, dass das, was ihr vorhattet, im Grunde genommen falsch war. Ich habe dich immer den Weg des Friedens gelehrt, und nicht grundlos die Fähigkeiten zu gebrauchen, die ich dir beibrachte. Du weißt, ich war nie ganz glücklich mit dem, was ihr tut. Aber auch ich musste es als vielleicht einzige Möglichkeit akzeptieren, Michael eines Tages wiederzusehen. Ich kenne dich schon seit einer langen Zeit, und ich sehe dir an, wenn etwas nicht stimmt. Also, was ist los mit dir?!“
Es dauerte nicht lange, bis sie ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Er saß ohne ein Wort zu sagen da und hörte ihr aufmerksam zu.
Anschließend meinte er: „Du folgst deinen Gefühlen. Das ist nicht gut, weil es dich unvorsichtig und unkonzentriert macht. Es ist sicher richtig, dass du das Bild zurückbringst, aber du musst vorsichtig sein und darfst kein Risiko eingehen. Ich will dich nicht in den nächsten Tagen hinter Gitter sehen müssen.“
Er hielt ihr seine Hand hin und half ihr auf die Beine. „Für heute ist das Training beendet. Du musst noch etwas wichtigeres tun.“ Sie nickte dankbar und trat aus dem Raum.

Wenig später schon ging sie die Straße entlang, der nahegelegenen U-bahn-Station entgegen. Nach einer halben Stunde war sie endlich bei der Lagerhalle angekommen. Es war zwar erst Viertel nach neun Uhr, aber trotzdem war nicht mehr sehr viel an den Kais los; es war auch sowieso kein sehr belebter Teil des großen Hafens. Sie betrat einen abgetrennten Teil der großen Lagerhalle durch einen geheimen Zugang.
Drinnen war es schon sehr viel wärmer, weil sie die kostbaren Kunstwerke und Gemälde natürlich nicht der Feuchtigkeit und der Kälte aussetzen wollten. Jedesmal, wenn sie diesen geheimen Raum betrat, fühlte sie sich in einer anderen Welt. In jedem einzelnen Pinselstrich der Gemälde oder in jeder Stelle einer seiner wunderschönen kleinen Statuen konnte sie ihren Vater sehen. Es fielen ihr hier viele Sachen aus ihrer Kindheit ein, die sie glaubte vergessen zu haben. Sie mochte diesen Ort, und manchmal kamen sie nur her, um ihrem Vater nah zu sein. Denn er war praktisch durch seine Gemälde bei ihnen, auch wenn sie nicht wussten, wo er wirklich war.
Jedes einzelne Stück hier hatte seine eigene Geschichte, wie es entstanden war, wie es oft durch viele Hände schließlich in ihre gelangt war. Sie musste noch warten, bis sie das Gemälde zurückbringen konnte. Das Museum war zwar schon geschlossen, aber vor elf Uhr durfte sie sich dort unter keinen Umständen hineinwagen. Es mochte zwar gefährlich sein, aber sie wusste, dass sie es schaffen würde. Zumal niemand heute mit den Katzen rechnete, und das war ihr kleiner, aber nicht zu unterschätzender, Vorteil.
Sie musste jetzt noch warten, aber dieser Ort war wie geschaffen zum Warten. Sie sah das Gemälde, um das es ihr ging, es stand an einer hinteren Wand auf einem Ständer. Sie kannte es, ihr Vater hatte es ihnen einmal gezeigt, das musste schon ungefähr zehn Jahre zurückliegen. Er hatte es noch in den USA gemalt, und heute war es Millionen Yen wert. Das war irgendwie schon ziemlich unglaublich, wie die ganze Geschichte um sie und ihre Familie überhaupt ziemlich unglaublich war.
Sie dachte noch an alles mögliche, auch an heute. Sie und ihre Schwester hatten sich noch niemals geschlagen. Doch, einmal. Das war jetzt aber schon über 16 Jahre her. Nami hatte ihr damals eine Ohrfeige verpaßt, weil Hitomi in Wut bei einem Streit mit ihrer Schwester zu weit gegangen und auch ziemlich unfair gewesen war. Sie lächelte jetzt, sie hatte es damals wahrlich verdient gehabt.

Irgendwie klang ihre Wut gegen die beiden ab, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte. Keiner von ihnen konnte dem anderen wegen irgend einer Sache sehr lange böse sein. Ehe sie sich versah, war es Viertel vor elf Uhr. Sie bewahrten immer drei zusätzliche Anzüge hier auf, für jeden einen.
Sie zog sich den ledernen Motorradanzug über den Katzenanzug, denn auch ein Motorrad gehörte zum ständigen Inventar der kleinen Halle. Um fünf Minuten vor elf Uhr schwang sie sich auf das Motorrad und fuhr durch ein ebenfalls geheimes Tor aus der Halle heraus wieder in die Kälte. Nicht einmal Toshi hätte sie jetzt noch erkannt. So fuhr sie durch den jetzt immer noch ziemlich dicht fließenden Verkehr auf das Nakameguro-Museum zu.

Es war schon fast halb zwölf, als sie die Maschine nahe dem Museumsgebäude anhielt. Die Gänge waren videoüberwacht, aber sie kannte das System von ihren Vorbereitungen zu ihrer Aktion noch sehr gut. Sie hatten schon den Plan fertig gehabt, aber dann hatte Hitomi von ihrer Freundin erfahren, dass Reiko’s Vater für den Verlust des Bildes haftbar gemacht werden würde. Sie dachte noch einmal an Chang’s Warnung und versprach sich und ihrem Meister vorsichtig zu sein. Es hatte schon seinen Grund gehabt, warum der weise Mann ihr das gesagt hatte.
Sie ließ das Motorrad in einer dunklen Ecke stehen, wo sie leicht aufspringen und losfahren konnte. Blitzschnell war sie ihren Lederanzug los und kletterte über eine Feuerleiter auf ein benachbartes Dach. Über verschiedene Dächer gelangte sie schließlich recht schnell auf das Dach des Museumsgebäudes. Sie sah auf die Uhr, wenn sie sich beeilte, konnte sie den Weg vom Museumsdach bis zum Motorrad in zwei Minuten schaffen, und wenn sie verfolgt wurde, sogar noch schneller. Aber sie legte es nicht darauf an verfolgt zu werden, nicht heute nacht. Sie stahl nicht etwas, sondern sie brachte etwas von ihnen Gestohlenes zurück. Das Museum war zwölf Stockwerke hoch, ein noch ziemlich neuer Bau. Doch trotzdem hatte sie keine Probleme, den Kameras und den Wachleuten, die in den Stockwerken umher gingen, auszuweichen. Die Gänge waren nur schwach von der Notbeleuchtung erhellt, doch sie konnte mit ihren guten Augen alles genau erkennen. Sie wollte das Bild nicht direkt in den Ausstellungsraum zurückhängen, das wäre dann doch zu gefährlich für sie alleine geworden. Statt dessen wollte sie es in das Büro des Direktors bringen. Das lag im zehnten Stockwerk und wurde nicht überwacht. Das einzige Problem bestand darin, dass Reiko’s Vater noch dort sein konnte. Ihre Freundin hatte ihr davon erzählt, dass er - nicht oft, aber manchmal - länger in seinem Büro blieb.

Sie sah kein Licht unter der Tür durchschimmern, als sie endlich bei ihrem Ziel angelangt war. Der Teppichboden dämpfte ihre Schritte, sie trug das Bild unterm Arm, als sie sich noch einmal vorsichtig nach allen Seiten umsah. Keine Menschenseele war zu sehen, und so wagte sie es, vorsichtig und möglichst leise den Türknopf herumzudrehen. Es war dunkel in dem Raum, und so öffnete sie die Tür langsam, ganz langsam weiter. Schließlich trat sie durch die Tür und schloß sie lautlos hinter sich wieder.
Ihre Augen waren die Dunkelheit jetzt gewöhnt, und sie konnte sich orientieren. Sie schaute zwar nach allen Seiten in das Dunkel hinein, doch sie konnte nichts ungewöhnliches an diesem Büro entdecken. Da stand ein großer Schreibtisch mit einem Gemälde an der Wand dahinter. Auf dem Schreibtisch standen ein Telefon, einige Dokumente und Briefe lagen darauf und sonstiges. Eine riesige Palme stand an einem großen Fenster, dass jetzt allerdings durch Fensterläden verschlossen war. Ansonsten war alles so, wie man es im Büro eines Museumsdirektors erwartet hätte. Sie ging leisen Schrittes auf den Schreibtisch zu. Sie würde das Bild hinlegen, eine Karte mit einer Entschuldigung daneben und dann so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen war.
Schon wenige Minuten später sprang sie über die Dächer, ihrem Motorrad entgegen. Es war alles ganz glatt gelaufen, niemand hatte sie bemerkt und das Bild lag jetzt wieder auf dem Schreibtisch des Direktors. Morgen würden sicher wieder in den Zeitungen eine Menge Reporter darüber spekulieren, warum die Katzen ein Gemälde zurückbrachten, das sie vor nicht einmal 24 Stunden gestohlen hatten.

Er sah die Frau langsam über das Dach laufen. Sie blickte nicht in seine Richtung, und selbst wenn, sie hätte ihn niemals bemerken können, denn er lag sicher im Dunkeln auf der Lauer. Er hatte auf sie gewartet,
hatte sie quer durch die halbe Stadt bis hier her verfolgt, so lange, bis sich ein günstiger Moment wie dieser hier bot. Er überprüfte zum wiederholten Male sein Gewehr mit Zielfernrohr. Die Frau wirkte für eine Sekunde ein wenig geistesabwesend. Das war der Augenblick, auf den er gewartet hatte. Blitzschnell legte er das Gewehr an, das Zielen und Schießen war eine Bewegung.
Nur Sekundenbruchteile später bohrte sich ein kleiner Pfeil in den Nacken der Frau. Sie schien erst verblüfft zu sein und tastete mit einer Hand nach der Stelle, an der das Ding sie getroffen hatte. Doch schon fing sie an zu wanken und stürzte dann ohne einen Laut auf den Boden des Daches.
Sie war bewußtlos. Es war ein sehr schnell wirkendes Mittel gewesen. Zwei Schatten sprangen auf die Frau zu, hoben sie auf und trugen sie mit sich davon. Es gab keine Zeugen, kein Geräusch und auch sonst keinen Laut. Nur das ferne Rauschen des Verkehrs unter ihnen.

Er war müde und erschöpft, er wunderte sich wie er die Treppen zu seiner Wohnung hatte erklimmen können ohne nicht wenigstens einmal zu stolpern. Heute war ein ziemlich anstrengender Tag gewesen und er erinnerte sich nicht daran, sich jemals so auf sein Bett gefreut zu haben.
Aber diesmal waren ausnahmsweise einmal nicht die Katzen der Grund seiner körperlichen Erschöpfung. Sie hatten heute einen wichtigen Fang gemacht. Sie hatten einen bedeutenden Mann gefaßt. Es war der krönende Abschluß von monatelangen Vorbereitungen gewesen, die dazu notwendig gewesen waren. Wieder einmal war ihnen einer der bösen Buben ins Netz gegangen.
Er fischte den Hausschlüssel aus seiner Jackentasche und steckte ihn ins Schloß seiner Wohnungstür. Doch er kam nicht dazu ihn herumzudrehen, denn auf einmal bemerkte er einen Schatten, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Er sah den Schatten nur sehr undeutlich und aus den Augenwinkeln heraus. Denn schon gleich darauf spürte er einen heftigen Schlag ins Genick, und er spürte, wie er sich dem Boden entgegen bewegte. Seine Sinne schienen von dem Schlag mit einem Mal total lahmgelegt worden zu sein, denn um ihn herum wurde alles schwarz. Er fühlte, wie er auf den Boden aufschlug, aber danach war alles in tiefe Finsternis gehüllt und er wusste nichts mehr von sich oder der Welt.

Der frühe Abend hatte begonnen, der zweite Abend, seit Hitomi verschwunden war. Noch hatte sie sich nicht wieder gemeldet, und Nami hatte ein zunehmend ungutes Gefühl bei der Sache. Es war einfach unüblich für Hitomi so lange wegzubleiben ohne sich nicht wenigstens zu melden. Sicher, sie konnte gehen wohin sie wollte. Aber wenn sie als Katze unterwegs war, tat sie das normalerweise nicht ohne ihren Schwestern Bescheid zu sagen. Immerhin war sie ja gestern abend Katze gewesen.
Nami merkte jetzt erst, dass sie in Gedanken versunken war. Sie saß nun schon seit einer Stunde an ihrem Schreibtisch und schrieb einige Aufgaben nieder, die sie für den Unterricht an der Uni brauchte. Sie hatte damals, als ihr Vater verschwunden war, die Ausbildung zur Computeranalytikerin abgebrochen, hatte sie aber vor zweieinhalb Jahren wieder aufgenommen. Es war nicht so schwer den Unterricht und ihre zweite Identität als Katze unter einen Hut zu bringen, das beherrschte sie inzwischen ganz gut.
Die Aufgaben, die sie jetzt vor sich hatte, waren eigentlich ganz einfach, aber sie brauchte länger dafür als sie erwartet hatte, denn sie schweifte mit den Gedanken jetzt ein wenig ab.
Selbst wenn Hitomi wütend auf ihre Schwestern war, würde sie nicht so einfach verschwinden, das würde sie einfach nicht tun.

Das erste, an das sie sich erinnerte, war dieses Etwas, das sie getroffen und fast augenblicklich bewußtlos gemacht hatte. Nur für eine Sekunde lang war sie unaufmerksam gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit seit dem vergangen war, es konnten Stunden oder auch Tage sein. Ihr war noch leicht schwindelig, und sie hatte Kopfschmerzen, die aber langsam abklangen, je wacher sie wurde.
Sie blinzelte in das schwache Licht, das als einziges den Raum erhellte. Sie richtete sich langsam auf und sah sich um. Der Raum war nicht sehr groß und die Wände bestanden aus roh behauenen Steinblöcken. Der Raum besaß keine Fenster, sondern nur einen Luftschacht, der aber viel zu klein war, als dass sich ein Mensch hätte durchzwängen können. Die einzige Tür bestand aus Stahl. Im Raum selbst stand nur ein Feldbett, auf dem sie zur Zeit noch lag. Sonst gab es nur einen alten Stuhl und einen Tisch. Sie befand sich allein in diesem Raum, der große Ähnlichkeit mit einer Zelle in einem Kerker hatte.
Sie hatte ungefähr tausend Fragen, auf die sie noch keine Antwort fand. Wer hatte sie entführt? Sie nahm an, dass es mehrere waren, aber wer waren die dann? Was wollten die von ihr? Man hatte sie gelungen überrascht und mit dem Betäubungsmittel zu Boden geschickt, ehe sie nur wusste, was mit ihr passierte. Was danach geschehen war, wusste sie nicht.
Hatten ihre Schwestern, als sie gemerkt hatten, dass etwas mit ihr geschehen sein musste, schon eine Spur von ihr? War sie noch in Tokio? Wo war sie überhaupt?
Diese Fragen zu stellen und keine Antworten darauf zu bekommen, machte sie unruhig. Sie haßte es, nicht genau zu wissen, was geschehen war und wo sie war. Sie mochte diese Ungewißheit überhaupt nicht.
Sie verfluchte sich selbst, dass sie entgegen der Warnung von Chang nur einen Moment unaufmerksam gewesen war, und dann war es auch schon zu spät gewesen. Sie hätte seine Worte besser befolgen sollen.
Im Moment schien es leider nicht so, als könnte sie irgend etwas gegen ihre jetzige Lage unternehmen. Sie musste abwarten, was weiter geschehen würde.

Man hatte ihr ihre Armbanduhr genommen, deshalb konnte sie nicht genau bestimmen, wie lange sie in dieser Zelle war, bis die Tür sich öffnete. Die schwere Stahltür wurde aufgeschlossen und schwang ohne Laut auf. Hitomi war aufgestanden und stand mitten im Raum. Sie war nicht gefesselt worden. Herein kam ein Mann, ungefähr Mitte 20, hochgewachsen und schlank, mit einem spanischen oder mexikanischen Ton in seinen Zügen und einem schwarzen Schnurrbart. Er hatte ein Maschinengewehr über der Schulter hängen, das er jetzt auf sie gerichtet hielt.
Er holte Handschellen aus seinem Gürtel, während er näher an sie heran trat. „Kommen Sie mit, Sie werden erwartet!“ Er hatte einen deutlich spanischen Akzent in seinem jedoch flüssigen Japanisch, das er sprach. Hinter ihm tauchte jetzt noch ein ähnlich aussehender Mann auf, der ebenfalls sein Maschinengewehr auf sie gerichtet hielt. Auch er war ein ähnlich finsterer Geselle wie der erste.
Einer forderte sie auf, ihm ihre Hände hinzuhalten damit er ihr die Handschellen anlegen konnte. Sie musste ihnen wohl gehorchen, zwei geladene und auf sie gerichtete Waffen waren Grund genug. Also legten sich die beiden kühlen Metallringe um ihre Handgelenke und wurden eingeklinkt. Jetzt bedeutete der Mann ihr mit einer Handbewegung zu gehen. Sie ging und folgte dem zweiten Mann, der vor ihr ging. Der andere schloß die Tür hinter ihnen und ging dann wachsam hinter ihr her den langen Gang entlang. Der war nur schwach erleuchtet, aber sie bemerkte, dass noch einige andere Türen wie die ihre hier und da abgingen. Sie befanden sich wohl in so einer Art Kellergewölbe. Die Luft roch relativ frisch, hier musste es ein gutes Lüftungssystem geben. Hitomi fragte sich, was sie da oben erwarten würde, oder wo immer man sie auch hinbrachte.
Sie, ihre Schwestern oder sie alle drei zusammen waren während ihrer bisherigen Zeit als Katzen schon mehr als einmal gefangen genommen worden, von irgendwelchen Verbrechern, die meistens auf Rache oder auf Profit aus waren. Doch schließlich war es ihnen immer wieder gelungen zu entkommen. Was würde sie diesmal erwarten? Niemand als sie selbst und ihre Schwestern konnte davon wissen, dass sie noch einmal ins Museum zurückgekehrt war.

Sie wurde eine Treppe aus Stein hinaufgeführt, anschließend trat sie durch eine Tür in einen weiteren Gang hinaus. Der war nach einer Seite hin nach draußen offen und wurde von schweren Säulen getragen. Es war immer noch dunkel, oder schon wieder. Denn sie hatte immer noch keine Ahnung, wie lange sie bewußtlos gefangen gehalten worden war.
Regenwolken verdeckten die Sterne, so dass sie nicht genau bestimmen konnte, wie spät es gerade war. Sie blickte durch die Säulen auf einen Park hinaus, der von Lichtstrahlern zum großen Teil ausgeleuchtet wurde. Schatten und Zwielicht legten sich über die Teile des Parks, die die Strahler nicht mehr ganz erfassen konnten. Dort standen Palmen, Sträucher und Blumen; Kieswege führten durch diesen wahren grünen und bunten Irrgarten aus Pflanzen, die aber auch eine gewisse Ordnung aufwiesen.

Dann wusste sie, woher sie das hier kannte, und wann sie es schon einmal gesehen hatte. Es war jetzt ungefähr anderthalb Jahre her, als sie als Katze schon einmal dieses Anwesen betreten hatte. Es gehörte einem gewissen Akira Kubari.
Er war ein sehr reicher und ein sehr skrupelloser Mann, der vor nichts zurückschreckte, um wertvolle Kunstgegenstände in seinen Besitz zu bringen. Damals hatten sie ihm ein Bild ihres Vaters gestohlen, und schon damals hatte er den Katzen Rache geschworen. War das jetzt seine Rache? Hatte er sie entführt um sich zu rächen?
Sie konnte noch keine Antwort auf die Frage finden, aber sie war sicher, die würde sie schon sehr bald bekommen. Ein gutes Gefühl hatte sie dabei aber immer weniger.

Sie wurde am Ende des Säulenganges in das Haus gebracht, das ebenfalls aufs allerfeinste eingerichtet war. Rote Wandteppiche, wertvolle Bilder an den Wänden und wertvolle Möbel.
Alles war so, wie es auch vor anderthalb Jahren gewesen war. Obwohl es damals noch dunkler gewesen war als jetzt, erkannte sie doch alles wieder. Sie sah im ganzen nur ein paar Wächter in den Räumen, durch die sie geführt wurde, ansonsten war niemand hier. Dann kamen sie an einer großen Tür an, die mit Mahagoniholz getäfelt war. Davor stand ein Wächter, der, als er sie bemerkte, höflich an die Tür klopfte. Er wurde hereingerufen und kam dann gleich wieder raus. Er machte eine Handbewegung, und die Wächter führten Hitomi durch die Tür hindurch.

Drinnen sah sie ein großes Büro, in dem gleichen luxuriösen Stil eingerichtet wie alles andere hier. Ein großer, wertvoller Schreibtisch stand vor einer ebenfalls großen Fensterfront. Auch die Gemälde, die an den Wänden hingen, erkannte sie wieder.
Sie musterte den Mann, der hinter dem Schreibtisch saß. Er war um die sechzig Jahre alt, mittelgroß und hatte weißes, schütteres Haar. Er war ein mächtiger, aber gänzlich skrupelloser und habgieriger Mensch, in seinen Augen sah sie die Grausamkeit, die Genugtuung, den Haß und den Hohn. Es bestand kein Zweifel, sie hatte Akira Kubari vor sich. Zwar ein wenig älter geworden, aber er war es.

Er lächelte und winkte den Wächtern sie bis vor den Schreibtisch zu führen. Danach zogen sich die Wachmänner bis zum Eingang zurück und bezogen dort Stellung. Sie stand vor diesem Mann und sah ihn an. Sie versuchte ihn mit ihren Blicken zu durchdringen, doch er blieb undurchsichtig wie ein Stein.
„Setzen Sie sich doch, Hitomi.“
„Ich hoffe, Ihre Gorillas erschießen mich nicht, wenn ich es vorziehe stehenzubleiben.“ Im Augenblick fiel es ihr gar nicht auf, dass er sie bei ihrem Vornamen nannte.
Er lächelte immer noch. „Sie sind eine bemerkenswerte Frau, das waren Sie damals schon. Leider habe ich den Fehler begangen, Sie zu unterschätzen, das wird mir nicht noch einmal passieren.“
Seine Augen ruhten mit einem zufriedenen Ausdruck auf ihr. „Es hat mich einige Zeit und ziemlich viel Mühe gekostet herauszufinden, wer sich hinter den Katzen verbirgt. Aber schließlich habe ich es geschafft, und Sie können mir glauben, dass es das glücklichste Ereignis in meinem bisherigen Leben war. Denn endlich habe ich die Möglichkeit, mich an Ihnen zu rächen für das, was Sie mir genommen haben, als Sie mich bestohlen haben!“
„Aber Sie irren sich! Wir haben Ihnen das Bild nicht gestohlen, wir haben es nur wiedergeholt. Weil es früher unserem Vater gehört hat.“
„Wem es früher gehört hat, ist mir egal! Sie haben es mir gestohlen, und dafür werde ich jetzt endlich Rache bekommen. Es hat schon viel zu lange gedauert, aber jetzt können Sie nicht mehr entkommen, Katze!“ Er lachte höhnisch und lehnte sich langsam in seinem Stuhl vor. Er fixierte sie mit seinem Blick. Sie hatte das ungute Gefühl, dass er sich etwas besonderes für seine Rache ausgedacht hatte. Dieser Mann war verrückt, und so würde er auch handeln.
Er wollte sie nicht einfach nur umbringen, das war für ihn zu einfach. Aber was wollte er dann tun?! Wollte er nicht sie, sondern ihre Schwestern töten? Oder Toshi? Wenn er das tatsächlich vorhatte...!
Ein häßliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Es war nicht einfach, etwas geeignetes für Sie zu finden. Sollte ich Sie der Polizei ausliefern? Nein, viel zu simpel. Aber dann habe herausgefunden, wie Sie zu einem gewissen Polizisten namens Uzumi stehen.“
Nein,...das durfte er nicht tun! Ihre Gedanken waren im ersten Moment ein einziger Schrei. Nicht er! Er konnte Sie töten oder sonst etwas mit ihr tun, aber nicht er!
Er lachte wieder höhnisch. „Ich kann mir gut vorstellen, was Sie jetzt denken!...Was hat er vor?! Will er ihn umbringen?! Ich sage es Ihnen: ihn umzubringen wäre viel zu einfach gewesen. Deshalb habe ich ihn auch hier herbringen bringen lassen. Er wird erst wissen, wer Sie in Wirklichkeit sind, dann wird er gemeinsam mit Ihnen zur Hölle fahren.“

Hitomi war, als hätte ihr jemand einen heftigen Schlag verpaßt. „Das...das können Sie nicht tun!“ Ihr war gar nicht bewußt, dass sie das sagte. Zu sehr hoffte sie, dass er nur bluffte.
„Doch, Hitomi, genau das werde ich tun!“ Man hörte seiner Stimme die höhnische Freude an.
Plötzlich fuhr sie auf und trat ihm einige Schritte entgegen. Sie ballte die Fäuste und spürte die ohnmächtige Wut in sich. Sie wusste, sie konnte nichts gegen die unternehmen, solange sie noch die Waffen hatten. Ihre Gedanken schrien immer noch: Nein! Das kann nicht sein!
Dann kam sie nicht mehr weiter, denn Kubari hatte seinen beiden Leuten einen Wink gegeben, und die traten von hinten an sie heran. Die beiden hielten sie mit eisenharten Griffen fest und zerrten sie rückwärts. Sie versuchte, sich dagegen zu wehren, aber sie waren zu stark.
Kubari stand jetzt aus seinem Stuhl auf und ging zur Tür. Die beiden Wächter führten die Wehrlose hinter ihm her.
„Meine Schwestern werden mich finden, und dann gibt es keinen Ort auf der ganzen Welt, wo Sie sich noch vor uns verstecken könnten!“ Noch fast niemals in ihrem Leben hatte Hitomi sich so hilflos gefühlt, und die Angst ließ sie alle Sinne konzentrieren und alle Muskeln anspannen. Auch wenn sie wusste, dass es im Moment überhaupt nichts nützte, diese Männer waren zu stark.
Kubari blieb kurz stehen und drehte sich zu ihr um. Er grinste. „Das glaube ich kaum!“

Love war in der Schule, wie sonst auch. Aber sie bekam nur die Hälfte des Unterrichts mit, denn sie machte sich Sorgen um ihre ältere Schwester. Es war absolut nicht Hitomi’s Art so zu verschwinden ohne ihnen wenigstens etwas davon zu sagen. Sie war mittlerweile schon fast zwei Tage weg, und Love wusste, dass da was nicht in Ordnung sein konnte.
Sie mochte es überhaupt nicht, zu wissen, dass ihre ältere Schwester wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckte, und sie konnten ihr noch nicht einmal helfen. Was war, wenn Hitomi keine Zeit gehabt hatte sie zu informieren? Was, wenn man sie einfach hinterrücks niedergeschlagen hatte?!
Diese Gedanken machten ihr Angst. Auch wäre sie nicht unschuldig an der Sache. Wenn sie und Nami sich nicht über das Versprechen Hitomi gegenüber hinweg gesetzt hätten, wäre das alles gar nicht passiert.
Sie hatte ihre Schwester selten so wütend erlebt, und sie hatte meistens gute Gründe, wenn sie derart ausflippte. Sie waren schließlich immer noch Geschwister, und da war es nur natürlich, wenn es hin und wieder zu Reibereien kam, das war wohl auch gut so. Aber wenn sie Katzen waren, durften sie sich das einfach nicht erlauben, da musste jeder genau wissen, was zu tun war.
Auch kannte sie Hitomi viel zu gut, um jetzt zu glauben, dass sie aus freiem Willen seit zwei Tagen total vom Erdboden verschluckt schien. Das tat sie einfach nicht, weil sie wusste, was für eine Verantwortung - auch ihren Schwestern gegenüber - sie hatte, wenn sie ihren Anzug trug.

In einer Pause saß sie mit ihrer Freundin Akiko auf einem Wall und beobachteten die anderen Schüler. Doch sie achtete nicht wirklich auf sie, sondern dachte daran, was mit ihrer Schwester geschehen mochte. Sie hätte am Liebsten den Unterricht geschwänzt, damit sie nach ihr suchen konnte, doch sie musste wohl weiter zur Schule gehen.
Ihre Freundin ahnte nichts von den Gedanken, sie wusste auch nicht, dass sie ein Mitglied einer der zur Zeit wohl gefürchtetsten Diebesbanden der Welt vor sich hatte. Obwohl sie sie und ihre Geschwister jetzt schon lange kannte, ahnte sie nichts davon.
„He,...was ist los mit dir?!...Schon seit zwei Tagen scheinst du nicht ganz bei der Sache zu sein.“
Love wusste, dass das kein Vorwurf sein sollte, sondern eine besorgte Frage einer guten Freundin. Trotzdem hatte die Frage von Akiko sie aus ihren Gedanken gerissen, und sie antwortete angebundener als sie hatte sein wollen: „Nichts! Das ist schon OK.“
Auf den erstaunten Blick von Akiko hin, die sowas von ihrer Freundin nicht gewöhnt war, meinte sie entschuldigend: „Tut mir leid. Es ist nur...ich bin ziemlich unfair gegenüber Hitomi gewesen.“ Das war noch nicht einmal gelogen.
Akiko hakte da nicht weiter nach. Sie kannte ihre Freundin lange genug, um zu wissen, dass sie ihr nicht gerne weitere Auskünfte gegeben hätte. Überhaupt redete sie nicht viel über ihre Familie. Akiko verstand das nicht recht, aber sie ließ das Thema ruhen. Sie kannte auch die beiden Schwestern von Love, aber irgendwie war da noch etwas rätselhaftes an ihnen allen, das sie sich nicht erklären konnte.
Sie hätte sowieso keine Zeit zu weiterem Fragen gehabt, denn in diesem Augenblick hörten sie alle das Läuten, das die Schüler wieder in den Unterricht zurückrief. Sie standen auf und gingen gemeinsam in Richtung ihres Klassenraumes. Oft tat es Love leid, dass sie ihrer Freundin nicht die ganze Wahrheit erzählen konnte, aber das war unmöglich, und das wusste sie. Als sie damals die Entscheidung getroffen hatten, Diebe zu werden, hatten sie alle gewußt, was das nach sich ziehen würde. Sie hatten gewußt, dass es nicht einfach werden würde. Für ihren Vater würde Love noch sehr viel mehr auf sich nehmen, sie mussten ihn finden, das mussten sie ganz einfach.
Sie wischte diese Gedanken jetzt zur Seite und konzentrierte sich voll auf den Unterricht. Doch nach kurzer Zeit begann sie wieder ein wenig abzuschweifen, fast ohne dass sie es merkte. Sie dachte immer noch über die Sache mit Hitomi nach. Ihre Schwester konnte oft unheimlich witzig sein, sie brachte manchmal sogar ihren sonst so ernsten Freund Hideo Nagaishi zum Lachen.
Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als sie daran dachte. Um so mehr leid tat es ihr jetzt, dass sie das große Vertrauen, das Hitomi in sie hatte, leichtfertig zumindest für ein Weile aufs Spiel gesetzt hatten. Wenn ihr jetzt mehr oder weniger durch die Schuld ihrer Schwestern etwas zugestoßen war.

Ohne noch ein Wort zu sagen, wandte Kubari sich wieder um und ging weiter, die Wächter mit Hitomi folgten ihm. Sie folgten ihm den selben Weg zurück in das Kellergewölbe, den Hitomi mit den Wächtern schon einmal gegangen war. Je weiter sie durch den dunklen Gang im Kellergewölbe vorwärtsging, desto mehr Angst hatte sie vor dem, was sie am Ende erwarten würde. Sie wusste, Kubari bluffte nicht, nicht er. Er würde genau das durchziehen, was er zu ihr gesagt hatte, und er würde es genießen.
Der Gang war immer noch nur schwach erhellt, doch trotzdem sah sie die gehässige Freude in den Augen dieses Mannes, als sie in der Nähe einer weiteren Stahltür anhielten und er sich zu ihr umdrehte. Sie sah ganz genauso aus wie all die anderen auch, und sie stand offen. „Jetzt wird es zuende gehen, Katze.“
Nein, das durfte nicht passieren! Niemals durfte er sie so sehen!
Sie versuchte von den Wächtern loszukommen, doch das gelang ihr nicht. Sie wehrte sich, doch die Männer hielten sie nur noch fester. „Nein, nein, das können Sie nicht tun!“
„Ich weiß, dass es fast nichts schlimmeres für Sie gibt, als wenn Ihr Freund sieht, wer Sie wirklich sind: eine unverbesserliche Kriminelle. Aber er wird es erfahren, bevor er mit Ihnen zusammen stirbt. Sie werden nichts, gar nichts tun können um das zu verhindern! Kein Ausweg mehr.“ Er lachte wieder sein höhnisches Lachen, jetzt war es zu viel.

Hitomi sammelte alle ihre Kräfte, all ihre Wut und ihren Haß, und das alles explodierte in einer einzigen Bewegung. Mit einem Schrei befreite sie sich aus den Händen der Männer, schlug dem einen beide Hände ins Gesicht, so dass er vor Schmerz zischend zurückwich. Dann rammte sie dem anderen beide Fäuste in den Magen, so dass er stöhnend zusammensackte. Mit einem Fußtritt schmetterte sie den ersten Wächter zu Boden, und fast mit der selben Bewegung tat sie das auch bei dem anderen Wächter. Sofort war sie zu Kubari gesprungen, ehe der auch nur daran denken konnte zu reagieren. Mit voller Kraft schlug sie ihm ihre Faust erst ins Gesicht, dass das Blut aus seinen Mundwinkeln floß, dann schlug sie ihm mit der selben Hand ins Genick, so dass er fast ohne Laut bewußtlos auf den Boden sackte. Sie nahm seine Schlüssel für die Handschellen und öffnete sie damit.
Jetzt sah sie aus den Augenwinkeln einen anderen Wächter aus der offenen Zellentür treten und reagierte sofort. Mit einem gewaltigen Sprung und einem Salto war sie bei ihm. Sie stieß ihm mit einem Kampfschrei den Lauf seiner eigenen Waffe ins Gesicht, so dass er heulend zurücktaumelte. Sie dachte nicht darüber nach, was sie eigentlich tat, sie durfte das nicht zulassen!
Mit einem weiteren Salto und einem noch in der Luft ausgeführten Tritt streckte sie auch ihn zu Boden. Seine Waffe flog klirrend auf den Boden, und er krachte auf den harten Steinfußboden. Noch in derselben Sekunde zog sie eine Katzenkarte, die man ihr gelassen hatte, und schleuderte sie in Richtung Lichtschalter. Sie war sich nicht sicher, ob sie treffen würde. Sie hatten das sehr oft geübt, doch das hier war eine extrem schwierige Position zum Zielen. Gleich darauf war es bis auf den schmalen Lichtschimmer, der durch die offene Tür hereinfiel, stockdunkel im Raum.

Sie landete auf dem Boden und dachte jetzt zum ersten Mal wieder nach. Das alles war automatisch abgelaufen; nur so konnte man so schnell reagieren, wie sie das jetzt getan hatte. Man musste schneller reagieren als die anderen, sonst war man verloren.
Ihre guten Augen sahen noch einen Menschen im Raum, aber der war nicht feindlich, jedenfalls nicht wirklich. Aber was sollte sie jetzt tun? Wenn sie sich ihm zeigte, war genau das passiert, was ihr Entführer gewollt hatte, und wenn sie beide jetzt nicht fliehen konnten, wurden sie trotzdem umgebracht. Sie musste wieder äußerst schnell eine Endscheidung treffen und handeln. Schneller sein als die anderen.

Inzwischen war ein ganzer Tag verstrichen und es war wieder Abend geworden, immer noch war keine Spur von Hitomi zu sehen. Den Minisender, den jede von ihnen während der Aktionen immer bei sich trug, hatte Hitomi in dieser Nacht nicht getragen. Normalerweise konnte man jemanden damit im Umkreis von 30 km bis auf einige Meter genau finden, aber diesmal ging das nicht.
Nami war bei ihrer Lagerhalle im Hafen gewesen und hatte dort nachgesehen, ob sich irgendeine Spur von ihrer Schwester finden ließ. Sie hatte aber bis auf die Kleidung, die Hitomi an dem Abend getragen hatte, nichts gefunden. Außerdem hatten noch ein Motorradanzug und das Motorrad gefehlt, mit dem sie meistens fuhr. Natürlich fehlte auch das Bild, das sie hatte zurückgeben wollen. Sie hatte es auch geschafft, denn heute Morgen hatte es in allen Zeitungen gestanden. Auch bei dem Museum war sie gewesen, aber dort hatte sie nicht das geringste gefunden, weder ihre Schwester, noch das Motorrad, mit dem sie unterwegs gewesen war.
Nun war sie wieder Zuhause. Es hatte sich durch Zufall ergeben, dass an der Uni einige Termine und Vorlesungen ausgefallen waren, deswegen hatte sie die nächsten paar Tage frei. Es waren jetzt über zwei Tage vergangen, seit sie Hitomi das letzte Mal gesehen hatte. Noch etwas ganz anderes beunruhigte sie: Toshi schien ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt. Seine Kollegen hatten sie gefragt, ob sie wüsste, wo der Detective sei. Denn er sei nicht wie sonst immer zum Dienst erschienen, und als sie in seiner Wohnung nachgesehen hätten, hätten sie dort auch niemanden vorgefunden. Auch für ihn war es äußerst ungewöhnlich vom Erdboden zu verschwinden. Sie hatte den Polizisten nicht weiterhelfen können, aber was sie gesagt hatten, hatte ihr eigenes ungutes Gefühl bei der Sache nur noch verstärkt.
Es hätte auch sein können, dass sie mit Toshi weg war, aber da kannte sie ihre jüngere Schwester zu gut. Sie konnte sie in fast jeder Situation einschätzen, und sie wusste, das würde sie nicht machen, egal wie wütend sie auf ihre Schwestern auch sein mochte.

Heute vormittag war Chang hier gewesen und hatte nach ihr gefragt. Daran hatte Nami gar nicht gedacht gehabt. Hitomi hatte an dem Abend eigentlich Training bei Chang gehabt. Er hatte ihr erzählt, dass sie an dem Abend tatsächlich noch bei ihm gewesen war und ihm erzählt hatte, was sie tun wollte. Auch Chang war ziemlich beunruhigt gewesen, und auf seine Einschätzung konnte man sich verlassen. Irgend etwas stimmte da nicht, und das war inzwischen mehr als nur eine vage Ahnung.

Nein, sie mussten beide weg von hier, und zwar so schnell wie möglich! Ohne noch weiter nachzudenken, schnappte Hitomi sich die Taschenlampe und die Waffe des niedergeschlagenen Wächters und sprang zu Toshi hin. Er hatte keine Handschellen an den Händen. Sie fürchtete, wenn sie jetzt länger darüber nachdachte, was sie tat, würde es zu spät sein, um sie hier beide noch lebend raus zu bekommen. Also nahm sie seinen Arm und zog den völlig überraschten Toshi mit sich zur Tür. „Kommen Sie, wenn Sie leben wollen, vertrauen Sie mir!“
Schon waren beide auf dem schwach erleuchten Gang. Sie sprangen über die drei Körper der Männer, die Hitomi gerade eben niedergeschlagen hatte. Noch hatte niemand der anderen Männer bemerkt, dass etwas schief gelaufen war, und diese Situation mussten sie ausnutzen. Denn wenn hier erst einmal alles in Aufruhr war, hatten sie nicht sehr große Chancen lebend hier wieder rauszukommen.

Toshi lief hinter dieser Katze, die ihn gerade auf spektakuläre Weise aus seiner Gefangenschaft befreit hatte. Eine Art und Weise, an die man sich gewöhnte, wenn man als Polizist für den Fall Katzenauge zuständig war. Er kannte diese Frau, die da vor ihm lief, mit der Taschenlampe und der Waffe in den Händen, die sie vermutlich einem der Wächter abgenommen hatte. Das hieß, eigentlich kannte er sie auch wieder nicht, jedenfalls nicht wirklich. Er wusste nicht, wer sie wirklich war, wer der Mensch hinter dem Dieb war. Manchmal schon hatte er sich im Stillen gefragt, ob er überhaupt ein Recht hatte, danach zu fragen.
Doch diese Fragen waren jetzt alle irrelevant, er hatte sehr wohl verstanden, was sie ihm gesagt hatte. Obwohl er nicht genau wusste, warum er das tat, sprang er im Laufen auf sie zu, als er eine offene Zellentür sah. Halb flogen sie, halb zog er sie in die Zelle hinein.

Sie rollte sich ab und ließ dabei die Taschenlampe fallen, konnte die Waffe aber festhalten. Sie rollte sich zur Seite und sprang schon wieder auf. Aber schon hatte er die Taschenlampe in der Hand und stand langsam auf. Er hatte die Tür im Rücken, sie stand mit dem Rücken an der Wand. Es war ganz klar, wenn sie hier raus wollte, musste sie erst an ihm vorbei. In der Zelle war es finster, bis auf den schmalen Lichtschein, der durch die Tür fiel. Aber er reichte nicht bis zu ihr. Mit der Waffe in der Hand zog sie sich immer weiter zur Wand zurück, bis sie direkt an der Mauer stand und nicht mehr weiter konnte.

Hitomi sah ihren Freund undeutlich im Lichtschein stehen, mit der Taschenlampe in der Hand. Sie selbst hatte es geschafft die Waffe in der Hand zu behalten.
Das hätte sie ahnen müssen, er handelte jetzt doch als Polizist und nicht als ihr Freund! Er hatte die Pflicht, ihre Identität aufzudecken und sie zu verhaften, ob er das nun wollte oder nicht. Wenn er jetzt das Gefecht mit ihr gewann...
Er trat einen Schritt vor und ließ sie nicht aus den Augen, obwohl er sie sicher nur als Schatten sehen konnte. Er machte die Taschenlampe an, hielt den Schein aber noch auf dem Zellenfußboden. Nein, das durfte er nicht tun!
„Vielleicht sind wir ja in Gefahr, aber das ist mir im Moment egal!...Ich werde Sie erst sehen, ich werde ihre Sache erst zuende bringen!“, hörte sie ihn sagen.
Nein! Sie hielt die Pistole auf ihn gerichtet, obwohl sie nicht gedacht hatte, dass sie das jemals tun könnte. Sie hatte niemals gedacht, dass sie ihn tatsächlich einmal mit einer Waffe bedrohen könnte, selbst wenn er im Begriff war ihre wahre Identität aufzudecken. Doch jetzt tat sie es.
„Machen Sie die Taschenlampe aus, Detective!...Wir haben jetzt keine Zeit für sowas! Wenn die uns wieder einfangen, werden sie uns töten!“
Er trat noch einen Schritt vor. „Aber zuerst werde ich wissen, wer Sie wirklich sind!...Sie werden nicht weitermachen!“
„Hören Sie auf damit,...ich werde Sie lieber erschießen, das schwöre ich Ihnen!“ Sie entsicherte die
Waffe. „Na los, dann tun Sie es doch! Erschießen Sie mich! Aber vorher werde ich wissen, wer Sie sind, Katze!“

Sie spielte jetzt ein gefährliches Spiel. Sie hielt die Pistole mit beiden Händen fest umklammert, während sie immer noch auf seine Brust zielte. Er ließ nun den Strahl der Taschenlampe immer weiter an ihr hochgleiten und beleuchtete langsam, aber sicher ihren gesamten Körper. Sehr viel Zeit hatte sie nicht mehr. Sie musste eine Entscheidung treffen. Aber sie hatte Angst davor. Unheimliche Angst.
Sie warnte ihn noch einmal: „Tun Sie das nicht! Ich werde schießen! Verstehen Sie nicht, die Zeit läuft uns davon!“
„Das ist mir egal!“ Er leuchtete immer weiter an ihr hoch.
Nein, Sie konnte nicht!...Niemals würde Sie schießen können. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, auch die Hände nicht, mit denen sie die Pistole hielt. Doch jetzt, fast wie in Trance, begann die Waffe zu zittern. Sie bemerkte erst nicht, dass es nicht die Pistole selbst war, sondern ihre Hände. Doch dann war es sowieso zu spät, denn dann erreichte der Lampenschein ihr Gesicht und ihre Augen...

Sie riß die Augen auf, obwohl der Lichtschein sie blendete. Alles in ihrem Kopf wirbelte umher, alles war ein einziges Chaos. Nein, das durfte nicht so passiert sein! Es durfte noch nicht das Ende sein!
Keinen Laut konnte sie hervorbringen, sie stand da wie versteinert, und auch ihre Gedanken schienen versteinert, nur ein Gedanke war da: Aus! Aus und vorbei!
Sie hörte seine Stimme: „Hi...Hitomi! Nein, nicht du...!“ Sie ließ langsam die Pistole sinken, immer weiter ließ sie sie sinken.
„Toshi!...Nein!“ Es war fast nur noch ein Flüstern, aber er hörte es deutlich.

Plötzlich sah sie einen Schatten hinter Toshi. „Runter!“
Dieses einzige gerufene Wort von ihr genügte, und er warf sich zu Boden, fast augenblicklich darauf reagierend. Eine Zehntelsekunde später durchschnitt ein scharfer Knall den Raum, der Knall einer Waffe. Er hörte ein scharfes Zischen und ein schmerzvolles Aufstöhnen hinter sich, dann hörte er einen dumpfen Laut, als ein Körper zu Boden sank. Noch immer auf dem Boden liegend drehte er sich um und sah einen Wächter daliegen. Es war ein sauberer Schuß durch die Schulter gewesen. Er verlor zwar Blut, aber er würde es überleben.
Sie hatte ihm gerade schon wieder das Leben gerettet. Langsam, immer noch die Taschenlampe in der Hand, richtete er sich wieder auf. Er hatte keine Ahnung, wie er es noch zustande brachte, sie in der Hand zu behalten. Er sah ihren Schatten dastehen, die Waffe immer noch angelegt.
Dann ließ sie sie wieder sinken, immer weiter, bis sie sie schließlich fallen ließ. Das schwere Metall schlug mit einem dumpfen Klirren auf den steinernen Fußboden auf und hallte noch lauter in seinem Ohr als der Schuß gerade eben. Fast lautlos sank sie an der Wand zu Boden. Dann war Stille.

Er hatte die Taschenlampe auch fallenlassen. Die wenigen Schritte zu ihr kamen ihm unendlich lang vor, so als müsse er sich seinen Weg dorthin kämpfen. Dann kniete er neben ihr.
Erst langsam kam ihr zu Bewußtsein, was gerade eben geschehen war. Sekunden später bemerkte sie, dass sie jemand an den Schultern festhielt, sie konnte nur seinen Atem hören.
„Nein,...Hitomi! Wie kannst du...wie kannst du Katzenauge sein!? Das ist einfach unmöglich, Hitomi!“ Die Stimme ihres Freundes klang Hitomi so vertraut, aber gleichzeitig auch wieder fremd.
Mit eiskalter Gewißheit begriff sie, dass es nun aus war. Sie würde ihn verlieren, sie würde ihre Schwestern verlieren, sie würde ihren Vater verlieren. Aber was spielte das denn noch für eine Rolle? Sie beide würden doch sowieso bald tot sein. Sie würden von Kubari kaltblütig umgebracht werden, der spielte nicht.
Nur mit Mühe konnte sie hervorbringen: „Es...es tut mir leid.“ Sie schaute zu Boden, während sie das sagte. Jetzt war wirklich alles zu spät.
Er faßte sie jetzt an den Handgelenken und zog sie hoch, so dass sie ihn ansehen musste. Sie sah seine Augen im Dämmerlicht, und ein Schreck durchfuhr sie. So einen Ausdruck hatte sie noch niemals gesehen. Eine Mischung aus Mutlosigkeit, Hoffnung, Angst, Vertrauen und Schmerz, die alle miteinander zu kämpfen schienen, aber keines konnte die Oberhand gewinnen.
Er sagte gar nichts, überhaupt nichts, nur seine Lippen zitterten, als wollte er etwas sagen. Aber es schien so, als hätte er es verlernt oder wusste nicht, was er sagen sollte oder wie.
„Toshi,...verhafte mich endlich! Es ist zu spät, für uns alle ist es zu spät!“
Jetzt fuhr er auf: „Nein, nein,...das ist nicht wahr, Hitomi!...Es ist nicht zu spät!“
„...Das kann es nicht sein...“, fügte er noch leise hinzu. So wollte etwas erwidern, da hörten sie beide harte Schritte auf dem Steinfußboden, und beide fuhren wie von einem Reflex gezogen hoch.

Es war zu spät, Hitomi hielt noch den Arm als Abwehr entgegen, aber schon traf sie der gewaltige Schlag des Mannes. Sie taumelte gegen die Wand zurück und riß Toshi dabei fast mit um. Sie spürte, wie er von einem anderen Mann von ihr weggezerrt wurde.
Blut lief aus ihrem rechten Mundwinkel, und sie war gleich vom ersten Schlag zu benommen um dem zweiten Schlag ernsthafte Gegenwehr entgegensetzen zu können. Das war es aber nicht alleine, sie wollte nicht mehr kämpfen. Ihr ganzer Mut, ihre ganze Kraft, Stärke und Schnelligkeit schienen weg zu sein, als sie erkannte, dass gerade eben alles zuende gegangen war.

Sie wurde mit brutaler Gewalt an eine Wand geschmettert, so dass sie Mühe hatte auf den Beinen zu bleiben. Erst sah sie Sternchen vor den Augen, dann konnte sie den Mann vor ihr sehen. Sie erkannte Kubari. Er schlug sie noch einmal, so dass ihr das Blut aus der Nase lief, doch das war ihr jetzt egal. Ihr war jetzt fast alles egal geworden. Sollten sie sie doch erschießen.
„Hören Sie auf damit, Sie bringen sie ja um!“ Toshi’s Stimme verriet seine Hilflosigkeit und seine Angst um sie. Er versuchte sich von dem Mann loszureißen, der ihn eben mit Handschellen fesseln wollte. Dieses Rufen brachte ihm nur einen heftigen Fauststoß in die Rippen ein. Aber der Mann hörte jetzt auf Hitomi zu schlagen, er stellte sich statt dessen vor sie hin:. „Ich habe Sie unterschätzt, Katzenauge! Ich hatte natürlich damit gerechnet, dass Sie alles versuchen würden, um Ihren Freund zu retten, aber das hier war schon eine wahre Meisterleistung.“
„Freut mich, dass es Ihnen gefällt!“, antwortete Hitomi sarkastisch und ignorierte das Blut, das ihr über das Kinn lief.
Kubari’s Stimme hörte man die Genugtuung an. „Den ersten Teil meiner Rache habe ich bereits erhalten, auf die eine oder andere Weise, aber das ist ja egal. Der zweite Teil wird noch viel schöner werden, denn ich werde das Vergnügen haben, Sie beide sterben zu sehen.“

Er wandte sich Toshi zu. „Nun, Detective, was ist das für ein Gefühl, wenn man bemerkt, dass einen die eigene Freundin nach Strich und Faden belogen hat? Wissen Sie, ich frage mich schon die ganze Zeit, wie dumm Sie eigentlich sind. Haben Sie es nicht früher bemerkt, oder wollten Sie es nicht bemerken? Haben Sie nicht bemerkt, dass sie Sie nur benutzt hat? Sie hat Sie nur als Mittel zum Zweck gebraucht, vermutlich hat sie Sie niemals wirklich geliebt.“
Das reichte! Das war zuviel! „Nein!...Das ist nicht wahr!“ Ihre Stimme war fast nur noch ein Knurren.
Mit einem einzigen Sprung stand sie neben ihm, und bevor es jemand verhindern konnte, bevor überhaupt jemand reagieren konnte, schlug sie mit einer Kombination aus zwei Faustschlägen zu. Er taumelte zurück, und sie setzte noch einmal nach, so dass er zu Boden stürzte. Dem neben ihm stehenden Wächter schmetterte sie mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand und streckte ihn mit dem nächsten Tritt zu Boden.
Sie konnte sich jedoch nicht gegen alle wehren. Ein Mann stürmte von hinten heran und schlug ihr mit seinem Schlagstock ins Genick, so dass sie mit einem schmerzlichen Stöhnen zu Boden sank.
Toshi kniete neben ihr. Er wollte ihr helfen, doch er konnte nicht. Ihm selbst waren die Hände mit Handschellen gefesselt. Er konnte ihr nicht helfen.
Hitomi hob den Kopf und sah ihn mit mühsam offengehaltenen Augen an. Ihr Blick war nicht mehr ganz klar, aber sie streckte ihre Hand aus und berührte seinen Arm. „Das ist nicht wahr...Ich...ich liebe dich...und ich habe dich immer geliebt.“
Es war nur noch ein schwaches Flüstern. Dann sank sie schließlich vollständig bewußtlos um. Jetzt lag sie da auf dem Boden, eine Hand noch zu ihm hingestreckt. Toshi sah in diesen Momenten nur sie, nichts anderes. Ihre Worte klangen in seinem Ohr nach, alle anderen Geräusche ließ er jetzt nicht zu sich durchdringen.
Schließlich zerrte jemand ihn vom Boden weg. Er wollte sich dagegen wehren, und der Wächter wollte ihn wieder schlagen. Diesmal hob der Mann, den Hitomi auf so spektakuläre Weise niedergeschlagen hatte, die Hand. Er wischte sich Blut, das ihm aus der Nase lief, vom Gesicht.
Ein weiterer Mann nahm die bewußtlose Hitomi auf die Schulter und ging voraus. Der andere führte Toshi in Handschellen hinterher. Er wurde durch einige Gänge gebracht, die alle nur schwach erleuchtet waren.

Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte. Ihm und Hitomi hatte man die Armbanduhren genommen, und hier unten schien man jedes Gefühl für Zeit zu verlieren. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, die er jetzt schon auf Hitomi blickte, die immer noch bewußtlos auf einer Pritsche lag, und er saß daneben.
Er hatte ihr sanft das Blut vom Gesicht gewischt, Strähnen ihres langen, schwarzen Haares hingen ihr in der Stirn. Ihre Gesichtszüge wirkten seltsam entspannt, beinah so, als würde sie schlafen. Er wünschte sich auch nichts seliger, als dass auch er jetzt nur schlief und träumte. Dass das alles hier nur ein schrecklicher Alptraum war. Das konnte nicht sein! Sie war doch seine Verlobte.

Es musste doch eine andere Erklärung dafür geben, was hier jetzt geschah. Wieso sie in diesem Anzug vor ihm lag. Aber je länger er sie ansah, desto sicherer wusste er, dass es die grausame Realität war. Er betrachtete noch einmal den dunkelblauen Anzug, den sie trug. Es gab keinen Zweifel, das war der Anzug der Katzen, das war eine der Katzen, denen er so lange hinterhergejagt war. Hitomi war eine der Katzen. Verdammt, er wünschte sich so sehr, dass das alles nicht wirklich geschehen war.
Jetzt konnte er seine Augen nicht mehr von dem abwenden, was doch eigentlich ganz unmöglich war. Sie war es gewesen, die mit ihm gekämpft hatte auf diesem Dach in Yokohama vor zwei Jahren. Sie war es wahrscheinlich auch gewesen, die er vor anderthalb Jahren im Park des Museums von Komatsu gejagt und dennoch nicht gefangen hatte.
Sie war es auch gewesen, die er vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Er hatte sie dabei endlich in die Finger bekommen, aber er hatte sie wieder laufen lassen ohne zu wissen, wer sie war. Er wusste bis heute nicht genau, warum er das getan hatte. Niemand außer ihm und den Katzen selbst wusste etwas von diesem Vorfall, und das war auch gut so. Denn wenn seine Vorgesetzten das jemals erfahren würden, würde er mit ziemlicher Sicherheit selbst verhaftet und verurteilt werden.
Jetzt lag diese Frau vor ihm, Hitomi lag vor ihm. Sie hatte ihm vorhin zum wer weiß wie vielten Mal das Leben gerettet. Oft genug hatte sie ihres riskiert, um seines zu retten. Er konnte sich ein Leben ohne sie überhaupt nicht vorstellen, er liebte sie viel zu sehr.

Während er sie so ansah, suchte er in ihrem Gesicht immer wieder nach Antworten. Antworten, was geschehen war. Antworten, warum sie das getan hatte. Er wusste, egal was sie getan haben mochte, er liebte sie, und daran änderten nicht einmal die Katzen etwas. Er hatte die Wahrheit in ihren Augen gesehen, als sie den Kopf gehoben hatte, bevor sie bewußtlos zusammengebrochen war. Er hatte gespürt, dass sie die Wahrheit sagte, dass sie ihn liebte und nicht benutzt hatte, wie dieser Mann behauptete.
Was war bloß furchtbares passiert, das sie und ihre Schwestern dazu getrieben hatte, das zu tun, was sie getan hatten? Er stellte sich diese Frage immer und immer wieder, aber er fand keine Antwort. Nein, ganz stimmte das nicht. Er hatte schon eine Ahnung, aber er konnte nicht richtig daran glauben, das war einfach zu unmöglich.
Er erschrak fast ein wenig, als Hitomi aufwachte. Sie öffnete nur langsam und scheinbar widerwillig sich der Realität zu stellen die Augen.

Erst langsam konnte sie wieder klar denken, und sie versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert sein mochte. Wieder tanzten ihr Sternchen vor den Augen, und sie sah alles verschwommen. Endlich wurde ihr Blick klarer, und sie hörte jetzt auch eine Stimme, die sanft, beruhigend und irgendwie vertraut klang. In dem Moment, als sie sich an alles wieder erinnern konnte, kam die Stimme ganz klar an ihr Ohr.
„Hitomi, bitte wach auf! Du musst aufwachen!“
Sie schrak hoch. Für einen unendlichen Augenblick starrte sie ihn an und schien erst noch nicht richtig begriffen zu haben, wer da wirklich vor ihr stand. Sie brachte keinen Laut über ihre Lippen, sie stand einfach nur aufrecht da.
Ihre Beine schienen am Boden festgezaubert zu sein, ihre Gedanken wirbelten durch ihr Hirn, aber nur ein Gedanke beherrschte jetzt wirklich ihr gesamtes Denken und Fühlen: Aus! Aus und vorbei! Für immer. Jetzt war alles aus, alles war zu spät. Alle anderen Sachen sah sie jetzt nicht, sie sah nur Toshi vor sich stehen. Dann begann sich wieder alles um sie zu drehen, nur er blieb als einzige Konstante im Raum stehen. Sie sank auf die Pritsche und war wieder kurz vor der Bewußtlosigkeit, doch Toshi ließ sie nicht. Er faßte sanft ihre Schultern und hielt sie aufrecht.
„Nein, Hitomi,...du wirst mir jetzt nicht noch einmal ohnmächtig!“
Sie sah ihn müde an und hielt mit Mühe die Augen offen, ihre Stimme war leise und mutlos. „Was...was hat das denn jetzt noch für einen Sinn? Es ist vorbei, das weißt du doch genauso gut wie ich.“
Er strich ihr, wie um ihr das Gegenteil zu beweisen, leicht über die Wange. „Bitte, so darfst du nicht reden!...Du musst aufstehen!“
Er faßte sie am Arm, und sie stand langsam auf. Dann lehnte sie sich an die kalte Wand aus roh behauenen Steinblöcken. Doch jetzt kam auch die Erinnerung, die Angst und das Entsetzen wieder. Es hätte niemals passieren dürfen, aber es war passiert. Sie und ihre Schwestern hatten genau gewußt, dass es eines Tages passieren würde.
Toshi trat jetzt zu ihr heran, sie wagte nicht seinem Blick zu begegnen. „Es...es tut mir leid, Toshi.“ Ihre Stimme war leise, und sie ließ die Schultern hängen. „Du musst mich verhaften!...Es geht nicht anders,...es ist zu spät!“
„Nein,...nein, das kann ich nicht, und das weißt du! Warum hast du nicht auf mich geschossen,...es war die einzig logische Möglichkeit.“
„Ist Liebe denn logisch?“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“
Plötzlich sah sie ihn an. „Verstehst du denn nicht?!...Ich bin eine Diebin, und du bist Polizist!...Ich wusste, dass es eines Tages so kommen würde. Meine Schwestern haben mich gewarnt, aber ich hab nicht auf sie hören wollen.“ Ihre Stimme begann zu zittern, als sie leise fortfuhr: „Unzählige Diebstähle und Einbrüche gehen allein auf unser Konto,...daran gibt es nichts zu ändern. Ich...ich habe das nie gewollt, aber ich habe dich belogen,...und das die ganzen Jahre lang, die wir uns jetzt schon kennen. Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen, aber ich kann es nicht...“
Tränen liefen über ihr Gesicht, und sie wollte sich abwenden. Doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie sanft zu sich herum. Sie sah ihn an, und er nahm sie in den Arm. Er flüsterte: „Verdammt, Hitomi, ich liebe dich, und nicht einmal Katzenauge wird etwas daran ändern können! Es ist mir egal, was du getan hast. Ich will dich nur nicht verlieren.“
„Dann sieh mich doch an. Die Diebstähle, die Karten, die Anzüge,...die Lügen. Es ist vorbei!“
Aber jetzt fuhr er auf: „Hör auf damit! Bitte hör auf damit, dir alle Hoffnungen zu nehmen. Es ist nicht vorbei, verstehst du?!...Ich würde dich niemals aufgeben, und ich würde auch uns niemals aufgeben, ganz gleich, was in den letzten Jahren und jetzt passiert ist. Und das darfst du auch nicht tun!“
Sie sah immer noch zu Boden. „Ich...ich hätte nicht geschossen. Ich würde niemals auf dich schießen können, niemals. Er hat gelogen, ich habe dich immer geliebt, und ich liebe dich noch, das musst du mir glauben. Auch wenn ich dir all diese Dinge verschweigen musste.“
„Ja, ich weiß.“, antwortete er nur.
„Aber das ist jetzt sowieso alles egal. Jetzt hat doch alles keinen Sinn mehr.“ Hitomi’s Stimme klang noch mutloser. „Es ist zu spät,...die Katzen sind geschlagen.“ Sie stieß sich von der kalten Wand ab und setzte sich auf die Pritsche, nach ein paar Sekunden setzte Toshi sich neben sie. Sie wagte wieder nicht, ihn anzusehen.
Du hast mich geschlagen, Toshi!...Schon oft genug warst du nahe dran zu sehen, wer die Katzen wirklich sind. Aber diesmal hast du es geschafft...Jetzt ist es zuende.“
„Das ist nicht die Katze, die ich kenne!...Die Katze, die ich kenne, wusste sich immer noch zu helfen, auch wenn es noch so schlecht aussah. Zumindest hat sie es versucht und nicht aufgegeben. Warum gibt sie jetzt auf?“
Hitomi lächelte leicht und meinte: „Du bist der Grund. Du warst oft dichter an der Wahrheit dran als du dachtest, aber irgendwie hat uns der Zufall immer noch geholfen.“
Ein Ausdruck tiefer Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit trat in ihr Gesicht, und sie wich seinem Blick aus. „Bitte, so darfst du nicht reden!...Du darfst dich nicht selbst aufgeben, Hitomi!“
„Egal, ob wir hier lebend herauskommen oder nicht, es ist doch vorbei.“
„Nein, das ist es nicht. Wir werden einen Weg finden.“ Sie sah ihn an, wollte etwas sagen, aber er legte ihr sanft einen Finger auf den Mund und meinte leise: „Bitte, vertrau mir, Katzenauge!“ Er sah kurz zu Boden, dann sah er sie wieder an und fuhr mit einem ironischen Lächeln um die Mundwinkel fort: „Ich hätte niemals gedacht, dass ich dich wirklich einmal so nennen würde. Nur in manchen Alpträumen habe ich tatsächlich..., und plötzlich ist das alles real.“
Sie stand auf. „Ja, du hast mir vertraut,...und ich habe das Vertrauen mißbraucht.“ Sie war einige Schritte in den Raum hineingegangen und wandte sich jetzt zu ihm um. Sie hatte selber keine Ahnung, wie sie die Kraft aufbrachte, ihm in die Augen zu sehen, als sie ihn zu sich blicken sah. „Ich weiß nicht, ob du die ganze Sache verstehen wirst,...ob du sie verstehen willst.“
„Versuche es.“
Hitomi schlug den Blick nieder, trat wieder zu ihm heran und setzte sich neben ihn.
„Die ganze Sache ist furchtbar kompliziert, aber im Grunde ist sie sehr einfach. Sie ist nur komplizierter geworden, mit jedem Bild, mit jedem Kunstwerk, das wir gestohlen haben. Mit jedem Teil des Puzzles, das wir wieder zusammensetzen konnten. Meine Schwestern haben mich gewarnt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Erst langsam habe ich damals gemerkt, dass ich Gefühle für dich entwickelt hatte. Mir ist klar geworden, dass ich das eigentlich nicht durfte. Ich war eine Diebin, und du warst Polizist. Doch da war es schon viel zu spät für ein Zurück, ich hatte mich schon längst in dich verliebt. Ich wollte auch nicht mehr zurück, egal wie gefährlich es für mich sein würde. Es hat oft sehr weh getan, dir niemals die wirkliche Wahrheit sagen zu können, dich immer wieder belügen zu müssen, immer und immer wieder. Ich habe gewußt, dass es einmal passieren würde,...irgendwann einmal würdest du es herausfinden. Ich habe mich vor dem Moment gefürchtet, in dem du eine Erklärung von mir verlangst. Aber jetzt ist es ja sowieso zu spät.“
Sie machte eine kurze Pause. „Weißt du noch, was du damals gesagt hast?...Die Katzen wären die Töchter von Heintz, die Töchter von dem Maler, dessen Kunstwerke sie stehlen.“ Nach einigen Sekunden Stille meinte sie: „Ich sollte dir das jetzt sagen, so einfach, simpel und ehrlich, wie es ist. Es stimmt, die Katzen sind die Töchter dieses Malers. Wir sind die Töchter von Michael Heintz.“

Sie hörte ihn scharf einatmen, seine Überraschung, sein Schreck und alles andere hörbar in diesem einen Atemzug, sichtbar in seinen Augen.
Er sah Hitomi an, mit einer Mischung aus Überraschung, Verblüffung, Schreck und seinem typischen „ich hatte es doch geahnt“- Blick. Erst konnte er überhaupt nichts sagen, aber das brauchte er auch nicht. Sein Blick sagte Hitomi viel mehr, als er ihr mit Worten hätte sagen können.
„Dieser Mann, der dir damals gesagt hat, dass deine Spur falsch wäre, ist unser Freund und Informant. Wir mussten dich von der Spur abbringen, sonst hättest du das Geheimnis der Katzen schön viel früher aufgedeckt. Er ist unser Vater, Toshi. Es tut mir leid,...dass du erst jetzt davon erfährst.“
Für einige Sekunden schwieg er, dann meinte er kopfschüttelnd: „Es stimmt also wirklich?!...Dann seid ihr also tatsächlich seine Töchter?! Es ist also tatsächlich wahr.“
Hitomi nickte und lachte auf einmal leise, als sie hinzufügte: „Es ist schon irgendwie komisch, denn niemand weiß etwas davon, dass er unser Vater ist. Na ja, fast niemand, ein paar Leute wissen es schon. Und du ja jetzt auch.“
Das musste er erst verarbeiten. Was Hitomi ihm da gerade eben gesagt hatte, war eigentlich unmöglich, aber eigentlich auch die logische - die einzige - Erklärung. Er hatte jetzt seit drei Jahren nach Antworten gesucht, was es mit den Katzen wirklich auf sich hatte. Schon bevor er auch dienstlich mit dem Fall konfrontiert wurde, hatte er sich für diese Diebesbande interessiert, aber sein wirkliches Interesse war erst durch seinen Beruf geweckt worden.

Er hatte die Antwort gesucht, die Licht in diese ganze verworrene Angelegenheit um die Katzen bringen konnte. Jetzt hatte er gefunden, was seine Theorien bestätigte. Die Katzen waren die Töchter des Malers Heintz, dessen Bilder sie stahlen. Wenn da nicht noch etwas ganz wichtiges gewesen wäre: die Frau, die er über alle Maßen liebte, war selbst eine dieser Katzen.
Jetzt sah er diese Frau, die neben ihm saß, lange an. „Dann stimmt es also? Ihr versucht durch die Kunstwerke eures Vaters eine Spur von ihm zu bekommen, weil er verschwunden ist?“
Hitomi nickte traurig. „Ja,...das stimmt. Unser Vater versteckt sich vor diesen Leuten, die ihn verfolgen. Seit über sechs Jahren ist er jetzt schon verschwunden. Seitdem ist so viel passiert,...wir kommen der Wahrheit zwar immer näher, aber wir haben keine Ahnung, ob wir ihn jemals lebend wiederfinden werden.“
Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie leise fort: „Allein durch seine Kunstwerke konnten wir noch hoffen, ihn lebend wiederzufinden. Es ist damals alles so furchtbar schnell gegangen,...als wir die Sache mit den Katzen angefangen hatten, konnten wir nicht mehr zurück. Damals war es schon viel zu spät, wir waren in der Sache drin.“
„Aber war es das wert? Mal ganz davon abgesehen, dass ihr die Gesetze gebrochen habt,...ihr hättet getötet werden können, oder wir hätten euch doch irgendwann geschnappt. Ihr wißt ja noch nicht einmal, ob euer Vater noch lebt.“
„Ja,...ich weiß. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst,...aber wenn wir nicht irgend etwas getan hätten, hätten wir nie wieder hoffen können, ihn noch lebend wiederzusehen. Hätten wir das mit legalen Mitteln getan, wäre unser Vater sicher längst tot und wir auch. Du kennst diese Leute nicht, die sind zu allem fähig.“
„Welche Leute? Vor welchen Leuten versteckt er sich?“
„Unser Vater ist in Bern gewesen über den Sommer 1981. Als uns ein alter Freund von ihm berichtet hat, dass er...spurlos verschwunden sei, sind wir sofort auch nach Bern geflogen. Alles, was wir dort gefunden haben, war ein verwüstetes Atelier,...aber er war verschwunden, genau wie seine Sammlung auch.“
Jetzt fuhr sie auf: „Du hast ja keine Ahnung, was uns unser Vater bedeutet. Ich habe ihn immer geliebt, und meine Schwestern ganz genauso. Er war der wunderbarste Vater, den man sich nur vorstellen kann! Plötzlich verschwindet er, löst sich in Luft auf, und wir haben nur schlimme Vermutungen, was mit ihm passiert sein könnte!...Was die ihm angetan haben könnten.“ Tränen traten in ihre Augen, leise fuhr sie fort: „Ich weiß,...das ist alles keine Entschuldigung für das, was wir getan haben. Es war von Anfang an falsch,...aber es war die einzige Möglichkeit, die uns damals noch geblieben ist. Als wir uns dann entschlossen hatten, konnten wir nicht mehr zurück. Ich kann schon gar nicht mehr mitzählen, wie oft wir jetzt schon das Gesetz gebrochen haben. Wie oft ich dich angelogen habe...!“
„Ich bin blind gewesen, dass ich die Wahrheit nicht gesehen habe. Vielleicht wollte ich sie auch nicht sehen, weil...weil das alles viel zu unmöglich war, um wirklich wahr zu sein. Weil ich gefürchtet habe, dass ich dich dann für immer verliere.“
Eine kurze Stille trat ein, danach meinte er: „Wenn ich nur geahnt hätte...! Wenn ich nur früher davon erfahren hätte. Ich...ich hätte es verstanden, Hitomi!“
Das erste Mal seit einigen Minuten sah sie ihn wieder an. Er sah eine Mischung aus Hoffnung, Traurigkeit und Liebe in ihren Augen. „Ja,...vielleicht hättest du das. Aber du hättest uns alle verhaften müssen,...mich, Nami, Love und Chang und Herrn Nagaishi auch. Das ist dein Beruf, du musst jeden Kriminellen verhaften. Du hättest es tun müssen, vollkommen egal, was du für mich empfinden magst. Das wollte keiner von uns,...am wenigsten ich.“
Er sah sie nachdenklich an. „Ja, vielleicht ist es ganz gut so, dass ich erst jetzt davon weiß. Aber ich kann euch nicht verhaften, jetzt nicht mehr. Es ist mir egal, ob ich damit gegen meinen Eid verstoße oder nicht. Sollen sie mich doch suspendieren, sollen sie mir doch meine Marke wegnehmen, aber ich lasse mir von denen nicht die Frau wegnehmen, die ich liebe! Verstehst du, ihr seid nicht wirklich kriminell! Ich könnte es niemals ertragen, dich hinter Gittern zu sehen, weil...weil ich dich ganz einfach liebe. Da spielt es keine Rolle, ob ich Polizist bin oder nicht!“
„Du darfst deinen Beruf nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen!“
Er lächelte leicht. „Aber das tue ich nicht. Selbst wenn, der Einsatz lohnt sich allemal.“
Er sah sie wieder lange an, und er sah eine Frau, hin - und hergerissen zwischen Hoffnung, Schmerz, Liebe, Angst und Überraschung. Er sah eine Stärke in ihr, die er in dieser Art noch niemals bei ihr gesehen hatte. Selbst jetzt, wo alles auf sie beide einzustürzen schien, konnte er diese Stärke noch sehen. Den Mut und die Stimme in ihr, die sie nicht aufgeben ließ, auch in den schwierigsten Situationen nicht. Sanft faßte er ihr Kinn in seine warme Hand und hob ihren Kopf. „Was immer auch geschehen ist, und was immer auch geschehen mag, ich werde da sein. Kein Mensch wird mich davon abhalten können dich zu lieben.“
In ihren Augen sah er pure Überraschung. Sie hatte ihn belogen, und das wieder und wieder, schon so lange sie sich kannten. Trotzdem konnte er sie noch lieben, trotzdem stand er noch da und hielt zu ihr.
Sie konnte das nicht begreifen. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er legte ihr einfach sanft einen Finger auf die Lippen.
„Shhh,...hör auf, dir darüber Sorgen zu machen. Wir werden das hinkriegen. Aber jetzt sollten wir uns erst einmal Gedanken darüber machen, wie wir heil hier wieder rauskommen!“
Ein leichtes Lächeln legte sich über ihr Gesicht, und dieses Lächeln tat ihm unendlich gut. „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“, sagte sie nur. Aber es sagte ihm alles, was er wissen musste.

Wenig später saßen sie beide an die Wand gelehnt nebeneinander, er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Er bemerkte erst jetzt richtig, wie doppelt schön sie in diesem Anzug aussah, sie drückte genau die Geschmeidigkeit und Schnelligkeit aus, die er an den Katzen immer bewundert hatte. Das war auch kein Wunder, denn er hatte hier ja gerade eines der Mitglieder von Katzenauge neben sich sitzen. Er musste sich das immer wieder von neuem klarmachen, sonst kam er vielleicht noch auf den Gedanken, das alles hier wäre nichts weiter als ein Traum. Seine Gedanken schwirrten nur um die Frau, die dicht neben ihm saß und ihren Kopf an seinen Arm gelehnt hielt. Toshi dachte daran, was da alles abgelaufen sein musste, während der letzten Jahre. Er wusste, die drei Schwestern hielten zusammen wie Pech und Schwefel, und durch Katzenauge war diese Verbindung sicher noch verstärkt worden. Sonst aber waren da nur noch wenige, denen ihre wahre Herkunft bekannt war und die sie wirklich verstanden. Über sechs Jahre war es jetzt her, hatte Hitomi gesagt. Sie hatte noch nichts davon erwähnt, aber er konnte sich wohl denken, was für einen Schock das Verschwinden ihres Vaters bei den Dreien bewirkt haben musste. Das musste bis heute eine unglaublich schwierige Zeit für sie gewesen sein, und sie konnten mit den meisten ihrer Freunde nicht einmal darüber reden. Vielleicht hatte er blind sein wollen, weil er sich vor den Folgen der Wahrheit gefürchtet hatte. Er hatte manche ungewöhnliche Gesten oder Bemerkungen von Hitomi oder ihren Schwestern zwar wohl bemerkt, hatte sich aber nicht näher damit beschäftigt oder sie zu deuten gewußt.
Er hatte sich nicht geirrt, die Katzen waren nicht kriminell, das waren sie nie gewesen. Egal, ob es richtig oder falsch gewesen sein mochte, wie sie sich damals entschieden hatten, sie waren keine Kriminellen. Er sah in Hitomi, die jetzt neben ihm saß, weder die Hitomi, die er bis jetzt gekannt hatte, noch die Katze, die ihn wieder und wieder reingelegt hatte, er sah beide, und er liebte beide.
„Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass du dich laufend in solche Gefahren begibst.“
„Ja,...das wirst du wohl! Aber ich denke, das wirst du schaffen.“
„Wir können im Moment leider nicht mehr tun als abwarten, oder hast du schon eine Idee, wie wir hier rauskommen?“
Er hatte recht, solange sie in dieser Zelle eingesperrt waren, waren sie Kubari ausgeliefert. Sie konnten nur warten. Obwohl ihr das gar nicht gefiel, zur Zeit war es ihnen beiden unmöglich, etwas von alleine zu unternehmen. Also mussten sie es hinnehmen, auch wenn ihnen das nicht gefiel.
Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mich genauso überrascht wie dich, er hat alles genau geplant.“

Nach einer kleinen Weile fragte er: „Es ist Rache, nicht wahr? Kubari will sich an euch rächen, weil ihr ihm das Bild eures Vaters genommen habt?“
Sie nickte. „Ja,...und er wird wahr machen, was er angedroht hat, wenn wir dagegen nichts unternehmen können.“
„Aber,...Katzenauge ist nicht vollständig. Wenn er sich an den Katzen rächen will, wieso hat er dann gerade dich entführt? Wieso nicht deine Schwestern auch?“
„Weil er sich nicht damit begnügen will, mich zu töten, sondern er will, dass du vorher weißt, wer ich bin,...ich meine, wer Katzenauge ist. Das ist Teil seiner Rache.“ Sie zögerte kurz, dann fuhr sie fort: „Und...außerdem war ich es damals, die das Gemälde gestohlen hat. Er hat mich gesehen, hat auf mich geschossen, aber ich bin ihm entkommen. Meine Schwestern hat er so direkt gar nicht gesehen, deshalb konzentriert sich seine Rache auch auf mich. Dich hat er entführt, weil er mich noch vor meinem Tod treffen will.“
„Ihr habt das Gemälde nicht gestohlen,...ihr habt es euch nur wiedergeholt. Aber vermutlich sieht er das ganz anders.“, meinte er leise und sah sie mit besorgter Miene an.
Wieder nickte sie. „Ja,...er ist besessen von seiner Rache, alles andere interessiert ihn nicht. Meine Schwestern können uns nicht helfen, sie wissen vermutlich nicht einmal, was mit mir und dir geschehen ist, geschweige denn wo wir sind.“ Ihre Stimme brachte nicht gerade Zuversicht zum Ausdruck.
Ihre Antwort brachte ihn auf eine andere Frage. „Wieso bist du eigentlich an dem Abend Katze gewesen? Es hat doch überhaupt keine Ankündigungen gegeben.“
Sie senkte ein wenig den Blick und antwortete nach einigen Sekunden: „Die Sache ist nicht ganz einfach. Weißt du,...es kommt ziemlich selten vor, dass wir drei uns streiten, aber an diesem Abend schon. Wegen diesem Gemälde...!“ Sie erzählte ihm von der Sache und von ihrer Freundin Reiko, am Ende fügte sie noch hinzu: „Deshalb werden die beiden auch nicht wissen, was passiert ist, weil sie ja diesmal gar nicht dabei waren. Den Sender, über den sie mich hätten orten können, habe ich auch nicht getragen. Das heißt, sie können uns jetzt nicht helfen, wir müssen hier irgendwie selber rauskommen.“
Nach einer kleinen Weile des Schweigens meinte er: „Vor einem Jahr, in den Bergen,...diese Sache mit dem Alleingang,...diejenige warst du, nicht wahr?!“
Ein Zucken um ihre Mundwinkel verriet ihm, dass er richtig lag. „Ja,...damals hast du mich gerettet. Obwohl du mich hättest verhaften müssen, hast du es nicht getan. Ich wollte dich das schon seit damals fragen, warum hast du das getan?“
Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete: „Ich weiß es nicht so genau. Ich habe mich das auch schon oft gefragt,...und es sind so viele Antworten. Vielleicht habe ich schon damals irgend etwas geahnt, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich geahnt habe. Möglicherweise habe ich geahnt, dass höhere Ziele auf dem Spiel standen, und dass ich euch auf diesem Weg nicht aufhalten durfte.“
Sanft strich sie ihm über die Wange und meinte leise: „Ich hatte keine Ahnung, dass du so denkst.“
Mit einem leichten Lächeln erwiderte er: „Na ja,...ich konnte es dir niemals sagen. Ich konnte es mir ja noch nicht einmal selbst richtig sagen.“
„Wir werden hier rauskommen! Ich weiß zwar noch nicht wie, irgendwie werden wir es schaffen. Ich werde aber deine Hilfe brauchen, Detective.“
„Ich habe dich schon über Dächer, Bäume und Gott weiß was sonst noch gejagt, da können wir beide das hier auch noch schaffen.“

Es war für Toshi so, als würde er sich noch einmal in diese Frau verlieben, obwohl er das ja eigentlich schon vor sehr langer Zeit getan hatte. Er kannte jetzt auch die Seite an ihr, die sie ihm bis heute verborgen hatte, und er liebte diese Seite ganz genauso.
Er legte wieder sanft einen Arm um ihre Schulter, und sie lehnte ihren Kopf mit geschlossenen Augen dagegen. Eine ganze Weile saßen sie beide nur so still da, es war fast so, als ob sie sich jetzt auch ohne Worte verständen.
„Du hast mir oft erzählt, was du über die Katzen denkst. Aber alles hast du mir noch nicht erzählt, oder?!“ Er lächelte. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf dich selbst?“
Sie lächelte auch und meinte: „Nein, bin ich nicht. Ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass ich das nicht zu sein brauche, nicht mal auf mich selbst. Wenn du mir praktisch von mir selbst erzählt hast, habe ich irgendwie gespürt, dass da noch etwas anderes mit reingespielt hat, was aber nichts mit Liebe oder so etwas zu tun hatte. Aber natürlich konnte ich dir das nie sagen.“
Er sah sie lange an. „Ich weiß auch nicht genau, was es war. Vielleicht habe ich ja insgeheim gewußt oder zumindest geahnt, dass du mit dieser Katze doch viel mehr zu tun hattest, als es den Anschein hatte. Vielleicht wollte ich nur nicht, dass ich näher darüber nachgedacht habe, weil...ich gefürchtet habe dich dann zu verlieren. Ich bin zwar Polizist, aber ich habe die Katzen trotzdem immer geachtet und auch respektiert. Nicht nur weil ihr so gut wart, sondern weil...ich gespürt habe, dass die Menschen hinter den Dieben etwas besonderes sein mussten. Na ja, und wie mir scheint, habe ich recht gehabt.“
Sie strich ihm leicht über die Stirn und meinte leise: „Weißt du...vielleicht kann ich dich erst jetzt richtig verstehen, genauso wie du mich. Aber eines ist mir vollständig klar: ich liebe dich,...auch wenn du uns oft eine ganze Menge Schwierigkeiten gemacht hast.“
Er lächelte. „Ich wusste gar nicht, dass ich so eine Bedrohung für euch gewesen bin.“
„Doch, das warst du. Oft hat uns nur noch der Zufall geholfen!“
„Jetzt hat der Zufall euch aber nicht geholfen,...aber vielleicht hat er es gerade dadurch getan, weil er nichts dagegen getan hat. Denn jetzt kann ich euch endlich verstehen.“

Es kam ihnen beiden so vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen. Sie fuhren beide hoch, als die schwere Stahltür geöffnet wurde und zwei Männer in den Raum traten. Sie hatten ihre Maschinenpistolen auf die beiden gerichtet, schienen aber im besonderen auf Hitomi zu achten - vermutlich, weil sie nicht wieder den Fehler begehen wollten, sie zu unterschätzen. Es waren nicht dieselben Männer, die Hitomi zusammen mit Kubari überwältigt hatte, aber sie hatten die Waffen, und denen mussten sie sich fügen. Auch wenn es ihm absolut nicht gefiel wieder die Handschellen um die Handgelenke gelegt zu bekommen - genau wie seiner Freundin auch. Sie war gelassen und scheinbar vollständig ruhig. Aber er wusste, dass sie ein Gefühl der Unruhe beschlich, und dass sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt mit ihnen vorhatten. Das machte ihr genauso Angst wie ihm, und er sah das in ihren Augen. Doch wer sie nicht so genau kannte, wie er, der bemerkte es nicht. Im Hinblick darauf, was in den letzten Jahren vorgefallen war, war es schon fast ein Witz zu sagen, er kenne sie gut. Aber was er während der letzten Minuten und Stunden über sie gelernt hatte, machte zumindest einen Teil dessen wieder wett.

Der Gang war noch immer nur schwach erleuchtet. Toshi hörte die harten Schritte der hinter ihm gehenden Wächter, und er sah den Schatten der vor ihm gehenden Hitomi. Er hätte vorher jeden für verrückt gehalten, der ihm vorher gesagt hätte, was in den letzten Stunden passiert war und was da noch alles war. Was er alles nicht gesehen hatte in den letzten drei Jahren, und was sich ihm jetzt auf einen Schlag offenbart hatte. Wenn er es jetzt aus der Nähe betrachtete, war alles so simpel und einfach, doch es war so unmöglich, dass er niemals daran zu denken gewagt hatte.
Vielleicht hatte Hitomi schon einen Plan, der sie beide hier raus bringen konnte. Wenn sie einen hatte, konnte der sie dann beide hier lebend herausbringen oder würde er sie bei dem Versuch umbringen? Sie mussten abwarten.

Es war derselbe Raum, in dem sie schon einmal gewesen war, sie waren denselben Weg dorthin gegangen. Sie hatte die ganze Zeit über versucht, sich alles möglichst genau einzuprägen, die Räume, die wenigen Menschen, die dort herumliefen - eben einfach alles.
Kubari saß wieder hinter seinem Schreibtisch und blickte in den Park hinaus. Als sie durch die Tür geführt wurden, sah er zu ihnen herüber, und einen Moment lang sah Hitomi so etwas wie pure Mordlust in seinen Augen aufblitzen. Dieser Mann meinte es ernst - ja, verdammt ernst. Sie musste sich schleunigst etwas überlegen, damit sie nicht wirklich noch von diesem Verrückten umgebracht wurden. Er würde alles daransetzen um sein Vorhaben auch auszuführen, und das mussten sie irgendwie verhindern. Sie hatte im Augenblick noch keine rechte Ahnung wie, aber wenn es soweit war, dann würde sich alles von allein ergeben, das wusste sie aus Erfahrung. Bis jetzt hatte sie sich immer felsenfest auf diesen Instinkt verlassen können, und sie konnte nur hoffen, dass es auch dieses Mal funktionieren würde.

Sie standen ihm jetzt beide gegenüber, einige Sekunden musterten sie sich nur gegenseitig.
Er lächelte mit einem unübersehbaren Genuß darin. „Nun ja, es ist nicht alles ganz planmäßig verlaufen, aber so gefällt mir das auch ganz gut. So haben Sie sich praktisch selbst in den Untergang manövriert.“ Er fuhr zu ihnen beiden gewandt fort: „Zu schade, dass ich nicht mitbekommen konnte, wie die Sache zwischen der Diebin und dem Polizisten nun abgelaufen ist, aber darum geht es mir ja auch eigentlich gar nicht. Ich werde mein Ziel erreichen,...und Sie können es noch nicht mal verhindern!“ Er lachte höhnisch und winkte den beiden Wächtern zu, die wieder beide an der Tür stehengeblieben waren.
Im Bruchteil einer Sekunde wusste Hitomi, dass der Mann nicht lange fackelte, er wollte sie jetzt umbringen. Es gab nur noch eine Chance dieser Gefahr zu entgehen. Wenn sie die jetzt nicht nutzte, dann würde es für sie beide zu spät sein.

Als die Wächter sie schon fast erreicht hatten, wusste sie, was sie tun musste, und sie zögerte nicht, das konnte sie sich nicht mehr erlauben. Urplötzlich und für alle völlig unvorbereitet katapultierte sie sich aus dem Stand hoch in die Luft, drehte sich noch im Flug und schlug dem einen Mann seine Pistole mit dem Fuß aus der Hand. Wenn die ihre Waffen nicht mehr hatten, waren sie nicht mehr halb so gefährlich und sie konnte leicht mit ihnen fertig werden.
Sie sah Toshi nur aus den Augenwinkeln. Man hatte ihn gezwungen einige Meter von ihr entfernt stehen zu bleiben. Noch ehe irgend jemand bemerkte was geschah, hatte sie dem Mann, der nun ohne Waffe war, den einen Arm auf dem Rücken verdreht und zwang ihn so in die Knie zu gehen. Er war viel zu überrascht um an ernsthafte Gegenwehr zu denken, trotzdem musste sie ihm den Arm brechen. Die Hebelwirkung tat ihr übriges, und eine Sekunde später lag er bewußtlos auf dem Boden.
Dieser Mann hatte sie jedoch zuviel Zeit gekostet. Sie wusste es in dem Moment, als sie sich umdrehen wollte. Für Sekundenbruchteile glaubte sie schon, gleich würden Pistolenkugeln ihrem Leben ein Ende setzen.
Sie fuhr herum, und der zweite Wächter hinter ihr legte schon auf sie an. Doch zum Abfeuern kam er nicht, denn Toshi sprang ihm mit einem Hechtsprung aus einigen Metern Entfernung in den Rücken und riß ihn mit sich zu Boden. Vor Schreck ließ der Angegriffene die Maschinenpistole fallen, sie schlitterte direkt vor ihre Füße.
Sie schaltete schnell und hob sie auf. Schon war ein wildes Ringen zwischen dem Polizisten und dem Wächter im Gange. Doch Toshi musste unterliegen, denn ihm waren die Hände genauso wie ihr immer noch gefesselt. Sie dachte an Kubari, aber dann hatte sie keine Zeit mehr zum Denken. Mit einem Sprung war sie bei den Kämpfenden. Sie riß den Wächter vom Boden hoch und schlug ihm - mit immer noch gefesselten Händen - den harten Eisengriff der Pistole ins Genick. Sie wusste, welche Stelle sie zu treffen hatte, und der Mann fiel ebenfalls bewußtlos um.
In der nächsten Sekunde hatte sie die Schlüssel aus seiner Jackentasche gezogen, und gleich darauf waren ihre Hände frei. Sie dachte nun zum ersten Mal wieder an Kubari. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er in eine Schublade seines Schreibtisches griff.
Sie warf Toshi die Schlüssel zu, das Umdrehen und das Greifen nach der Karte waren eine Bewegung. Sie hatten sie ihr zum Glück gelassen. Sie wussten nicht, dass sie eine Meisterin geworden war im Zielen, Werfen und Treffen mit dieser auf den ersten Blick so unscheinbar und ungefährlich wirkenden Waffe.

Die Karte traf mit messerscharfer Genauigkeit genau in dem Moment die Pistole, als Kubari abfeuerte. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen, und der Schuß ging fehl. Sie schlug weit entfernt auf den Boden und wurde unerreichbar.
Schon war sie bei ihm, doch sie konnte nicht verhindern, dass er nach einer Fernsteuerung griff. Schon hatte er den einzigen Knopf auf der Fernsteuerung gedrückt. Er zog sich vor ihr immer weiter zurück, bis er an der Fensterbank stand. Er lachte und fragte mit einem überlegenen Hohn in der Stimme: „Sie wissen doch noch, was diese Fernsteuerung zu bedeuten hat, oder Katze?!“ Er lachte das Lachen eines Wahnsinnigen, als er fortfuhr: „Ich kann Sie vielleicht nicht töten, aber ich kann Sie mitnehmen!“
Sie wusste, was er meinte. Es setzte eine ausgeklügelte Selbstzerstörungsanlage in Gang, die das gesamte Anwesen in Schutt und Asche legen würde. Jetzt wurden auf dem ganzen Grundstück Bomben gezündet. Nach 20 Sekunden würden einige der leichteren Sprengsätze folgen, dann in einem bestimmten Turnus die nächsten, und es würde acht Minuten dauern bis die größte der Bomben das gesamte Haus zerfetzen würde.
Alles würde in Brand geraten, das totale Chaos würde ausbrechen. Diese Anlage war von einem Wahnsinnigen ausgedacht worden, und genauso funktionierte sie auch - wahnsinnig, aber leider durchaus nicht dumm.
Jetzt waren die anderen Wächter im Haus ihre geringste Sorge. Sie saßen alle im selben Boot. Sie packte Kubari am Kragen und hielt ihm hart die Pistole unter das Kinn.
„Wie macht man das wieder rückgängig?“ Obwohl sie sehr genau wusste, was sie als Antwort bekommen würde, fragte sie. Er lachte wieder sein wahnsinniges Lachen und meinte: „Sie müssten doch noch wissen, dass man es nicht mehr abstellen kann, wenn es einmal in Gang gebracht wurde. Sie werden zusammen mit mir zur Hölle fahren!“
Ja, sie wusste es. Plötzlich wurde das gesamte Gebäude von einem ungeheuren Stoß erfaßt. Der Boden schien sich in verschiedene Richtungen zu bewegen. Sie befanden sich gegenwärtig im Erdgeschoß, und sie waren in enorm großer Gefahr, dass Sachen aus den oberen Stockwerken auf sie herabstürzen würden. Sie mussten so schnell wie nur irgend möglich hier raus.
Die Wände bekamen Risse, sie hörten Stahl kreischen. Es begann schon. Das Chaos bahnte sich seinen Weg, und nichts würde es aufhalten können.
Sie und Kubari, der sich immer noch wie ein Irrer gebärdete und für alles um ihn herum keinen Sinn mehr zu haben schien, standen dicht am Fenster. Es ging alles so schnell. Sie wandte sich vom Fenster ab, sie hatte keine Zeit mehr sich um Kubari zu kümmern.
Sie kam nur einen Meter weit, denn in dem Moment barsten die Fenster der gesamten großen Fensterfront mit einem einzigen mörderischen Klirren. Schon flogen Glassplitter quer durch den ganzen Raum, sie waren einfach überall.
Instinktiv ging sie in die Knie und hielt die Arme schützend vor Kopf und Gesicht. Es war ein Geräusch, als versuchten sämtliche Rowdies der Stadt das Haus in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Sie hörte ständig weitere Explosionen, Schreie und Geräusche der Zerstörung im gesamten Anwesen. Ein Blick nach draußen sagte ihr, dass bereits die Nebengebäude in hellen Flammen standen, von Bomben förmlich zerrissen. Es würde nicht mehr lange dauern, und dann würde hier nichts mehr zu retten sein.

Sie richtete sich wieder auf. Auch Kubari war in die Knie gegangen und hatte sich so vor den heimtückischen gläsernen Geschossen in Sicherheit gebracht. Zum ersten Mal konnte sie sich jetzt wieder nach Toshi umsehen. Es waren nur ungefähr eine Minute vergangen, seit sie aus den Handschellen frei war, aber es war ihr wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Er stand inzwischen hinter ihr. Er hatte sich die andere Pistole genommen, aber die würden sie jetzt wohl kaum noch brauchen. Im ganzen Haupthaus war inzwischen eine regelrechte Panik ausgebrochen, jeder versuchte den Flammen zu entkommen, die immer wilder um sich griffen. Die schwere Tür dämpfte es zwar ein wenig, aber sie konnte den Rauch schon riechen, der sich im Haus verbreitete. Sehr viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

Kubari lachte immer noch. Er schien vollständig den Verstand verloren zu haben. Nur einen Augenblick achtete sie auf ihn.
Sie hörte wohl, dass etwas großes und schweres sich von der Decke löste und von oben auf sie zuraste. Aber es ging alles so schnell, ihr blieb nicht einmal Zeit nachzudenken, geschweige denn, sich zu bewegen. Das einzige, was sie hörte, war ein Schrei, direkt hinter ihr. Sie hörte nichts als diesen Schrei, den sie nicht verstehen konnte, doch sie kam nicht mehr zum Nachdenken. Schon wurde sie hart von hinten an den Armen gepackt und in einem großen Bogen zu Boden geworfen.
Sie landete in einem Meer von Scherben, und einige schnitten sich ihr in die Haut, aber darauf konnte sie jetzt nicht achten. Jemand lag dicht neben ihr auf dem Boden und hatte seine Arme immer noch schützend um sie gelegt. Erst jetzt kam sie wieder zum Denken und richtete sich langsam auf. Sie sah zu Kubari hin, aber da war jetzt nichts mehr außer einem großen Stahlträger.
Kubari lag da, stumm und tot. Man musste kein Arzt sein um zu erkennen, dass der Träger ihm das Genick nicht nur gebrochen, sondern regelrecht zertrümmert hatte. Einen kurzen Moment stand sie nur da und sah auf den Mann, dessen Kopf in unnatürlichstem Winkel zu dem Rest seines Körpers stand. So wäre es ihr auch ergangen, wenn Toshi sie nicht gerade noch gerettet hätte.

Sie drehte sich zu Toshi um. Er stand auch da und sah auf den Toten. Ihr wurde bewußt, dass sie überhaupt nur noch eine einzige Chance hatten. Sie ließ die Pistole fallen, die brauchte sie jetzt nicht mehr. „Hitomi, was ist hier eigentlich los?!“ Er konnte ja gar nichts von der Vorrichtung wissen.
„Eine Selbstzerstörungsanlage, und die wird uns in spätestens fünf Minuten umbringen, wenn wir hier nicht rauskommen!“
Das Erschrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was?!“
Sie trat auf ihn zu, griff seinen Arm und zog ihn schon mit sich, während sie über die lauten Explosionen hinwegrief: „Wir haben keine Zeit mehr! Ich kenne vielleicht noch einen Weg, uns hier rauszubringen!“
Er schien immer noch wie erstarrt, dann schien er ihre Worte begriffen zu haben. Auch er ließ die Pistole fallen. Um sie herum war ein Bild der Zerstörung und Verwüstung. Der Boden war übersät von Scherben, die Wände hatten tiefe Risse erhalten, die schweren Bücherregale waren umgestürzt, einige schwere Stahlträger waren von der Decke gestürzt, so dass sie froh sein konnten mit dem Leben davongekommen zu sein. Die schwere Tür war teilweise aus den Angeln gehoben worden, so dass sie jetzt nur noch lose zwischen den Türrahmen hing. Überall schien schon Feuer ausgebrochen zu sein, aber im Haupthaus, das als letztes von der riesigen Explosion erfaßt und vernichtet werden würde, war es noch nicht so schlimm.
Sie zögerte einen kurzen Moment, drehte sich zu ihm um, zog ihn zu sich heran und küßte ihn. Es war ein leidenschaftlicher Kuß, und für Sekundenbruchteile vergaßen sie die Umwelt. „Danke,...ohne dich hätte ich es nicht geschafft!“, meinte sie leise.
Diesmal war er es, der ihren Arm griff. „Aber das wird uns nichts mehr nützen, wenn wir hier drin umkommen. Du bist die einzige, die den Weg kennt.“

Überall Feuer, Flammen, die dauernden Erschütterungen, einstürzende Sachen, die ihnen in den Weg fielen, die Schreie von Menschen, das Kreischen von Metall, das barst. Immer wieder fürchterliche Explosionen. Der dichte Rauch nahm ihnen einen großen Teil der Sicht, sie konnten nur noch schwer atmen. Toshi blieb die ganze Zeit dicht hinter ihr, sie hielt ihn immer noch am Arm fest.
Sie kämpfte gegen die Panik an, die dieses Gefühl bei ihr auszulösen begann. Sie versuchte sich zu erinnern, wohin sie laufen mussten um zu dem geheimen Tunneleingang zu kommen. Schon vor anderthalb Jahren, als sie als Katzen hier gewesen waren, hatten sie sich diesen von Kubari extra angelegten Geheimtunnel zu Nutze gemacht. Er war als letzte Rettung gedacht gewesen, ihnen hatte er damals den Einstieg ermöglicht. Hoffentlich würde er hier und jetzt auch ihre letzte Rettung sein.
Wieder lief sie instinktiv in die richtige Richtung, quer durch die Zerstörung hindurch, obwohl sie praktisch nichts sehen konnte. Sie konnte nur hoffen, dass der Gang, wenn er überhaupt noch existierte, nicht von den Erschütterungen zerstört worden war.

Endlich, nach einer Ewigkeit - wie es ihr schien - waren sie bei dem Eingang angekommen. Sie hatten Glück gehabt, denn eine Explosion hatte den Eingang freigelegt, der normalerweise durch eine Bücherwand verschlossen wurde. So konnten sie direkt und ungehindert durch den steinernen Torbogen in den Tunnel hinein laufen. Es ging einige Steintreppen hinunter, sie kamen damit unter die Erde. Die Stufen hatten einige Risse bekommen, aber sonst schien mit ihnen, den Wänden und den Stützpfeilern alles in Ordnung zu sein.
Nach ungefähr vierhundert Metern würde der Tunnelausgang in Sicht kommen, der in einem dichten Gebüsch inmitten des Waldes lag. Der Wald gehörte nicht mehr direkt zum Anwesen, war aber immer noch im Besitz von Kubari. Jetzt mussten sie nur noch unbeschadet durch den Tunnel kommen, dann waren sie in Sicherheit. Hitomi spürte die Hitze, die das Feuer selbst bis hier unten hin verbreitete, doch sie dachte jetzt nur noch daran, dass sie schnell sein mussten. Denn die ganz große Explosion, die unmittelbar bevorstand, würde vermutlich auch große Teile des Tunnels, die dem Anwesen am nächsten lagen, zum Einstürzen bringen.
Immer noch fiel ihr das Atmen schwer, der Rauch hatte ihre Kehle ausgetrocknet. Doch sie lief weiter, und Toshi folgte ihr. Sie liefen immer weiter den Tunnel entlang und gelangten so immer weiter von dem brennenden Haus weg.

Hitomi lief voran, dem Ende entgegen. Sie wurden langsamer und näherten sich dann vorsichtig dem Ausgang des Tunnels, der versteckt in einem Gebüsch lag. Von außen war dieser Ausgang nicht zu sehen, aber von innen sehr geräumig und begehbar.
Draußen regnete es, und zwar in Strömen. Hitomi hoffte, dass sie in dem Regen überhaupt noch etwas sehen konnten. Es war immerhin mitten in der Nacht, und sie war lange nicht mehr hier gewesen.
Sie wollten gerade die letzten schützenden Zweige auseinanderbiegen um ins Freie zu gelangen, als Hitomi plötzlich abrupt stoppte und ihm mit einer Hand bedeutete sich tiefer im Gebüsch zu verbergen und leise zu sein. Er konnte die Verwandlung in ihr förmlich sehen. Sie spannte die Muskeln an und lauschte angestrengt in eine Richtung. Sie musste etwas gehört haben, aber durch das Rauschen des Regens war er sich nicht so sicher. Sie bedeutete ihm hier zu bleiben und schlich auch schon vorwärts, aus dem Gebüsch heraus. Bevor er nur reagieren konnte, war sie auch schon verschwunden.

Er brauchte auch nicht lange auf seine Freundin zu warten, dann kam sie schon wieder. Sie hatte jetzt jedoch normale Sachen an und nicht mehr ihren Anzug.
Die Frau, die jetzt in Jeans und Lederjacke vor ihm stand, kam seiner Frage zuvor. „Zum Glück hatte der Typ ungefähr meine Größe. Komm, wir müssen hier weg!“
„Du bist einfach unglaublich.“
Als sie diese kurze Verblüffung sah, die in seinen Zügen zu sehen war, lächelte sie. „Na los, wir sind immer noch in Gefahr!“
Im Laufen fragte er: „Welchen Grad in Karate hast du eigentlich?“
„3. Dan.“
„Ungefähr so hatte ich mir das vorgestellt.“
Er folgte ihr durch den Regen hindurch. Es regnete jetzt nicht mehr so stark wie gerade eben, und er konnte in ein paar Metern Entfernung eine dunkle Gestalt auf dem Boden liegen sehen. Er hatte sicher nicht den Hauch einer Chance gehabt, als er - wahrscheinlich mit einem Schlag in den Nacken - niedergeschlagen worden war. Ja, das war die Katze, wie er sie kannte.

Sie hielten erst wieder an, als sie das brennenden Landhaus schon weit hinter sich gelassen hatten. Sie hatten beide die gewaltige Explosion gehört, die wie ein gewaltiges Donnergrollen angefangen und sich zu einem ohrenbetäubenden Schrei entwickelt hatte.
Hitomi kannte die Gegend hier zumindest noch ein wenig, und auch wegen ihres guten Orientierungssinns hatte sie Toshi in die richtige Richtung geführt. Angesichts des Landgutes, von dem immer noch Explosionen zu hören waren, und von dem eine riesige Rauchwolke emporstieg, war jede Richtung, die von der Gefahr wegführte, die richtige gewesen. Es regnete in Strömen. Es würde zwar nicht reichen um das Feuer auf dem Landgut zu löschen, aber zumindest war es ein Anfang. Dieser Gedanke kam ihr mitten im Laufen in den Sinn, und ein leichtes Lächeln über sich selbst legte sich über ihr von Anstrengung gezeichnetes Gesicht. Der Waldboden war aufgeweicht und rutschig geworden, aber trotzdem hatten sie ihren Schritt nicht einmal verlangsamt.

Jetzt waren sie auf einer kleinen Lichtung, die von hohen Bäumen und niedrigem Gesträuch umgeben war. Beide waren schweißüberströmt, naß bis auf die Haut, Hitomi war von Splittern getroffen worden. An ihren Händen und Armen hatte sie einige blutige Schrammen, und Blut lief ihr auch aus einer Wunde an der Stirn. Toshi’s Klamotten hingen an ziemlich vielen Stellen in Fetzen, und auch er war von Splittern getroffen worden.
Aber sie waren relativ unversehrt aus der Sache raus gekommen, die ihnen beiden den Tod hätte bringen können, und das war erstmal das wichtigste.
Um sie herum war es dunkel, nur der Mond sah ein paar Mal durch die Regenwolken auf die Menschen herab. Es regnete immer noch, aber unter dem Blattwerk des Baumes waren sie relativ geschützt. Obwohl ihnen das auch nicht mehr viel nützte, denn sie beide waren von dem heftigen Regen sowieso durchnäßt.
Strähnen ihres schwarzen Haares hingen ihr in die Stirn, und ein wenig Blut floß ihr immer noch an der Schläfe herunter. Sie wirkte müde und erschöpft, aber auch glücklich der Gefahr entkommen zu sein. Aber da lag noch etwas anderes - ein seltsames Leuchten - in ihren Augen, das er zunächst nicht deuten konnte.

Nachdem sie einigermaßen wieder zu Atem gekommen waren, meinte Hitomi: „Ich schätze, hier sind wir vorerst sicher.“
Er nickte und fragte lächelnd, während er ihr sanft eine nasse Haarsträhne aus der Stirn strich: „Haben wir es geschafft, Katze?“
Sie lächelte jetzt auch. „Ja, ich glaube, das haben wir.“
Er sah mit besorgter Miene auf das Blut, das ihr immer noch an der Stirn herunterfloß. „Die haben dich ganz schön erwischt.“
Sie lächelte leicht. „Du hast mir heute schon zwei Mal das Leben gerettet. Ohne dich hätte Kubari mich doch noch gekriegt.“
„Verdammt, Hitomi, ich hätte dich fast verloren. Wenn ich nicht da gewesen wäre, dann hätte der Pfeiler dich auch getroffen.“ Er strich ihr über die Wange und fügte leise hinzu: „Bitte, laß es nicht wieder so knapp werden. Ich will dich nicht wirklich einmal verlieren.“
Darauf beugte sie sich zu ihm hinüber. „He, du wirst mich nicht verlieren. Bis jetzt hat mich noch niemand wirklich gekriegt - außer dir - und das wird auch so bleiben.“
„Das ist gut.“, meinte er nur leise. „Weißt du eigentlich, wie wahnsinnig schön du jetzt aussiehst?!“
Sie lachte leise und meinte als Antwort: „Ich hoffe, du verlangst nicht von mir, das hier jeden Tag zu machen.“
„Nein, du wirst dich noch oft genug in Gefahren begeben, an die ich lieber gar nicht erst denke.“
Sie spürte seine warmen und nassen Hände auf ihrer Haut. Seine Hände waren dabei sie und ihren Körper völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Sie wusste irgendwie nicht, was mit ihr los war, aber sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie spürte deutlich das Verlangen in sich, und sie versuchte erst gar nicht, sich in irgendeiner Weise dagegen aufzulehnen. Sie wusste, das wäre ihr sowieso nicht gelungen.
Sie küßte ihn noch wilder, als sie das jemals zuvor getan hatte. „Sollten wir nicht langsam darüber nachdenken, wie wir nach Hause zurückkommen?“, fragte er leise lächelnd, während er immer noch sanft über ihre Wange strich. „Ja,...ich glaube, das sollten wir.“
„Aber das können wir auch gleich noch tun...!“, fügte sie flüsternd hinzu, als sie ihn zu sich hinzog und ihn wieder leidenschaftlich küßte. Sie wollte nicht aufhören damit, und sie spürte, dass er das auch nicht wollte.
Es regnete immer noch, aber das bemerkten sie überhaupt nicht. Es war so, als ob erst jetzt beiden wirklich bewußt wurde, dass sie der Gefahr entkommen waren. Es gab in diesem Moment kein Problem auf der Welt, das nicht irgendwie zu lösen war.
Er schien zu ahnen, was sie dachte, denn er meinte flüsternd: „Das sollten wir nicht tun. Zumindest nicht hier und jetzt.“
„Warum musst du nur immer so schrecklich vernünftig sein?“, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln. Auf seinen gespielt entrüsteten Blick fügte sie dann mit einem Seufzen hinzu: „Ja, ich weiß. Du hast ja recht.“

Sie stand auf und sagte, nachdem sie einige Sekunden ringsherum in die Dunkelheit gespäht hatte: „Ich glaube, ich kenne die Gegend noch von damals. Wenn ich mich nicht irre, müsste nicht weit von hier eine Bahnstrecke nach Tokio vorbeiführen.“
Der Himmel wurde zwar erhellt von dem Feuer und den immer noch andauernden Explosionen, aber durch die dicken Regenwolken war nur sehr wenig von den Sternen und dem Mond zu sehen, doch Toshi sah in dieser Dunkelheit im Wald überhaupt nicht sehr viel, geschweige denn, er hätte sich orientieren können, auch wenn er vor anderthalb Jahren schon mal hier gewesen war. Aber Hitomi schien ganz genau zu wissen wo sie waren, und in welche Richtung sie gehen mussten um nach Hause zu kommen. Sie hatte ihn auch die ganze Zeit auf der Flucht geführt, und sie hatte nicht ein einziges Mal angehalten um sich zu orientieren. Immerhin war es auch für sie anderthalb Jahre her, seit sie das hier das letzte Mal gesehen hatte. Toshi bewunderte sie. Sie hatte einen verteufelt guten Orientierungssinn, und sie konnte selbst in dieser Dunkelheit mit ihren Augen noch genug sehen um sich zurecht zu finden. Bei Gott, sie war so viel mehr als nur eine verdammt gute Diebin.
Jetzt hielt sie ihm eine Hand hin und er ließ sich lächelnd von ihr hochziehen.
„Weißt du, wie weit wir von Zuhause weg sind?“
„Ungefähr 50 Meilen müssten es sein.“ Dann fügte sie hinzu, während sie sich in eine Richtung noch weiter von dem brennenden Haus weg wandte: „Komm, es wird hier gleich sicher von Leuten wimmeln, und dann sollten wir eigentlich schon weg sein.“ Der Regen hatte ein wenig nachgelassen.
Er folgte ihr weiter durch den Wald, der immer lichter wurde, je weiter sie kamen. Sie hörten schon die Martinshörner der Feuerwehr und Krankenwagen, Hitomi hatte recht gehabt, sie sollten wirklich am Besten von hier verschwinden. Toshi sah jetzt zwar mehr als gerade eben, dennoch hätte er sich hier nicht einen Meter weit zurechtzufinden gewußt. Aber Hitomi war sicher und brachte sie beide aus dem Wald heraus. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, dann traten sie aus dem letzten Gebüsch, das das Waldstück einfriedete. Jetzt war es auch heller, obwohl hier draußen keine Straßenlampen schienen.
In ungefähr hundert Meter Entfernung führten wirklich Eisenbahngleise vorbei, und auch eine Brücke war dort zu sehen. Die Straße führte über die Brücke und unter ihr hindurch führten die Gleise.
Noch fuhren hier keine Rettungswagen und andere Wagen durch, aber die würden bald hier sein, und dann waren sie beide hoffentlich schon nicht mehr hier.
Sie hatten es gut abgepaßt, denn in dem Moment hörten sie beide die Geräusche eines langsam fahrenden Zuges. Hitomi kannte die Brücke noch. Die hatte damals eine wichtige Rolle in ihrem Plan gespielt, und so wusste sie, dass die Züge hier immer langsam fuhren, weil verschiedene Weichen gestellt werden mussten, die man nicht elektronisch steuern konnte. Das wollte man schon seit langem ändern, aber irgendwie wurde es nie gemacht. Aber das war ein Glück für sie beide.
Denn wenn der Zug mit voller Geschwindigkeit unter der Brücke durchgefahren wäre, hätten sie nicht so einfach das tun können, was Hitomi im Sinn hatte. Auch damals hatten sie es getan, und es hatte hervorragend funktioniert.

Sie standen am Brückengeländer, und Hitomi fragte, während sie halb ihn, halb den nahenden Zug ansah: „Kannst du springen, Toshi?!“
Sie stieg über das Geländer und stand jetzt nur noch auf einem schmalen Betonrand, und er folgte ihr. Es war nicht ungefährlich, alles kam darauf an, im richtigen Moment abzuspringen. Kamen sie dann auf dem Dach des Zuges nur irgendwie falsch auf, würden sie herabgeschleudert werden, obwohl der Zug jetzt sehr langsam fuhr und seine Geschwindigkeit noch weiter verringerte.
Hitomi erinnerte sich wie Nami und sie damals hier gestanden hatten und die letzten Sekunden vor dem Sprung abgewartet hatten. Sie erinnerte sich noch genau, wann der richtige Moment sein würde.
Schließlich war dieser Moment erreicht, sie gab Toshi ein Zeichen und beide sprangen gleichzeitig von der Brücke weg.

Beide landeten einige Hundertstelsekunden später auf dem Dach eines Waggons. Keiner von beiden war in Gefahr, sie waren gut gelandet. Es dauerte auch nicht lange, da schwang sich Hitomi als erste unbemerkt von dem Dach des Waggons auf ein Verbindungsstück zwischen dem einen Waggon und dem nächsten hinunter. Es war für sie ziemlich einfach, sie war so etwas gewohnt.
Jetzt war Hitomi dran Toshi zu bewundern. Er bewegte sich auf dem Zug mit einer behenden Leichtigkeit und Sicherheit, die sie in dieser Art und Weise von ihm gar nicht kannte. Er war schnell, und er war auch ziemlich wendig und behende, das war er mit Sicherheit, immerhin war die Jagd nach den Katzen nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Jagd hatte ihn sozusagen geschult und ihn immer besser und sicherer gemacht.
Sie dachte im Moment nicht daran, dass sie beide wohl ziemlich sehr seltsam aussehen mussten. Zerrissen, blutig, naß, erschöpft. Aber das war ihr jetzt total egal, sie wollte nur weg von hier, weg von der Gefahr, in die Ruhe, Stille, Sicherheit. Nicht mehr jede Sekunde auf alles gefaßt sein müssen.

In dem Zug waren um diese Uhrzeit nur wenige Menschen, obwohl sie in der Nähe der Hauptstadt waren. Das würde sich zwar bald ändern, aber das war jetzt auch Nebensache. Hauptsache, sie beide waren in Sicherheit. Im gesamten Waggon war außer ihnen nur eine Handvoll Menschen, die sich über die Sitze verteilten.
Sie setzten sich dicht nebeneinander, er legte einen Arm um ihre Schulter, und sie lehnte sich gegen seinen Arm. Der Zug begann jetzt wieder schneller zu fahren und hatte schon bald seine normale Geschwindigkeit wieder aufgenommen. Niemand schien die doch recht seltsam aussehenden Menschen zu beachten.
Nach einer kurzen Weile meinte Hitomi leise: „Jetzt sind wir erst richtig in Sicherheit. Jetzt kommt es nur noch darauf an, dass wir heil nach Hause zurückkommen.“
Er nickte, und nach einer kleinen Weile meinte sie: „Meine Schwestern, Herr Nagaishi und Chang werden sich ziemlich erschrecken, wenn sie dich sehen. Das wird noch ein Chaos werden.“
„Aber auch das Chaos werden wir irgendwie lösen können. Es wird einen Weg geben.“
„Ja, das wird es sicher. Aber,...was wird übermorgen sein, oder nächste Woche, oder nächsten Monat?...Katzenauge muß weiter existieren, wir müssen weitermachen, verstehst du?!...Das bin ich meinem Vater schuldig, und meinen Schwestern auch, vermutlich sogar mir selbst. Wirst du so einfach weiter hinter uns herjagen können, jetzt, wo du weißt, wem du hinterherjagst?“ Er strich ihr mit einer Hand über das Haar, sie sah ihn jetzt mit nachdenklich gewordenen Augen an, die so viel mehr waren als die Augen einer gewöhnlichen jungen Frau. Genauso wie die Frau neben ihm alles andere war als eine gewöhnliche junge Frau.
„Mach dir darüber jetzt keine Sorgen, das werden wir hinkriegen,...vertrau mir, Katzenauge. Wenn ich eins von euch gelernt habe, dann, dass ihr nicht aufgebt, und ich auch nicht.“ Er küßte sie sanft auf die Stirn, und sie nickte leicht mit dem Kopf, erwiderte aber nichts. Sie schloß die Augen und lehnte ihren Kopf wieder gegen seine Schulter. Die letzten Stunden und Tage hatten auch ihr eine ganze Menge abverlangt, und sie war übermüdet. Das war ja auch nur normal, kein Mensch, nicht mal eine Katze, konnte ohne Folgen so lange unter Hochspannung stehen. Er wusste, dass es ihm auch so ging, aber er verschob es auf später.
Seine Augen ruhten immer noch auf dieser auf den ersten Blick so normalen jungen Frau, die aber bei näherem Betrachten sehr viel komplexer und ungewöhnlicher war, als es jemals jemand hätte vermuten können, der sie nicht sehr gut kannte. Selbst jetzt hatte er noch das Gefühl, dass er noch nicht alles über sie wusste, es gab noch Teile an ihr, die kannte er noch nicht.
Er wusste aber, dass sie ihm diese Teile zeigen würde, wenn sie bereit dazu war. Die Zeit dafür würde kommen, und er drängte sie nicht.

Sie hatte in den letzten Jahren viele Kämpfe ausgefochten, sowohl körperliche als auch innerliche. Die körperlichen hatte sie fast alle gewonnen, das wusste er ganz genau. Was die innerlichen anbetraf, wusste er es nicht so genau. Was musste sie gedacht, und wie musste sie sich gefühlt haben, wenn sie ihn anlog, und das nicht nur einmal, sondern immer, wenn es um die Katzen ging?
Er erinnerte sich daran, wie sie ihn vorhin im Wald angesehen hatte. Es hatte ein ganz eigenartiger Ausdruck in ihren Augen gelegen, aber er konnte es nicht genau mit Worten beschreiben. Es war so etwas wie eine Mischung aus Erschöpfung, Liebe und Erleichterung gewesen. Und auch sonst...! Niemals zuvor hatte sie ihn so geküßt, wie sie das jetzt getan hatte. Es schien fast so, als sei die ganze Last der Lügen mit einemmal von ihr abgefallen, und er sah zum ersten Mal wirklich, wer sie war und was sie ausmachte.
Es machte Sinn, dass sie ihm niemals etwas von ihren hohen Karategraden erzählt hatte. Dann wären er oder seine Kollegen vermutlich schon früher mißtrauisch geworden, denn das wäre womöglich eine Übereinstimmung zuviel gewesen. Sie war schon die ganze Zeit die Ausführende der Katzen gewesen, diejenige, die sehr viele der körperlichen Gefahren auf sich nahm. Im Nachhinein liefen ihm noch Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, in welcher Gefahr sie praktisch die ganze Zeit seit sie sich kannten und schon davor geschwebt hatte. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie viele Male sie jetzt schon nahe am Abgrund des Todes gestanden hatte.

Er dachte noch einmal an dieses Erlebnis auf dem Schiff „Santa Maria“. Damals wäre es fast soweit gekommen, wie es jetzt gekommen war. Er hätte beinah schon das erfahren, was er jetzt erfahren hatte.
Es hatte sich ein Gemälde auf dem Luxusliner „Santa Maria“ befunden, das die Katzen hatten stehlen wollen. Sie hatten das wie fast immer vorher beim Revier angekündigt, und dann hatte man ihn auf das Schiff geschleust, das gerade in der Tokiobucht vor Anker gelegen hatte.
Beinahe wäre der Plan aufgegangen. Nur der Besitzer des Schiffes hatte die Katzen töten wollen, und weil er selbst alles mitgekriegt hatte, hatte auch er mit beseitigt werden müssen. Man hatte sie beide zusammen in einen absolut düsteren Raum gesperrt. Die Chance war damals größer gewesen, als je zuvor endlich das wahre Gesicht dieser Katze zu sehen. Er hatte sie neben sich gespürt, obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie war angeschlagen gewesen, man hatte ihr ziemlich übel mitgespielt, und sie hatte sich kaum noch auf den Beinen halten können.
Er musste sich eingestehen, dass er sie damals fast wirklich geküßt hätte. Ein ganz kleiner Teil von ihm hatte gewußt - oder zumindest geahnt - dass diese Katze ihn so gut kannte, wie eigentlich nur Hitomi ihn kennen konnte.
Obwohl sie ihn wirklich fast dazu angestiftet hatte, sie zu küssen, hatte er sich in den Tagen und Wochen danach absolut mies gefühlt, allein nur deshalb, weil er daran gedacht hatte es zu tun. Hitomi hatte er natürlich niemals etwas von den Sache erzählt, aber jetzt wusste er, dass sie es selbstverständlich gewußt hatte. Schließlich war ja sie selbst diese Person gewesen, die neben ihm in diesem dunklen Raum gesessen hatte.
Vielleicht war es ihr in dieser Zelle egal gewesen, vielleicht war es ihr alles egal gewesen. Vielleicht hatte sie ihre Gefühle für ihn nicht mehr weiter zurückhalten wollen, auch - oder gerade - als Katze nicht.
Jetzt sah er auf diese Katze, die immer noch mit geschlossenen Augen an seiner Schulter lehnte, deren Wärme er spürte und sich gleich viel besser fühlte.

Er dachte auch an ein Gespräch, das er vor knapp einem halben Jahr einmal mit seiner Kollegin Assayah gehabt hatte. Sie hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass die drei Schwestern - insbesondere Hitomi - viel mehr waren, als sie zu sein schienen. Sie hatte sie verdächtigt, die Katzen zu sein. Damals hatte er selbstverständlich nichts von ihren Verdächtigungen hören wollen, auch wenn sie ihm hin und wieder insgeheim doch zu denken gegeben hatten.
Sie hatte an dem Tag gesagt: „Ich bin mir so gut wie sicher, dass sie mit den Katzen etwas zu tun haben. Und zwar mehr, als dass Hitomi nur mit Ihnen befreundet ist, Detective! Sie müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Sie sind nicht das, für das man sie halten soll.“
Er hatte darauf ziemlich wütend reagiert und gesagt: „Hören Sie auf mit dem Unsinn! Das macht doch überhaupt keinen Sinn! Selbst wenn sie die Katzen wären, was sollten sie dann mit den Gemälden wollen?!...Außerdem würde mich Hitomi nicht belügen! Die ganze Sache ist völliger Blödsinn!“
Sie hatte nichts entgegnet, aber ihr Blick hatte gesagt: „Sind Sie sich da so sicher?!“
Dieser Blick hatte ihn noch wütender gemacht, weil seine Kollegin an der Loyalität seiner Freundin zweifelte. Wenn er ganz ehrlich war, hatte er auch Angst davor gehabt, dass sie vielleicht doch recht haben könnte - so unwahrscheinlich und unmöglich das auch sein mochte.

Inzwischen wusste er, dass Assayah recht gehabt hatte, denn Hitomi hatte ihn ja wirklich in ziemlich vielen Dingen angelogen. Doch das Motiv war ein anderes gewesen, als das, was Assayah dahinter vermutet hatte. Hitomi war gezwungen gewesen, das zu tun, und sie hatte es niemals gerne getan.
Sie hatte ihn niemals anlügen wollen, das wusste er jetzt. Er spürte auch, wie glücklich sie darüber war, dass dieser Zwang jetzt nicht mehr bestand - zumindest nicht mehr zwischen ihnen beiden. Er verstand, wie schwer es für sie gewesen sein musste, ihm alle diese Dinge zu verschweigen, ohne Aussicht darauf, dass es in absehbarer Zeit anders werden würde.
Es war nicht leicht, jetzt von einem auf den anderen Moment zu merken, was da noch alles gewesen war - und natürlich immer noch war. Es war so eine Fülle von Informationen - eigentlich unglaublichen Informationen - die noch dadurch unterstrichen wurde, dass ein Wahnsinniger gerade versucht hatte sie umzubringen. Das musste er erst innerlich verarbeiten. Er wusste, dass Hitomi ihn verstand und ihm die Zeit ließ. Die Zeit, sie kennenzulernen - so, wie sie wirklich war.

Diese ganzen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und er merkte, dass er sie immer noch voller Liebe ansah. Sie hatte ihm nicht alles so direkt gesagt, was er jetzt dachte, aber er hatte es an allem gespürt. Was sie gesagt hatte, wie sie etwas gesagt hatte, wie sie ihn angesehen hatte und noch einiges mehr. Hitomi hatte recht gehabt, ihre Schwestern würden sicherlich einen mächtigen Schreck bekommen, wenn sie sahen, was geschehen war. Aber eigentlich freute er sich darauf. Darauf, dass sie wussten, dass er verstand, und dass er sie verstand.

Hitomi war zwar müde, aber sie schlief nicht. Dafür war sie noch zu aufgeregt von den Ereignissen, die vor weniger als einer Stunde geschehen waren. Aber trotzdem hatte sie schon das Gefühl, als läge das Ganze Tage hinter ihnen. Ihre Gedanken bewegten sich rückwärts, ließen noch einmal alles, was jetzt passiert war, vor ihrem inneren Auge vorbeistreichen.
Sie hatte Toshi in der Zelle alles erzählt, was sie selber über ihren Vater und sein Verschwinden wussten. Dass ihr Vater auf der Flucht war. Er hatte sich sicher gefühlt in Japan, viele Jahre lang hatte er eine Familie und alles andere gehabt, aber irgendwas oder irgend jemand hatte damals, im Sommer 1981, ausgelöst, dass er wieder fliehen musste. Was 1981 genau passiert war, hatten sie bis heute nicht erfahren können. Die Antwort kannten vermutlich nur die Verfolger und ihr Vater selbst.
Wenn sie bald wieder Zuhause sein würden, war dann da noch so viel, was zu erzählen, erklären und zu tun war.

Schließlich näherte sich der Zug ihrem Ziel. Aber nach einem eher spontanen Einfall bat sie Toshi mit ihr schon einige Stationen früher auszusteigen und ihr zu folgen. Sie taten es, er fragte sie nicht, was sie damit bezweckte. Sie würde ihre Gründe haben. Es war früher Morgen und sie waren in einem nicht so belebter Teil des Hafens. Es war noch nicht hell, es würde noch etwas dauern, bis die Sonne über der Stadt aufgehen würde. Kein Mensch bemerkte die beiden Gestalten, die dicht nebeneinander die Gassen entlanggingen.
Manche Gebäude waren in nicht mehr so guter Verfassung, aber es gab auch einige gut erhaltene, die dem Wetter und der Zeit getrotzt hatten. Es gab jede Menge Lagerhallen, die sich teils benutzt, teils unbenutzt über die Kais verteilten. Es war nicht sehr viel los, auch nur wenige Schiffe lagen hier vor Anker. Sie hatten gewußt, warum sie sich damals diesen Platz ausgesucht hatten.
In eine dieser Lagerhallen führte sie ihn jetzt. Sie humpelte ein wenig beim Gehen, die hatten sie wohl doch stärker getroffen, als sie angenommen hatte. Es war dunkel in dem Gang, den sie durch den geheimen Zugang betraten. Sie gingen ihn entlang.
Plötzlich spürte sie die Anwesenheit eines Menschen, und zwar direkt vor ihr. Aber es war schon zu spät, der Schatten griff sie an.
Jemand packte ihr Handgelenk und hielt sie fest. Die zweite Hand des Schattens griff ihren anderen Arm und verdrehte ihn ihr auf den Rücken, so dass sie nun ziemlich hilflos und überrumpelt war.
Doch plötzlich ließ der Schatten sie los: „Hitomi?! Du?!“
Das Licht wurde eingeschaltet, von der plötzlichen Helligkeit geblendet kniff sie ein wenig die Augen zusammen, aber sie erkannte die Frau doch, die sie vor sich hatte.
„Nami?!“, fragte sie überrascht, als sie ihre Schwester im Lichtschein stehen sah. Die Verblüffung und die Freude standen Nami ins Gesicht geschrieben. Sie sahen sich an, und sofort mischte sich Sorge in den Blick ihrer älteren Schwester mit ein.
„Verdammt, Hitomi, was ist passiert?!“ Hitomi hörte deutlich den Schreck heraus, den sie ihr mit ihrer äußeren Erscheinung einjagen musste.
Doch bevor sie zu einer Antwort kam, erstarrte die vor ihr Stehende wie eine Statue. Hitomi wusste, was der Grund dafür war. Nami stand da wie versteinert. Sie hatte den hinter ihr in den Raum getretenen Toshi bemerkt.

Nami starrte auf den Mann vor ihr und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Hitomi wusste, dass in ihrem Kopf die Gedanken rasten. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, was sie jetzt dachte. Toshi musste es wissen, sonst hätte sie ihn niemals zu dieser Lagerhalle geführt. Und das bedeutete dann...!
Nami sah ihre jüngere Schwester an und brachte endlich hervor: „Nein,...Hitomi! Das...das darf einfach nicht passiert sein.“ In ihren Augen waren die widersprüchlichen Emotionen - die Angst, die Verwirrung, der Schreck - für Hitomi deutlich zu lesen. Hitomi senkte den Blick und meinte leise: „Doch,...es ist passiert!“
Jetzt betrachtete Nami ihre Schwester näher. „Was...was haben sie bloß mit euch beiden gemacht?!“ Hitomi wollte antworten, doch Toshi bat sie mit einem Blich zuerst etwas sagen zu dürfen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist alles in Ordnung. Das ist alles was du vorher wissen musst.“ Nami sah Hitomi an und die nickte lächelnd. Dann sah sie wieder Toshi an und der lächelte jetzt auch.
„Ich weiß, was du siehst...aber es ist alles in Ordnung. Er ist nicht hier um mich oder uns zu verhaften.“, fügte Hitomi jetzt noch hinzu.
„Wie...wie konnte das passieren?! Was ist schief gelaufen?!“
„Erklär’ ich dir gleich, aber ist mit euch alles in Ordnung?“
„Ja,... mit uns soweit schon. Wir haben uns nur große Sorgen um euch beide gemacht.“ Hitomi hörte den leichten Anflug von Schuld, der in der Stimme ihrer Schwester lag. „Ja,...aber alles ist gut, es ist gerade noch gut gegangen.“
„Das Landhaus, nicht wahr?!...Es gehörte Kubari. Ich hab in den Nachrichten gehört, dass es vollständig in Flammen aufgegangen sein soll. Ich bin hergekommen, weil ich geahnt habe, dass das etwas mit uns und eurem Verschwinden zu tun haben musste. Aber ich war mir nicht ganz sicher.“
Jetzt sagte Toshi: „Mich hatte er auch entführt. Na ja,...und dann ist es so gekommen, wie es eben gekommen ist.“
„Was ist da drinnen geschehen?“
„Rache. Er wollte Rache für damals, als wir ihm das Gemälde von Vater gestohlen hatten. Aber wir waren schneller als er.“, antwortete Hitomi ihr.
„Ich dachte es mir..! Und...und Toshi?! Wo kommst du in die Sache?“ „Ich glaube, wir müssen die ganze Geschichte erzählen.“ Genau so wie Toshi das gesagt hatte, taten sie es auch. Es dauerte eine kleine Weile, und Nami hörte zu - immer verblüffter und fassungsloser werdend.

Als sie schließlich fertig waren, lehnte sie sich leicht gegen die Wand zurück und meinte nach einer kurzen Weile: „Ich hatte schon geahnt, dass das nicht mehr lange so weitergehen konnte mit euch beiden. Irgendwann musste ja mal sowas passieren.“
Sie fragte leise und mit einem ernsten Ausdruck in den Augen: „Und wie wird es jetzt weiter gehen?“
„Wir sollten erstmal nach Hause kommen. Love, Chang und Herr Nagaishi werden sowieso schon einen riesigen Schrecken bekommen, wenn sie uns nur sehen...“
„Das ist es nicht, was ich gemeint habe. Wir können jetzt nicht mehr aufhören, sonst werden wir unseren Vater vielleicht niemals mehr lebend wieder sehen.“ Hilflosigkeit und auch Angst lag in ihrer Stimme, etwas, was für die raffinierte Pläneschmiederin ihres Teams relativ ungewöhnlich war. Sie lehnte immer noch an der Wand, den Blick erst auf den Boden, dann fragend auf ihre Schwester gerichtet.
Diesmal antwortete Toshi für Hitomi. „Ich weiß, dass es eine ziemlich gefährliche Gradwanderung werden wird. Ich bin ein Polizist, und ich beschütze die Diebe, die ich eigentlich fangen sollte. Früher hätte ich jeden von euch sofort verhaftet, wenn ich ihn in die Finger gekriegt hätte. Das hat sich geändert, seit wann, weiß ich auch nicht so genau. Aber eins weiß ich: ihr müßt weitermachen, ihr dürft jetzt nicht aufhören. Sonst riskiert ihr alles zu verlieren, wofür ihr die ganzen Jahre gekämpft habt, wofür auch euer Vater kämpft. Es ist wahr, es war ein ziemlich großer Schock für mich zu sehen, was ich mich all die ganzen Jahre zu sehen geweigert habe zu sehen. Aber ich kenne die Wahrheit jetzt, und ich sage euch eins: ihr gehört zu den Katzen, und die Katzen gehören zu euch. Und das dürft ihr nicht aufgeben. Ich werde euch helfen, wann immer ihr mich braucht. Nichts wird für mich eine schönere Belohnung für die Nächte sein, die ich hinter euch hergejagt bin, wenn ihr es tatsächlich glücklich zuende bringen könnt, wenn ihr euren Vater wirklich findet. Das ist alles, was im Moment wichtig ist.“
Nami richtete sich auf und fragte, mit Überraschung und Verblüffung in der Stimme: „Warum tust du das? Du könntest den größten Fang deiner Karriere machen, wenn du uns verhaftest. Und du riskierst mehr als nur deinen Job, indem du es nicht tust.“
Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er ihr leicht eine Hand auf die Schulter legte und sie ihn ansah. „Nami, meine Verlobte ist eine Katze und ist es die ganze Zeit gewesen. Ich habe euch die ganzen Jahre lang, wenn auch unwissentlich, Informationen über Polizeiaktionen gegeben. Allein dafür könnte man mich schon anklagen. Es wird alles Risiko wert sein, wenn ich euch glücklich sehen kann. Wenn ihr es schafft euren Vater zu finden. Genau deshalb dürft ihr jetzt auch nicht aufhören.“

Nami sah ihn immer noch an, und beide, Hitomi und Toshi, sahen das leichte Aufblitzen in ihren Augen und ein sanftes, obwohl noch etwas ungläubiges Lächeln legte sich um ihre Mundwinkel. Sie wussten, dass sie in Toshi in diesem Moment einen neuen Verbündeten gefunden hatten. Hitomi hätte selbst nicht glücklicher sein können, als sie ihn da stehen sah.
Es war etwas, an das sie sich alle gewöhnen mussten, und sie ganze Sache würde alles andere als einfach für sie alle werden. Doch es gab jetzt wieder eine Chance, eine echte Chance, dass am Ende doch noch alles gut ausgehen konnte.

Toshi wandte sich zu dem übrigen Teil des Raumes um, den er bis jetzt nicht beachtet hatte. Dort sah er im Halbdunkel all die Sachen, die die Katzen über Jahre hinweg gestohlen hatten.
Da waren Dutzende, die er auf den ersten Blick einer ganz bestimmten Situation zuordnen konnte. Das Gemälde, auf dem ein Zauberer in wunderschönem Gewand und einem langen weißen Bart abgebildet war. Der Zauberer schwang seinen Stab und daraus quoll magisches Licht und viele fröhliche, kleine Gesichter, wie die Gesichter von Kindern. Es war fröhlich, es war eines der schönsten von allen. Es war das Bild von der „Santa Maria“.
Auch die kleine Statue, die damals der erste Fall gewesen war, bei dem er mitgearbeitet hatte. Damals hatte er die Katzen auch zum ersten Mal wirklich aus der Nähe gesehen, und schon damals war er fasziniert von diesen Dieben gewesen.
Das hatte sich bis heute nicht geändert. Nur an diesem heutigen Tag hatte er die Chance erhalten, sie wirklich zu kennen, und er war mehr als dankbar für diese Chance.
Unbewußt stieß er einen leisen Pfiff aus bei dem Anblick, der sich ihm mit den hier gelagerten Kunstschätzen bot. Er drehte sich halb um und sah die beiden Schwestern jetzt nebeneinander stehen, ein leichtes Lächeln bei beiden. Er sah jetzt, wo er sie auf diese Weise betrachtete, wie sehr sie wirklich die Katzen waren. Nur die dritte im Bunde, ihre Schwester Love, fehlte noch. Dann wäre dieses Team komplett, obwohl er wusste, dass da mindestens noch einer sein musste, mit dem sie zusammenarbeiteten.

Sie blieben noch eine Weile in der Lagerhalle, aber schließlich verließen sie zu dritt den geheimen Raum, und Nami gab den Code für die Tür wieder ein, so dass sie sich geräuschlos schloß. Toshi konnte sich gut vorstellen, dass Love, als technisches Genie, diese Vorrichtung entworfen hatte. Er vermutete stark, dass die Jüngste im Bunde der drei auch für all die anderen technischen Raffinessen der Aktionen der Katzen verantwortlich war.

Als sie ins Freie traten, wurde es gerade hell. Einige Vögel zwitscherten und suchten über dem Wasser nach Futter. Die Sonne ging gerade eben über dem Horizont auf, noch war es ein etwas unwirkliches Licht, aber das änderte sich von Minute zu Minute. Es hätte eine perfekte Beschreibung seiner derzeitigen Situation sein können. Es war nur ein paar Stunden her, da waren sie einem Wahnsinnigen entkommen. Jetzt sah er die beiden Schwestern neben sich gehen, beide müde und erschöpft wie er auch, aber aufrecht und mit einer inneren Stärke. Nami war auf dem selben Wege wie sie vorhin zur Lagerhalle gekommen, also gingen sie den Weg zur nächsten U-bahn-Station zu Fuß.

Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen, es war aber immer noch empfindlich kalt und leichter Bodennebel lag schon über dem Rasen des Parks. Die Bäume fingen an ihr Laub zu verlieren, und die Blätter färbten schon Teile des Weges rotbraun.
Die beiden Frauen gingen nebeneinander den Weg entlang. Beide übermüdet und erschöpft, aber viel zu viel war in den letzten Stunden geschehen, als dass sie jetzt an Schlaf denken konnten. Sie hatten sich von Toshi ein paar Blocks vorher getrennt, er war zu seiner Wohnung gegangen. Er war mindestens genauso müde gewesen wie sie beide auch, und sie alle hatten noch eine ganze Menge zu verarbeiten. Es war so viel passiert, und sie mussten damit jetzt erst einmal klar kommen.
Der Park, durch den sie gerade gingen, lag in der Nähe ihres eigenen Zuhauses, aber an Schlaf war innerhalb der nächsten Stunden nicht zu denken. Love würde vermutlich in heller Aufregung sein vor Sorge um nun inzwischen ihrer beider Schwestern, und sie mussten ihr noch eine ganze Menge erklären. Nami trug ihre langen schwarzen Haare offen, sie fielen ihr sanft über die Schultern. Hitomi sah sie neben sich gehen, und sie ahnte, was sie dachte; sie kannte diesen Gesichtsausdruck bei ihr. Sie beide waren sich in vielen Dingen ähnlich, wenn auch längst nicht in allen.
„He, was ist los mit dir?“, fragte sie, obwohl sie sich die Antwort in ungefähr denken konnte. Sie merkte ihr an, dass sie sich große Sorgen um sie gemacht haben musste.
Jetzt sah die neben ihr Gehende sie von der Seite an und meinte, mit einem leichten Zucken um die Mundwinkel: „Weißt du noch, was du damals gesagt hast?! Du würdest es niemals so weit kommen lassen, weil du ihn dann verlieren würdest. Und jetzt...! Das alles ist ziemlich verwirrend. Ich schätze, es wird ein Weile dauern, bis wir uns alle an diese Situation gewöhnt haben werden.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihrer jüngeren Schwester. „Ja, es wird nicht einfach werden. Aber es wird funktionieren, das weiß ich.“
Plötzlich hielt Nami sie leicht an der Schulter fest, und sie beide blieben stehen. Eine Mischung aus Sorge und Schuldbewußtsein war in ihren Augen zu sehen. „Sie...sie hätten euch beinah umgebracht.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie leiser fort: „Hör zu,...es tut mir leid. Ich weiß,...wir hätten das nicht tun sollen. Wenn ich daran denke, dass sie dich und Toshi fast wegen uns umgebracht hätten.“
Hitomi sah ihr an, dass es ihr sehr ernst mit der Sache war und ließ sie weiterreden.
„Weißt du noch, was damals passiert ist, als sie dich entführt hatten ohne dass wir davon wussten?!...Ich habe daran gedacht,...und wenn sie dich tatsächlich unseretwegen...!“
Hitomi meinte lächelnd, während sie ihr leicht eine Hand auf die Schulter legte: „He,...ich bin immer noch deine Schwester, und das werde ich auch immer sein.“
Sie umarmten sich schweigend. Sie hatten sich nicht das erste Mal in die Haare bekommen, aber noch niemals hatte das so weitreichende Folgen gehabt wie jetzt. Aber in Wirklichkeit liebten sie sich doch, und sie söhnten sich wieder miteinander aus. Genauso wie sie das jetzt taten. Sie brauchten keine Worte mehr, sie verstanden sich auch so.

3. Verwechslungsmöglichkeiten

Donnerstag, 11. Februar 1988
Tokio, Japan

Es war eine relativ dunkle Nacht. Nur ein Teil des Mondes war zu sehen und auch die Sterne verschwanden beinah ganz hinter den Wolken, die von einem leichten Wind angetrieben über der Stadt dahinzogen. Es war eine Nacht, wie geschaffen für ihr Vorhaben. Besser hätte es gar nicht laufen können, ein leichtes Lächeln lag um ihre Mundwinkel.
Alles war gelaufen wie geplant, niemand hatte sie gesehen, und sie würde ihren Plan auch weiter verfolgen können, wie sie es geplant hatte. Die Wächter und Kameras bei Fukuoka Technologies waren leicht auszutricksen gewesen, obwohl sie nur alleine war. Sie mochte dieses Gefühl des Erfolges, auch wenn es nur ein vergleichbar kleiner Teil des Plans gewesen war, den sie verfolgte.
Sie lief über ein weiteres unbeleuchtetes Dach; nur noch ein paar Dächer mehr, und sie würde bei ihrem Motorrad sein. Schon ein paar hatte sie hinter sich, seit sie so ungesehen und unbemerkt aus dem Gebäude ausgestiegen war, wie sie vorher eingestiegen war. Sie hatte das bekommen, was sie gesucht hatte. Und das reichte ihr fürs erste.

Es konnte genau so gut sein, dass sie sich irrte, und dass sie heute Nacht nicht kommen würden. Aber unter den gegebenen Umständen ging Unterinspektor Assayah jedem noch so kleinen Hinweis nach, solange die Katzen immer noch frei rumliefen und ihre Diebstähle vor der Nase der Polizei verüben konnten.
Wenn sie es überhaupt vorhatten, dann würden sie es heute tun. Schon gestern nacht hatte sie auf der Lauer gelegen, doch niemand war gekommen. Sie konnte sich etwas schöneres vorstellen, als sich hier die Nächte um die Ohren zu schlagen, aber sie tat es gerne, wenn es ihr zumindest eine geringfügig größere Chance verschaffte, die Katzen endlich zu schnappen. Sie hatte weder ihre Kollegen, Vorgesetzten oder sonst jemanden von ihrem Vorhaben unterrichtet, und sie wusste, dass sie sich hiermit Ärger einhandeln konnte. Das war ihr egal, sie ging das Risiko ein. Sie war sich so gut wie sicher, dass die Katzen zumindest versuchen würden, heute nacht wichtige Informationen über die für Montag nacht angekündigte Aktion aus dem Hauptgebäude von Fukuoka Technologies zu holen. Denn dieses Forschungsinstitut hatte als einziger japanischer Beteiligter an dem hochentwickelten Computersystem mitgearbeitet, dass den Safe schützte, in dem das Gemälde aufbewahrt wurde. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass dieses Institut einen gewissen Reiz auf die Katzen ausüben würde. Zwar hatte man das Institut nicht von der Polizei überwachen lassen, weil ein Auftauchen der Katzen an diesem Ort zu unsicher gewesen war. Sie wollte sich nicht so einfach geschlagen geben, und deshalb lag jetzt ein befriedigtes Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie endlich kamen.

Sie hatte heute die entscheidende Chance bekommen, die sie gebraucht hatte. Es war zwar nur eine Gestalt, die sie erkannte. Aber sie hatten es doch getan, und jetzt würde zumindest eine von ihnen in ihre Falle laufen. Eine reichte schon. Denn dann hatten sie auch den Rest ihrer Gruppe. Und sie vermutete ganz stark, nein, sie wusste es beinah ganz sicher, dass sie - wenn nicht schon Hitomi selbst - doch wenigstens eine ihrer beiden Schwestern antreffen würde. Sie hatte sie nun schon so lange im Verdacht, obwohl sie in den letzten Monaten keinen direkten Anlaß dazu gesehen hatte. Doch sie vertraute weiterhin ihrem ganz eigenen Gefühl und Instinkt, dass mit den drei Schwestern etwas nicht stimmte, und sie ging diesem Verdacht auch weiterhin nach. Ganz gleich, was Detective Uzumi darüber denken mochte. Er war sowieso viel zu voreingenommen.

Assayah verschmolz beinah ganz mit der Dunkelheit, die schwache Lampe auf dem Dach erleuchtete nur einen geringen Teil, und hinter der Lichtgrenze war alles in schwarze Dunkelheit gehüllt. Sie hatte schon die ganze Zeit den Schatten, der sich mit gewandter Schnelligkeit über die Dächer bewegte, beobachtet. Zwar hatte Assayah immer noch nicht erkennen können, wer es nun definitiv war, aber das würde sie schon noch. Sie hatte sich so versteckt, dass die Katze an ihr vorbei musste, wenn sie wieder zu ihrem Motorrad wollte, es gab keinen anderen Weg. Sie würde kommen, und dann würde sie in der Falle sitzen...

Plötzlich trat sie direkt in den Lichtschein hinein und stand der Frau gegenüber. Sie hatte nicht wie üblich ihren Anzug an, sondern trug Jeans und eine Lederjacke. Es gab trotzdem keinen Zweifel, was sie hier tat. Assayah ließ die Waffe stecken, denn sie wusste, wer vor ihr stand. Es war Hitomi.
Sie stand vor ihr im Schein der Lampe, das lange, schwarze Haar fiel ihr über die Schultern, in der Hand eine Mappe mit irgendwelchen Dokumenten, die sie wahrscheinlich aus dem Institut gestohlen hatte. Die Augen zeigten ihr, wie erschrocken und überrascht die vor ihr Stehende war, aber die Augen waren auch irgendwie seltsam ruhig und von einer sonderbaren Kälte. Diese Kälte erschreckte sie ein wenig, aber nur im allerersten Augenblick.

Einige Sekunden standen sich die beiden nur schweigend gegenüber. Auch weiterhin ließ Assayah die Pistole im Halfter stecken, Hitomi würde nicht weglaufen. Denn sie musste wissen, dass es vorbei war, und dass es gar nichts nützte, wenn sie jetzt weglief.
Mit einem leichten Zucken um ihre Mundwinkel meinte die Polizistin: „Also doch. Also doch Sie, Hitomi. Ich wusste es, Sie haben es die ganze Zeit hervorragend verstanden, uns alle zu täuschen. Aber das ist jetzt vorbei. Sie wissen, dass ich Sie verhaften muß.“
„Sollte ich Sie kennen?“ Assayah hatte viele Antworten erwartet, aber nicht diese. Darum war sie in den ersten Sekunden auch sehr überrascht, aber dann durchschaute sie die Katze. „Hören Sie auf, Spielchen mit mir zu treiben, Hitomi! Sie wissen ganz genau, dass ich Sie verhaften werde. Sie haben vielleicht den Detective täuschen können, aber mich haben Sie nie hinters Licht führen können, so raffiniert Sie auch sein mögen.“
Hitomi’s Reaktion auf ihre Worte war anders, als sie es erwartet hatte. Sie hatte zumindest erwartet, dass die Erwähnung ihres Freundes etwas auslösen würde, aber das tat es nicht, oder nicht so, wie sie gedacht hatte. Hitomi blieb ganz ruhig und gelassen, sogar ein leichtes Grinsen legte sich jetzt über ihre Mundwinkel. Entweder hatte sie die Worte der Polizistin nicht richtig begriffen, oder sie war noch viel raffinierter und gerissener, als sie gedacht hatte. „Sie werden mich nicht festhalten.“
Mit diesen Worten legte sich ein noch viel teuflischeres Grinsen über ihr Gesicht, und plötzlich sprang sie hoch. Es war ein hoher Sprung, und mit einem Salto war sie ganz plötzlich direkt vor ihr. Das alles hatte sich in nur wenigen Zehntelsekunden direkt vor ihren Augen abgespielt, aber sie hatte erst realisiert, was geschah, als es schon viel zu spät war. Ein harter Schlag traf sie an die Stirn. Dann sah sie nur noch, wie ein Arm blitzschnell auf sie zugerast kam und sie mit Wucht in den Nacken traf.
Sie konnte nicht anders, sie ging sofort zu Boden. Der Schlag selber tat nicht besonders weh, aber er ließ sie wie eine Strohpuppe zusammensacken.

Zwar konnte sie sich schon wenige Sekunden danach wieder aufrichten, aber es war zu spät. Sie sah nur noch den Schatten von Hitomi in der Dunkelheit der Dächer verschwinden, keine Chance sie noch einzufangen. Ihr Nacken tat weh, und auf ihrer Stirn hatte der Hieb eine kleine, blutige Schramme zurückgelassen, aber darauf achtete sie nicht. Sie war immer noch viel zu überrascht von Hitomi’s Reaktion. Sie musste doch wissen, dass es zu spät war und Fliehen ihr nicht mehr das Geringste nützte. Vielleicht war es eine Art Panikreaktion gewesen, und in gewisser Weise konnte die Polizistin sie verstehen. Für sie und ihre Schwestern war das Spiel jetzt aus, die Katzen würden keinen einzigen Diebstahl mehr begehen...
Es tat ihr nur leid um Detective Uzumi, der erfahren musste, dass seine Freundin eine gesuchte Kunstdiebin war, wenn er von seinem Lehrgang zurückkehrte. Morgen würde sie die drei Schwestern und wer immer noch da mitdrinhängen mochte verhaften. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ sie das Dach.

Sie ging den gepflasterten Weg entlang durch den relativ kleinen Park, der aber immer noch sehr weitläufig war. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, aber es war immer noch hell genug, dass man ohne Straßenlampen etwas sehen konnte. Nicht mehr sehr viele Menschen waren noch auf den Wegen unterwegs, obwohl es erst kurz nach sieben Uhr war. Es war ein Freitag Abend, und sie freute sich darauf, endlich nach Hause zu kommen. Der Tag war ziemlich anstrengend gewesen, und die nächsten Tage würden nicht besser werden, obwohl Wochenende war. Sie war länger als sonst in der Uni gewesen, und jetzt waren es nur noch ein paar Schritte bis nach Hause. Nur Love würde dort sein, denn Nami war bis Dienstag mit Herrn Nagaishi in Kobe um dort Informationen über eine andere Aktion einzuholen. Sie selbst und Love waren derweil in Tokio geblieben, weil sie hier eine wichtige Aktion durchführen mussten, die sich absolut nicht verschieben ließ. Denn wenn die Aktion nicht wie geplant am Montag ablaufen würde, würde das Bild ihres Vaters für sie für lange Zeit unerreichbar werden. Das Gemälde befand sich in einem Hochsicherheitssafe in einem Museum, unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen, aber das war nicht das eigentliche Problem. Zuerst hatte sich nämlich der Safe als ernstes Problem erwiesen, weil man ohne das richtige Paßwort das Computersystem nur sehr zeitaufwendig knacken konnte. Leider kannte das Paßwort nur der Besitzer des Museums, selbst die Polizei erfuhr es erst an dem Tag, an dem die Katzen ihren Besuch angekündigt hatten.
Aber auch dieses Problem hatten sie gelöst, und Hitomi hatte ihre jüngere Schwester wieder einmal bewundert, sie war ein Genie auf ihrem Gebiet. Denn Love hatte noch einen ganz anderen Weg in den Safe gefunden, für den sie das Paßwort gar nicht brauchten. Der Safe und sein Computersystem waren von Menschen erbaut worden, also musste es irgendwo seine Schwachstellen haben, man musste sie nur finden. Toshi war auch nicht da, denn er war bis Sonntag Abend auf einem Lehrgang in Osaka.

Alles in allem würden Love und sie noch einiges zu planen und zu besprechen haben. Wenn sie die Aktion perfekt und ohne Fehler durchführen wollten, dann mussten sie sich genau aufeinander abgestimmt haben. So wie sie das immer taten, und sie durften auch niemals nachlässig damit werden, sonst liefen sie Gefahr, doch einmal von den Polizisten geschnappt zu werden.
Hitomi war in Gedanken versunken, während sie auf dem Weg entlangging. Kein anderer Mensch war in Sicht, als sie plötzlich abrupt stehenblieb. Denn eine Person war direkt vor ihr aus dem Schatten eines Baumes getreten. Erst war sie ziemlich erschrocken, und in diesem Zwielicht dauerte es eine Sekunde, bis sie die vor ihr Stehende erkannt hatte.
Für eine Sekunde standen die beiden sich nur gegenüber und sahen sich an. Assayah hatte eine kleine, blutige Schramme an der Stirn. „Die habe ich von Ihnen, Hitomi.“, begann sie, während sie auf ihre Schramme zeigte. Ihre Stimme war zwar ruhig, aber sie hatte einen Unterton, irgend etwas, das Hitomi sagte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Sie war total überrumpelt, sie hatte nicht die geringste Ahnung, was das hier zu bedeuten hatte. Deshalb schwieg sie erstmal und wartete, bis die Polizistin fortfuhr, was auch sofort danach geschah. „Ich weiß nicht, warum Sie gestern abend weggelaufen sind, aber es wird Ihnen nichts nützen. Und ich werde Sie verhaften, Katzenauge.“

Jetzt war es endgültig vorbei mit Hitomi’s Sicht, wie die Dinge in der Welt sein sollten. Etwas lief hier schief, und sie war viel zu verblüfft und überrascht, als das sie nur ein Wort über ihre Lippen bekam. Wovon redete die Polizistin? Endlich, nach endlos erscheinender Zeitspanne, in der keiner etwas gesagt hatte, fragte sie: „Wovon um alles in der Welt reden Sie?“
Für eine kurze Sekunde dachte Assayah wirklich, dass Hitomi absolut nicht wusste, was sie meinte, als sie in ihre Augen blickte. Doch dann erinnerte sie sich daran, wie raffiniert diese Frau sein konnte, und wie kaltblütig sie gestern Abend gewesen war. Nein, sie konnte sie nicht täuschen. Jetzt nicht mehr.
Sie trat noch näher auf die Studentin zu und sah ihr direkt in die Augen, als sie sagte: „Ich weiß, wen ich gestern auf dem Dach vor mir gesehen habe! Ich habe sogar mit Ihnen gesprochen! Mir machen Sie nichts mehr vor, ich werde Sie jetzt endgültig hinter Gitter bringen!“
Hitomi’s Gedanken rasten in ihrem Kopf. Sie wusste jetzt noch weniger, was Assayah meinte. Nur, dass die Polizistin jetzt entschlossener und sicherer denn je schien, sie zu verhaften. Das würde Sie nicht machen ohne Beweise. Aber was für Beweise? Auf was für einem Dach sollte sie gestern mit ihr zusammengetroffen sein? Sie konnte es definitiv nicht gewesen sein, sie war den ganzen Abend Zuhause gewesen.
„Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Ich war gestern Abend Zuhause.“ Hitomi wusste in dem Augenblick, in dem sie es sagte, dass Assayah ihr natürlich nicht glauben würde. Und auch ihre Schwester würde sie als Alibi nicht gelten lassen, denn sie verdächtigte ja sie alle drei.
„Sie lügen, Hitomi! Wir beide wissen das. Ich habe Sie gestern als Katze gesehen, keinen Meter von mir entfernt. Es hat doch keinen Sinn mehr, geben Sie endlich auf.“
Eine verdammt gefährliche Situation jetzt. Hitomi wusste, dass sie nicht auf diesem Dach gewesen war, aber Assayah schien sich ihrer Sache so sicher zu sein, dass sie etwas in der Hand haben musste. Und selbst wenn nicht, würde es zu verdammt unangenehmen Fragen kommen. Was sollte sie jetzt tun? Das wurde ihr jedoch abgenommen, denn sie hatte gar keine Chance irgend etwas zu sagen.
„Nein, sie lügt nicht!“ Plötzlich hörten sie eine Stimme über ihnen. Beide sahen wie erstarrt vor Schreck gleichzeitig nach oben. Erst sahen sie nur das dichte Geäst und Blattwerk des Baumes, aber dann sahen sie einen menschlichen Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste.

Schon eine Sekunde später stand die Person im Licht, und Hitomi erstarrte wie zu Eis. Im ersten Moment meinte sie alles in ihrem Denken und Wahrnehmen sei zu Eis erstarrt, als sie auf die Person blickte, die da vor ihr im Lichtschein stand. Sie konnte den Blick nicht abwenden, es war ganz unmöglich. Es war so, als würde sie ihr eigenes Spiegelbild vor sich stehen sehen.
Das...das konnte doch überhaupt nicht sein. Selbst ihre Gedanken stockten, widerwillig das zu akzeptieren, was ihre Augen ihr sagten. Unbewußt wich sie ein paar Schritte zurück, gebannt in dem Anblick. Sie war wie in einem Bann gefangen, und Tausende von Gedanken rasten durch ihren Kopf, obwohl die gebannte Stille nur einige Sekunden andauerte. Dann sprach die Person, und bei der Stimme erschrak Hitomi wieder - noch mehr als beim bloßen Anblick. Sie hatte keinen Blick und Gedanken mehr für Assayah, die direkt neben ihr stand.
„Ich war diejenige, der Sie gestern auf dem Dach begegnet sind, nicht sie.“, die Person zeigte bei den letzten Worten auf Hitomi. Diese Person sah Hitomi zum Verwechseln ähnlich. Es war so, als würde sie in einen Spiegel sehen. Und auch die Stimme war der ihren so ähnlich, dass sie unwillkürlich noch weiter vor ihr zurückwich. Auch Assayah war dermaßen erschrocken, dass sie - genau wie Hitomi - zurückwich.
„Was...was zum Teufel...!“, begann Assayah, ließ den Rest des Satzes aber unausgesprochen. Auch Hitomi fand nun ihre Sprache wieder, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie ihr das gelungen war. „Wer...wer sind Sie...?!“, fragte sie, aber ihre eigene Stimme klang ihr jetzt irgendwie fremd.
Die Person lächelte, es war eigentlich mehr ein Hochziehen der Mundwinkel. „Ich bin du.“ Jetzt fragte auch Assayah: „Verdammt,...was für ein Spiel spielen Sie hier mit mir?!“ Sie sah die beiden vor ihr stehenden nacheinander an, und schauderte unwillkürlich, als ihr erneut auffiel, dass die beiden sich praktisch glichen wie ein Ei dem anderen.
Die Person wandte sich jetzt der Polizistin zu und antwortete: „Das ist kein Spiel, Unterinspektor. Durchaus nicht. Weder ich, noch sie hat mit den Katzen etwas zu tun. Es war eigentlich mehr ein Versehen, und es hatte gar nichts mit den Katzen zu tun.“
Jetzt war es an Assayah die Mundwinkel ein klein wenig spöttisch hochzuziehen. Dann sagte sie: „Ach, kommen Sie! Das ist doch nur wieder ein Trick der Katzen um sich aus der Schlinge zu ziehen, weil ich Hitomi gestern auf dem Dach erkannt habe! Es würde mich nicht wundern, wenn Sie sich nur verkleidet hätten, vielleicht sind Sie sogar ihre Schwester.“
Die Person trat jetzt einen Schritt auf die Polizistin zu und sagte, mit einem leichten, warnenden Unterton in der Stimme: „Es tut mir leid, aber ich bin nicht mit ihr verwandt. Es mag wahr sein, ich war gestern auf dem Dach und habe etwas gestohlen, aber ich bin keine Katze, und sie ist das auch nicht. Es ist mir vollkommen egal, ob Sie mir das glauben oder nicht, weil Sie nämlich niemandem etwas beweisen können - außer mir, aber mich werden Sie nicht kriegen. Außerdem dürfte es ihren Chef überhaupt nicht erfreuen zu hören, wie Sie seinem Befehl zuwidergehandelt und auf eigene Faust das Gebäude überwacht haben. Das dürfte ihrer Karriere nicht gerade sehr einträglich sein.“ Assayah ballte die Hand zur Faust und meinte durch zusammengebissene Zähne: „Sie können mich nicht erpressen.“
Die Person zuckte leicht mit den Schultern und erwiderte gleichmütig: „Das ist mir egal. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass Sie nichts beweisen können.“ Mit diesen Worten trat sie noch einen schnellen Schritt auf Assayah zu, und im nächsten Augenblick brach die auch schon - von einem gezielten und harten Handkantenschlag ins Genick getroffen - zusammen. Hitomi’s Doppelgängerin ließ die Polizistin auf den Boden sinken, und wandte sich dann wieder Hitomi zu, die immer noch wie versteinert dastand. Die ganzen Ereignisse hatten sie so überrascht, dass sie im Moment zu nichts anderem fähig war.

Die falsche Hitomi trat jetzt dicht an sie heran und für einige Sekunden sahen sie sich nur wortlos an. Jetzt, da sie Zeit hatte ihr Gegenüber genauer zu betrachten, erschrak sie noch einmal über die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden.
Schließlich sagte die falsche Hitomi: „Ich habe gerade deinen Hals gerettet.“ Es war eine trockene Feststellung, ohne einen direkten Unterton darin, aber Hitomi spürte, dass eine gewisse Kälte in der Stimme mitschwang. Eine Art kalte, berechnende Proffessionalität, die nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihren Augen und ihrem gesamten Erscheinungsbild lag. Es war etwas Beängstigendes an dieser Frau, die vom Aussehen her ihre Zwillingsschwester hätte sein können.

„So wie ich das sehe, hast du mich erst in diese Situation gebracht.“, antwortete Hitomi mit ruhiger und kühler Stimme, und wunderte sich, wie sie das zustande brachte, denn sie war immer noch ziemlich perplex und verwirrt.
Wieder zuckten die Mundwinkel ihres Gegenübers ein wenig nach oben und sie antwortete: „Ihr Katzen seid tatsächlich genauso schlagfertig, wie man erzählt.“
Jetzt war es Hitomi, die einen Schritt auf ihre Doppelgängerin zutrat und fragte: „Wieviel weißt du über die Katzen?“
„Es reicht, wenn du weißt, dass ich weiß, dass du und deine Schwestern die Katzen seid. Aber ihr werdet sowieso noch von mir hören, und zwar schon sehr bald.“ Mit diesen Worten sprang sie mit einem plötzlichen und weiten Sprung ins Unterholz und war schon wenige Augenblicke später in der immer dichter werdenden Dunkelheit verschwunden.
Zuerst war Hitomi zu erschrocken um an eine Verfolgung zu denken, sie sah mit einem kurzen Blick zu Assayah, die immer noch reglos auf dem Boden lag. Ohne noch einen Gedanken zu verschwenden lief auch sie dann in das Unterholz hinein, obwohl sie wusste, dass sie keine große Chance hatte ihre Doppelgängerin in diesem Dickicht und in der Dunkelheit noch aufzuspüren.
Wirklich musste sie bald feststellen, dass es sinnlos war, sie würde sie nicht finden. Die falsche Hitomi war einfach verschwunden, die Dunkelheit hatte sie förmlich verschluckt. Und nachdem sie etwa fünf Minuten versucht hatte diese geheimnisvolle Person, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte, zu finden, gab sie die Suche auf. Sie würde sie jetzt nicht mehr entdecken können.

Aber als sie schließlich wieder zu dem Weg zurückkehrte, von dem sie gerade eben losgelaufen war, war von der Polizistin nichts mehr zu sehen. Sie spähte in alle Richtungen in die Dunkelheit, die immer mehr zunahm, obwohl überall Lampen die Wege erhellten. Doch von Assayah war keine Spur zu finden.
Einen Moment hielt sie inne und überlegte mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen, was für seltsame Dinge gerade um sie herum geschehen waren. Sie war so erschrocken wie lange in ihrem Leben nicht mehr, als sie plötzlich ihr eigenes Spiegelbild vor ihr auftauchen und mit ihr sprechen gesehen hatte. Die Sache war zwar verrückt, aber sie hatte ihre Doppelgängerin - denn nichts anderes konnte sie sein - lange genug gesehen, um sich sicher zu sein, dass das Ganze keine Halluzination gewesen war. Außerdem hatte Assayah sie genauso gesehen.
Kopfschüttelnd drehte sie sich dann um und ging weiter den Weg entlang nach Hause. Sie hatte ein verdammt ungutes Gefühl bei der Sache, und sie wurde auch das Gefühl nicht los, dass noch sehr viel mehr auf sie wartete. Auf diese Art sechsten Sinn konnte sie sich beinah immer verlassen, und es stimmte sie auch nicht ruhiger, dass ihr falsches Ebenbild scheinbar zunächst keine feindlichen Absichten gegen sie im Sinn gehabt hatte. In ihren Augen hat so ein merkwürdiger, kalter Glanz gelegen, dachte sie beunruhigt, während sie in Gedanken versunken den Weg verließ und durch ein Tor auf den Gehsteig der Straße hinaustrat. Von hier aus war es nicht mehr weit bis nach Hause. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie ihren Schwestern erzählen sollte, was sie gerade eben erlebt hatte. Sie würden ihr zwar glauben, weil sie ihr vertrauten, aber Hitomi wusste selbst, dass diese Geschichte ziemlich schwer zu glauben war.
Also, noch mal von Anfang an: da ist eine Polizistin, die dir und deinen Schwestern seit sie den Fall ‘Katzenauge’ bearbeitet auf den Fersen ist. Und die nur auf die geeigneten Beweise wartet, um ihre Verdächtigungen zu bestätigen. Und dann erwischt sie deine Doppelgängerin irgendwo auf frischer Tat, dann triffst du deine Doppelgängerin und sie verteidigt dich. Wahrscheinlich hatte sie nicht geplant von Assayah erwischt zu werden. Das klingt dann fast so, als wollte sie nicht, dass Assayah wegen ihr Beweise in die Hände bekommt, die die Katzen hinter Gitter bringen können. Aber wieso? Was für ein Interesse kann sie daran haben? Sie war beinah Zuhause, als sie mit ihren Überlegungen so weit war, aber sie musste einsehen, dass es im Moment nicht sehr viel brachte, sich diese Frage zu stellen, denn sie würde keine Antworten bekommen können. Jedenfalls nicht von alleine. Ihre Doppelgängerin hatte gesagt, dass sie wiederkommen würde, aber es gefiel Hitomi ganz und gar nicht, dieser Frau praktisch ausgeliefert zu sein, denn noch hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer sie war, was dahinter steckte, oder was die falsche Hitomi wollte.

Schließlich war sie Zuhause angekommen, sie fischte ihren Hausschlüssel aus der Jackentasche und schloß die Haustür auf. Sie konnte sich gut vorstellen, was für einen Schrecken ihre jüngere Schwester bekommen
würde, wenn sie ihr erzählte, was vorgefallen war.
Sie zog ihre Jacke aus und strich mit der anderen Hand sanft ihrer Katze Pfeil über das getigerte Fell, als die Katze um sie zu begrüßen schnurrend um ihre Beine strich. Danach stieg sie vorsichtig über das Fellbündel hinweg und wollte ihre Schwester suchen, sie musste mit ihr reden. Es konnte durchaus sein, dass sie in ihrer geheimen, unter dem Haus gelegenen, Werkstatt an irgend etwas bastelte, dass ihnen bei ihrer Aktion nützlich sein sollte.

Sie brauchte gar nicht erst zu suchen, denn ihre Schwester stand im Rahmen der Küchentür gelehnt und fragte, während sie eine Zeitung hochhielt: „Was hat das zu bedeuten, Hitomi?“ Es war eine Mischung aus Ärger, Verwirrung, Angst und Ratlosigkeit in ihrer Stimme, und als Hitomi die Schlagzeile auf der Zeitung sah, wusste sie warum. EINBRUCH BEI FUKUOKA TECHNOLOGIES stand da in dicken Lettern, und darunter - etwas kleiner - POLIZEI VERMUTET KATZEN HINTER DEM DIEBSTAHL.
Sie wollte etwas sagen, aber Love ließ sie nicht zu Wort kommen und fuhr fort: „Assayah ist vorhin hier gewesen und hat dich gesucht. Und sie hat mir gesagt, dass sie dich gestern nacht auf dem Dach nicht weit von diesem Institut gesehen hätte. Zwar nicht als Katze, aber sie sagte, sie würde beweisen, dass wir die Katzen sind.“
Dann war die Polizistin schneller gewesen, als sie vermutet hatte. Sie trat auf ihre Schwester zu, bis sie dicht vor ihr stand. Sie wusste nicht genau, wie sie ihr das erklären sollte, aber sie musste es versuchen. Also sagte sie: „Ich weiß,...aber das bin ich nicht gewesen.“ Sie wusste im selben Moment, in dem sie es sagte, dass dieser Satz mehr Fragen aufwarf als er beantwortete, und wirklich sah Love um so mehr verwirrter aus. Dementsprechend war auch ihre Stimme, als sie fragte: „Wer sollte es wohl sonst gewesen sein? Ich war es nicht, und Nami kann es auch nicht gewesen sein. Und ich glaube auch nicht, dass Assayah sich geirrt hat. Also, was ist dann passiert?“
Hitomi atmete tief ein und meinte, während sie ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte und sagte: „Ich kann das erklären, aber wir sollten uns besser hinsetzen. Die Geschichte ist verrückt genug.“

Als Hitomi fertig war mit erzählen und erklären, waren selbst die wenigen Sommersprossen in Love’s Gesicht bleich geworden. Erst sagte sie gar nichts, dann, mit einer Stimme, die ihr Erschrecken und ihre Überraschung deutlich zum Ausdruck brachte: „O Gott,...das glaube ich einfach nicht. Wie...wie kann jemand genauso aussehen wie du?! Das geht doch gar nicht!“
Hitomi schüttelte den Kopf und meinte: „Doch,...ich habe es selber gesehen, und Assayah auch. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist die Wahrheit.“
„Wenn...das stimmt,...wer war dann die Person, die hier war, kurz nachdem Assayah weg war?!...Du...oder deine Doppelgängerin?“ Erst sah sie Love verständnislos an, dann begriff sie. Ihre Doppelgängerin musste in der Zeit, in der sie an der Uni gewesen war, hier gewesen sein. Kein Wunder, dass Love sie nicht von ihrer echten Schwester hatte unterscheiden können, die Ähnlichkeit war einfach zu groß.
Sie wählte ihre Worte sorgfältig aus, denn sie wusste, wie ihre Schwester denken würde. „Das bin nicht ich gewesen.“
Plötzlich lag Mißtrauen auf Love’s Gesicht und sie fragte, indem sie ein Stückchen von Hitomi wegrückte: „Ja, mag sein,...aber woher weiß ich, dass du meine echte Schwester bist, und nicht selber die Doppelgängerin?!“ Sie hatte diese Frage erwartet, deshalb konnte Hitomi jetzt schnell darauf reagieren.
„Frag mich etwas, was nur die echte Hitomi wissen kann.“
Love brauchte nicht lange zu überlegen. „Also gut,...warum hat unser Vater unsere Mutter nur ein einziges Mal porträtiert?“
Hitomi lächelte. „Er hat gesagt, weil er nur ein einziges Bild brauchte, als Erinnerung, wenn sie mal auf Reisen ging. Er wollte das Original lieber viel öfter lebend, als auf eine Leinwand gebannt sehen.“
Jetzt zuckte ein Lächeln über Love’s Gesicht. „In Ordnung. Also diese Sache hätten wir geklärt. Aber wie geht es jetzt weiter? Du hast eine Doppelgängerin da draußen rumlaufen,...und Assayah wird diesmal garantiert nicht so leicht aufgeben.“
Hitomi nickte. „Ja, da hast du leider recht. Sie kann uns zwar nichts beweisen, zumal meine Doppelgängerin sie noch damit erpreßt, dass Assayah an dem Abend eine unerlaubte Überwachung durchgeführt hat. Aber sie ist noch nicht davon überzeugt, und es wird am Montag noch schwieriger für uns werden als es ohnehin schon ist.“
„Wo wir gerade dabei sind..., in der Zeitung steht, dass einige wichtige Informationen über das Sicherheitssystem des Safes gestohlen wurden, deshalb haben sie ja die Vermutung, dass die Katzen dahinterstecken.“
„Aber wir brauchen diese Informationen gar nicht, weil wir ja einen anderen Weg in den Safe gefunden haben.“, meinte Hitomi nachdenklich, und Love überlegte weiter: „Ja, aber vielleicht weiß deine Doppelgängerin von unserem Weg nichts, und will auf diese Weise an den Safe herankommen.“
„Aber die Sache ergibt noch keinen Sinn. Wenn sie wirklich hinter dem selben Gemälde wie wir her ist, dann muß sie dafür auf jeden Fall andere Gründe haben als wir. Und so wie ich das sehe, wird sie das Bild eher aus Profitgier stehlen wollen.“
„Oder um mit uns in Kontakt zu treten,...auch wenn das eine ziemlich seltsame Art ist.“, ergänzte ihre Schwester, aber Hitomi schüttelte den Kopf. „Nein, wenn es ihr nur darum ginge, dann hätte sie das auch einfacher haben können. Es steckt wahrscheinlich viel mehr dahinter, als wir zur Zeit ahnen können. Und ich denke, dass sie sich zumindest ein wenig hat operieren lassen, um die Ähnlichkeit mit mir noch besser hinzukriegen. Niemand kann einem Menschen auf natürliche Weise so ähnlich sehen, wie sie mir ähnelt. Nicht einmal du hast uns unterscheiden können.“

Als Hitomi sich noch einmal genau das Gesicht ihrer Doppelgängerin in Erinnerung rief - sie hatte sie immerhin eine ganze Weile im hellen Lichtschein einer Lampe gesehen - fiel ihr auf, dass einige winzige, sehr feine Operationsnarben am Kinn und an der Stirn zu sehen gewesen waren. Sie waren zwar schon relativ verblaßt, aber sie konnten trotzdem noch nicht sehr alt sein. Das würde diese Ähnlichkeit zumindest so weit erklären, aber es warf auf der anderen Seite noch viel mehr Fragen auf. Wer immer sie so operiert hatte, musste ein wahrer Profi sein, und die waren entsprechend teuer. Und wer immer hinter der Sache steckte, musste ein ganz erhebliches Interesse an der Sache haben, sonst hätte er sich diesen Aufwand nicht gemacht.
Denn dass es nur diese eine Person war, glaubte sie inzwischen nicht mehr, wer immer es war, es ging um sehr viel. Doch jetzt kam man zwangsläufig wieder zu der grundlegenden Frage, die im Moment keiner von ihnen beantworten konnte: was wurde mit dieser ganzen Sache bezweckt, und wer steckte dahinter?
Ein Verdacht regte sich in ihr, aber sie konnte auch genauso gut falsch liegen. Trotzdem, in den letzten Jahren hatte sie gelernt, ihren Instinkten zu vertrauen.

Leider konnten sie im Moment nichts weiter tun als warten und sehen, was passieren würde. Ihre Doppelgängerin würde sich wieder bei ihnen melden, und dann würde hoffentlich ein bißchen mehr Licht in diese ganze verworrene Angelegenheit kommen.
Und was Hitomi auch noch erhebliche Sorgen machte, war der Umstand, dass ihre Doppelgängerin wusste, dass sie drei die Katzen waren. Das hieß, sie konnte sie verraten, auch wenn Hitomi glaubte, dass sie das nicht im Sinn hatte. Es brachte sie alle in eine verdammt abhängige Position, und das mochte sie überhaupt nicht.
Love riß sie aus ihren Gedanken, indem sie fragte: „Moment mal,...wenn ich deine Doppelgängerin nicht erkannt habe,...was ist, wenn sie bei Nami, Toshi oder Chang auftaucht?!“
Daran hatte sie noch überhaupt nicht gedacht. Wenn nicht einmal Love sie erkannt hatte, wie sollte das den anderen gelingen?! Sie konnte damit wer weiß was für einen großen Schaden anrichten, so wie sie das - wenn auch wohl unbeabsichtigt - bei der Sache mit Assayah schon getan hatte.
„Du hast recht. Wir müssen sie erreichen, wenn meine Doppelgängerin tatsächlich bei ihnen auftauchen sollte, müssen sie wenigstens vorbereitet sein.“
Kobe und Osaka waren nun auch wieder nicht so weit von Tokio entfernt. Es bestand durchaus eine reelle Möglichkeit, dass die falsche Hitomi zumindest zu einem der drei kommen würde, warum auch immer. Aber natürlich mussten sie sie auch von dem Geschehenen unterrichten, die Sache war zu wichtig und zu gefährlich, als dass sie damit warten konnten bis sie zurückkamen.

Hitomi rief gleich nachdem sie sich mit Love abgesprochen hatte Herrn Nagaishi an, von dem sie die Nummer hatte. Er und Nami waren ja zusammen an der Sache dran, und natürlich musste auch er erfahren, was los war.
Sie erreichte ihn und sprach auch mit ihrer älteren Schwester. Die Reaktion der beiden war so, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Sie hörte Nami das Erschrecken deutlich an, und auch Herr Nagaishi schien ziemlich besorgt zu sein. „Es ist vielleicht besser, wenn wir zurückkommen.“, meinte er.
„Nein, ihr müßt das erst Zuende bringen, ihr könnt da jetzt nicht weg. Ich nehme an, dass sie es auf das selbe Bild abgesehen hat wie wir, aber da geht es um noch mehr, sonst hätte man sich nicht solche Mühe gemacht. Love und ich werden die Sache durchziehen, das schaffen wir schon.“
Nami meinte auf die Erwiderung ihrer Schwester: „Aber das könnte vielleicht noch viel gefährlicher werden, als wir alle jetzt ahnen können. Ich habe auch das Gefühl, dass noch viel mehr dahintersteckt.“
Hitomi lächelte, obwohl ihre Schwester das durchs Telefon natürlich nicht sehen konnte. „Macht euch keine Sorgen um uns, glaub mir, nachdem ich mein eigenes Spiegelbild mit mir sprechen gesehen habe, ist mir nicht danach zumute sie zu unterschätzen. Ihr werdet dort, wo ihr seid, viel mehr gebraucht als hier. Bringt das Zuende, das ist viel zu wichtig, als dass ihr das jetzt so einfach abbrechen könnt.“
Schließlich konnte sie die beiden doch überzeugen, und so einigten sie sich darauf, dass Hitomi ihnen alles berichten würde, was hier bis Dienstag wichtiges geschehen würde.

Danach versuchte sie auch Toshi über seine Handy-Nummer zu erreichen. Doch er schien sein Handy nicht bei sich zu haben, denn er meldete sich nicht. Sie musste es also später noch mal versuchen, aber sie hatte das Gefühl, je mehr Zeit verstrich, desto sicherer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass irgend etwas Unvorhergesehenes passierte.
Sie musste unbedingt mit Toshi reden, obwohl es recht ungewiß war, dass ihre Doppelgängerin tatsächlich bei ihm in Osaka auftauchen würde. Doch sie wusste, wenn es tatsächlich dazu kam, würde es selbst auch für ihn sehr schwierig sein, sie von seiner echten Freundin zu unterscheiden. Und sie schätzte ihr alter Ego klug genug ein, um genügend Ausreden parat zu haben.
Um so mehr beunruhigte es sie, dass sie ihn auch am Samstag morgen nicht erreichte. Entweder hatte er sein Handy tatsächlich Zuhause gelassen, oder er trug es während des Lehrganges nicht bei sich.

Doch sowohl der Samstag, als auch beinah der ganze Sonntag vergingen, ohne dass auch nur das geringste passierte. Toshi schien unerreichbar zu sein, es war einfach nicht möglich, ihn zu erreichen.
Auch ihre Doppelgängerin meldete sich kein einziges Mal mehr. Sowohl Love und ihr, als auch Nami und Herr Nagaishi in Kobe machte das erhebliche Sorgen. Hitomi haßte es in solcher Ungewißheit zu stecken und noch nicht einmal etwas dagegen unternehmen zu können.
Sie alle stimmten darin überein, dass sie die Aktion am Montag durchführen mussten, wie sie es geplant hatten. Und deshalb bereiteten sie an den beiden Tagen auch soweit alles dafür vor, und insofern lief auch alles nach Plan.
Die Sache mit Assayah war längst noch nicht vergessen, die Polizistin stellte jetzt mehr als je zuvor eine ernstzunehmende Konkurrenz und Bedrohung dar.
Obwohl sich Assayah am Samstag noch bei Hitomi entschuldigte, war die Lage nicht weniger gefährlich geworden. Denn Hitomi wusste sehr gut, dass Assayah nach wie vor der Überzeugung war, dass Hitomi und ihre Schwestern etwas zu verbergen hatten, und dass es etwas mit Katzenauge zu tun hatte.
Nur vorläufig schien sich die Situation in dieser Richtung etwas entschärft zu haben, zumal Assayah ihren Vorgesetzten und Kollegen nichts von dem Vorfall erzählen konnte, weil sie einer Anordnung zuwider gehandelt hatte. Doch das war nur vorläufig, und schon am Montag, wenn die Aktion über die Bühne gehen sollte, würde die Gefahr, die von der Polizistin für sie ausging, wieder da sein. Sie durften sich dann keinen einzigen Fehler erlauben, das konnte unter Umständen katastrophale Folgen haben.
Ihr Geschäft war eigentlich immer gefährlich, egal ob sie Polizisten oder Schwerverbrechern gegenüberstanden. Doch bei Assayah mussten sie besonders aufpassen, sie waren von ihr gewarnt worden, sie würde sie auch weiterhin im Auge behalten. Das war Hitomi zwar auch schon vorher klar gewesen, aber das machte die Sache nicht ungefährlicher.

Am Sonntag abend fuhr Hitomi dann mit ihrem Motorrad zum Hauptbahnhof, um Toshi dort abzuholen. Sie hatten das so abgesprochen, aber sie hätte es auch sonst getan. Sie wollte kein Risiko eingehen, und sie war sich so gut wie sicher, dass ihre Doppelgängerin jeden ihrer Schritte überwachte.
Es war schon recht kühl, eigentlich kühler, als es normalerweise um diese Jahreszeit war. Doch das war jetzt das geringste, was ihr Sorgen machte. Der Verkehr am Sonntag abend war zum Glück nicht so dicht, so dass sie mit ihrer Maschine recht gut durchkam. Doch auch jetzt dauerte es noch lange genug um sie unruhig zu machen. Sie würde zwar nicht zu spät kommen, aber das vertrieb die Sorgen nicht aus ihrem Kopf.

Dann kam sie endlich am Hbf. an. Doch sie kam gar nicht dazu von ihrer Maschine runterzusteigen. Denn was sie sah, ließ sie erstarren. Sie sah Toshi mit ihrer Doppelgängerin aus einem Seiteneingang kommen, nicht weit von ihr entfernt, aber keiner von beiden bemerkte sie, da sie halb im Schatten stand, wo der Lampenschein nicht hinkam.
Verdammt, sie war doch zu spät gekommen. Fahrplanmäßig musste der Zug früher angekommen sein, denn von der Zeit her war sie nicht zu spät. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle, sie durfte sie nicht aus den Augen verlieren. Sie konnte Toshi absolut keinen Vorwurf machen, denn immerhin hatte selbst ihre eigene Schwester sie nicht unterscheiden können. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Doppelgängerin mit ihm vorhatte, aber es konnte tausend Gründe geben, und sie durfte sie ihren Plan nicht durchführen lassen - wie immer der auch aussehen mochte.
Die beiden gingen auf ein Motorrad zu, dass zwar ihrem nicht ähnlich sah, aber Toshi wusste, dass sie mehrere hatten. Das würde also eine Verfolgung quer durch die Stadt werden, zum Glück war es inzwischen schon fast halb zehn Uhr, und der Verkehr hatte noch mehr abgenommen. Die beiden starteten die Maschine, und sie folgte ihnen vorsichtig in einigem Abstand. Sie durfte nicht zu unvorsichtig sein, sie konnte die Fähigkeiten ihres alter Ego noch nicht einschätzen, und es konnte leicht passieren, dass die andere Hitomi sie bemerkte.
Deshalb ließ sie immer einige Wagen zwischen sich und den beiden, gerade so, dass sie sie nicht aus den Augen verlor. Schon längst war es ganz dunkel geworden, aber in der Stadt merkte man das wegen der vielen Lichter nicht so deutlich. Und schon bald merkte sie, wohin die Fahrt ging. Sie war den Weg schon oft selbst gefahren, denn unten an den Docks des Containerhafens hatten sie ihre Lagerhalle, die sie zu dem extrem sicheren Versteck für die gestohlenen Kunstwerke ihres Vaters umgewandelt hatten.
Es konnte zwar durchaus möglich sein, aber Hitomi glaubte nicht, dass ihre Doppelgängerin von dem Versteck wusste, auch wenn sie nicht im geringsten wusste, wer diese Frau war, oder wie gut sie über die Katzen und ihre wirkliche Identität informiert war.

Sie fuhren eine wenig befahrene Straße nahe dem Wasser entlang, und tatsächlich war die Lagerhalle nicht mehr weit entfernt. Es wurde nun schwierig die beiden zu verfolgen, denn nur noch ganz wenige Autos fuhren hier um diese Zeit. Sie hielt sich immer möglichst am Rand der Straße und ließ so viel Raum wie möglich zwischen ihr und den anderen. In diesem relativ abgelegenen Teil des Containerhafens wurde nicht mehr sehr viel gearbeitet, schon gar nicht um diese Zeit. Sie kamen an vielen dunklen Lagerhallen und Gebäuden vorbei, die Straßenlampen standen in ziemlich großen Abständen direkt am Kai, auf dessen Straße sie jetzt fuhren.
Das Wasser glänzte dunkel und nur vereinzelt passierten sie Schiffe, die an den Kais lagen. Die wirklich großen Schiffe wurden an einem anderen Teil abgefertigt, deshalb waren das hier auch nur kleine Schiffe. Es war die perfekte Gegend gewesen um ihre Sachen zu verstecken, niemand würde hier nach den gestohlenen Kunstschätzen suchen.

Hitomi folgte den beiden vor ihnen bis auf das Gelände eines stillgelegten Verladebetriebes. Kein Mensch war zu sehen, nur vereinzelt verbreiteten Lampen ein grelles Licht, deren Schein aber auch nicht sehr weit reichte. Sie kannte das Gelände, es war von hier aus nur noch ein kurzer Weg bis zu ihrem Versteck.
Sie folgte den beiden nicht auf dem Motorrad auf das Gelände, das wäre vermutlich zu gefährlich geworden. Also stellte sie die Maschine in einer dunklen Ecke unweit der alten Verladungskräne ab. Die Gebäude, die zu dem Betrieb gehört hatten, standen schon eine ganze Zeit leer, und sie sollten demnächst dem Abriß zum Opfer fallen. Auch die alten Kräne hatte man stehen lassen, auch sie sollten verschwinden, aber die Stadt ließ sich Zeit mit dem Abriß.
Sie schlich sich durch die alten Anlagen, sie wusste in etwa, wohin sie sich wenden musste. Sie hatte die beiden zu den Kais gehen sehen, nachdem auch sie das Motorrad am Eingang hatten stehen lassen. Sie fragte sich, was ihre Doppelgängerin hier wollte, und vor allem, was für eine Rolle Toshi dabei spielen sollte.
Sie wurde unruhig, vielleicht war Toshi da ohne es zu ahnen in eine Falle gelaufen. Doch sie zwang sich zur Ruhe, sie musste jetzt vorsichtig sein. Auf dem ganzen Gelände waren nur ganz wenige Lampen, doch die Dunkelheit kam ihr jetzt zugute. Überall lagen noch alte Stahlträger, Seile, Trossen und rostiges Werkzeug herum, man hatte es bei der Schließung des Betriebes einfach liegen gelassen.
Schließlich stoppte sie abrupt. Sie sah die beiden in der Nähe einer Lampe am Kai stehen, das Hafenbecken nur wenige Meter von ihnen entfernt. Sie standen an einem Geländer, das das Land vom Rand des Hafenbeckens absperrte. Neben der dunklen Ecke, in der Hitomi stand, führte eine Stahltreppe nach oben, die zu einem Gerüst, einigen Verladekränen und anderen Anlagen führte. Auch diese Treppe lag im Dunklen, und von ihrer gegenwärtigen Position konnte sie die beiden nicht sehr gut beobachten. Von dort oben würde sie eine bessere Chance haben, also schlich sie sich über einen kleinen Umweg so leise wie möglich die Treppenstufen hinauf.

Als sie anhielt, war sie etwa vier Meter über dem Erdboden und konnte die beiden Personen, die am Rand des Hafenbeckens standen, gut sehen. Dabei blieb sie selbst ungesehen im Dunklen verborgen.
Sie sah, dass die beiden über irgend etwas zu reden schienen, aber sie konnte aus dieser Entfernung nicht hören, was sie sagten. Und Toshi schien überrascht zu sein, und ihre Doppelgängerin redete darauf noch eindringlicher auf ihn ein.
Doch plötzlich passierte etwas, was Hitomi den Atem stocken ließ. Toshi sah die Bewegung niemals kommen. Die andere Hitomi griff blitzschnell unter Toshi’s Jacke und zog seine Pistole aus dem Halfter. Gleichzeitig verdrehte sie ihm den Arm auf den Rücken, ehe er auch nur dazu kam an Gegenwehr zu denken. Mit der Waffe in der anderen Hand bedrohte sie den völlig Überrumpelten, indem sie ihm die Pistole hart unters Kinn hielt.
Ohne ihren Griff um seinen Arm zu lockern nahm sie die Handschellen aus seinem Gürtel, schloß die eine Schelle um das Handgelenk seiner noch freien Hand, die andere Schelle um einen Eisenstab des Geländers. Das alles war innerhalb nur ganz weniger Sekunden passiert, und Toshi hatte nicht den leisesten Hauch einer Chance gehabt.

Sie durfte nicht mehr länger warten, sie musste eingreifen. Wie aus dem Nichts kam die Karte, die wie ein Blitz auf ihr Ziel zuflog und die Waffe aus der Hand ihrer Doppelgängerin schlug. Die Pistole flog in weitem Bogen auf den Boden und war nun außer Reichweite. Die auf diese Weise Entwaffnete schrie leise auf und wirbelte herum, in die Richtung, aus der die Karte gekommen war. Dabei ließ sie Toshi’s Arm los, doch er blieb immer noch an das Geländer gekettet. Dann versetzte sie ihm einen Hieb in den Nacken, der ihn gegen das Geländer sacken ließ, ihn aber nicht richtig bewußtlos machte.
Hitomi zögerte keinen Augenblick mehr und sprang mit einem hohen Salto von der Treppe runter, sie hatte diesen Sprung schon ungefähr tausend Mal gemacht, und landete auch völlig sicher. Jetzt war sie nur wenige Schritte von ihrer Doppelgängerin entfernt und ging langsam auf sie zu.
Schließlich standen sie sich beide gegenüber, und als Toshi sie sah, stieß er einen leisen, erschreckten Schrei aus. Er starrte die beiden wie versteinert an, seine Reaktion war auch kein Wunder, er sah zwei Personen, die sich bis auf die Kleidung, die sie trugen, äußerlich durch nichts unterschieden.

Er schien zu keinem einzigen Wort zustande zu sein, aber im Moment musste Hitomi sowieso mehr auf ihr Gegenüber achten. Die falsche Hitomi lächelte, es war ein kaltes Lächeln, und sagte: „Gute Arbeit, ich hatte nicht gedacht, dass die Katzen wirklich so gut sind, wie man immer sagt.“
Hitomi hielt ihre Augen mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihre Doppelgängerin gerichtet und antwortete: „Ich habe keine Ahnung, wer du bist, oder was du von uns willst. Aber ich weiß, dass du ihn nicht bekommen wirst.“ Bei ihren letzten Worten deutete sie auf den etwas angeschlagenen und immer noch wortlosen Toshi.
Das Lächeln wich nicht aus dem Gesicht der anderen, sie beide bewegten sich jetzt im Kreis, ohne den anderen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Aber du irrst dich. Ich habe ihn schon längst. Und auch du wirst mich nicht daran hindern können, auch wenn du Katzenauge bist!“ In ihren Augen lag ein kalter Glanz, und automatisch spannte Hitomi ihre Muskeln an.
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Dazu mußt du erst an mir vorbei!“ Ihre eigene Stimme hatte sich verschärft, und sie hatte alle Sinne auf die andere gerichtet, die jetzt auch ihre Muskeln anzuspannen schien. Hitomi wusste, dass es zu einem Kampf kommen würde.
Jetzt sagte die andere: „Dann fang schon an zu kämpfen, sonst muß ich es tun!“ Hitomi sagte oder tat aber nichts, sondern zog nur die Augenbrauen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, auf was sie vorbereitet sein musste, es konnte sein, dass die andere besser war als sie.
Und dann machte die andere plötzlich einen kurzen Schritt nach hinten und sprang dann im nächsten Augenblick mit einem Salto hoch in die Luft und ließ ihr Bein dann zu ihr hinunterrasen. Doch Hitomi reagierte schnell genug um ihr sicher durch einen Flickflack rückwärts auszuweichen. Danach standen die beiden sich wieder genau wie vorher gegenüber, und die andere meinte, mit einer Spur Anerkennung darin: „Du bist gut, nicht sehr viele können diesem Kick ausweichen.“ Mit diesen Worten zog sie ein Springmesser aus der Tasche und ließ es aufschnappen. Damit kam sie auf sie zu, das Messer zum Zustechen bereit.
Hitomi wich ein paar Schritte zurück, zog dann blitzschnell eine Katzenkarte aus ihrer Tasche und schmetterte ihr damit die Waffe aus der Hand.
„Ich bin nicht allzu scharf darauf, Blut zu sehen...!“, knurrte sie dabei drohend. Doch die andere hatte sich schnell wieder gefangen und startete einen neuen Angriff. Hitomi konnte der Faust zwar ausweichen, aber gleichzeitig merkte sie, wie ihr der Boden praktisch unter den Füßen weggezogen wurde. Sie stürzte zu Boden, konnte sich aber schnell genug abrollen um einem neuerlichen Angriff auszuweichen. Jetzt erst wurde ihr bewußt, was die andere getan hatte. Sie hatte mit einem Fuß ihre Füße weggefegt. Doch zum Nachdenken kam sie jetzt nicht mehr.
Ihre eigenen, jahrelang von Chang und von den Aktionen als Katze trainierten Reflexe reagierten, und sie schlug der anderen die Faust ins Gesicht, so dass die zurücktaumelte. Doch schon gleich darauf warf sich die andere ihr mit voller Wucht entgegen, so dass sie sie beide zu Boden riß.
Hitomi packte dabei die andere am Kragen und schmiß sie noch im Fallen über sich rüber. Gleich darauf waren sie beide wieder auf den Beinen. Hitomi hatte jetzt keine Zeit, auf Toshi zu achten, sie konnte ihm im Moment sowieso nicht helfen.

Der Kampf zog sich über die Treppe und ein Gerüst bis auf die Verladeplattform eines Kranes hin. Beiden sah man die Spuren des Kampfes an, Hitomi spürte das Blut an ihrem Mundwinkel herablaufen, und auch die andere hatte Blut im Gesicht. Sie waren beide ungefähr gleich gut. Sogar darin sind wir gleich!
Sie hielten beide inne, Hitomi stand mit dem Rücken zum Rand der Plattform hin, die nicht durch ein Geländer abgetrennt war. Von da ging es ziemlich tief runter, ungefähr 25 Meter ins schwarze Wasser, dass sich jetzt direkt unter ihnen befand. Sie atmeten beide schwer. Es war ziemlich unheimlich gegen ihr Ebenbild zu kämpfen, aber sie ließ all diese Gedanken jetzt außen vor. Sie musste sich konzentrieren, denn die andere würde jede Schwäche, die sie zeigte, gegen sie verwenden.
Doch im Moment stand auch die andere nur da und sah sie an, die Augenbrauen zusammengezogen. Eine kleine Weile sahen sie sich nur schweigend an, dann fragte die andere plötzlich: „Beantworte mir eine Frage: Warum stehlt ihr immer nur Bilder eines Malers, warum immer nur die von Heintz?“
Hitomi war einigermaßen überrascht, sie hatte gedacht, dass die andere auch darüber Bescheid wusste. Irgend eine Stimme in ihr sagte ihr, dass sie es ihr sagen sollte.
„Weil Michael Heintz unser Vater ist, deshalb!“
Für einen Moment stockte die andere. Sie war überrascht, schien sogar ein wenig betroffen zu sein. Schließlich sagte sie: „Dann tut es mir leid!“ Und mit diesen Worten sprang sie mit einem unglaublichen Sprung aus dem Stand direkt auf sie zu.
Hitomi sah nur den Schatten auf sich zukommen, und sah auch das ausgestreckte Bein, das direkt auf ihren Kopf zielte. Der Kick würde tödlich sein, das war ihr sofort klar. Sie sah die andere wie in Zeitlupe auf sich zurasen. Ihre Reflexe reagierten sofort automatisch, sie hechtete zur Seite und landete hart auf dem Stahl der Plattform. Sie spürte den harten Luftzug an ihrem Kopf. Nur ganz knapp verfehlte sie der Hieb, der ihr das Genick gebrochen hätte, wenn sie nicht gerade noch ausgewichen wäre.
Sofort nach ihrer unsanften Landung drehte sie schon den Kopf, bereit einem neuen Angriff auszuweichen. Dazu kam es nicht mehr. Ihre Doppelgängerin hatte damit nicht gerechnet, sie konnte ihren Körper nicht mehr abfangen. Dann stürzte sie schreiend über den Rand der Plattform und verschwand in der Tiefe.

Augenblicklich war Hitomi wieder auf den Beinen und hechtete zum Rand. Sie hörte aber nur noch den Körper weit unter sich in das schwarze, dunkle Wasser schlagen, danach war die andere verschwunden und alles war still...
Hitomi spähte wie gebannt in das Dunkel, aber es rührte sich nichts mehr, kein Laut außer dem entfernten Rangieren eines Kranes und dem Kreischen einiger Möwen. Nichts außer der dunklen Wasseroberfläche war dort unten zu sehen. Schließlich wandte sie sich mit einem Schaudern ab, es konnte durchaus sein, dass man einen solchen Sturz nicht überlebte. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie verdammt hoch das hier war, es hätte sein können, dass sie sich hier beide umgebracht hätten.
Sie wandte sich der Treppe zu, die zu einem Gebäudedach führte, über das sie auch hier rauf gekommen waren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass keiner von ihnen beiden ernsthaft gestürzt war, bis gerade eben.
Sie musste jetzt erst runter und Toshi von seinen Handschellen befreien, sie musste ihm auch sicher einiges erklären. Sie stieg Treppenstufen hinunter, bis sie wieder unten auf sicherem Boden angekommen war.

Sie eilte gleich zu der Gestalt hin, die immer noch am Geländer angekettet war. Er war von dem Schlag immer noch ziemlich benommen und sah blinzelnd zu ihr auf, als sie die Schlüssel aufhob, die die andere hatte fallen lassen. Sie trat damit auf ihn zu, und während sie die Schellen löste, fragte er: „Welche von beiden bist du...?!“ Sie hörte ihm deutlich den tiefen Schrecken an, und auch seine Augen sahen sie zutiefst erschrocken an. Während sie ihm auf die Beine half, sagte sie beruhigend: „Keine Sorge, ich bin die Echte.“
Sie fuhr ihm leicht mit einer Hand über die Stirn, als sie leise hinzufügte: „Ich weiß, die ganze Sache klingt ziemlich verrückt, aber ich bin nicht sie. Ich werd’s dir später erklären.“ Er sah sie mit einem langen Blick an, dann nickte er und sagte: „Ich...ich glaube dir. Aber...aber, verdammt, was zum Teufel ist dann überhaupt hier los?! Wenn sie nicht du ist,...wer ist sie dann?!“
„Sie ist meine Doppelgängerin.“ Er sah sie mit einem erschrockenen und verwirrten Ausdruck in den Augen an, und sagte dann mit einer Stimme, die genau dasselbe ausdrückte: „Was?!...Das...das kann doch gar nicht.“
Sie unterbrach ihn, indem sie sagte: „Ich verspreche dir, ich werde es dir erklären, aber wir müssen sie jetzt erst suchen. Sie ist von einer Plattform ins Wasser gestürzt, aber ich konnte von da oben nicht genau sehen, wohin sie gefallen ist. Wir müssen zumindest nachsehen, ich weiß nicht, ob sie den Sturz überlebt hat.“ Jetzt war er noch mehr verwirrt, als er es vorher gewesen war, aber er zeigte auf das Wasser, ein Stück weiter links neben ihnen. Dabei meinte er: „Ich habe jemanden von oben ins Wasser fallen sehen, ungefähr da.“ Beide gingen in die Richtung, und er fügte noch hinzu: „Verdammt, ich habe gedacht, dass du das gewesen bist.“ Seine Stimme verriet seine Angst, die er gehabt hatte. Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und meinte lächelnd: „Sie ist nicht ich, sie sieht nur genauso aus wie ich.“
Bei der Stelle angekommen, die er gerade eben beschrieben hatte, spähten beide über den Rand der Kaimauer ins dunkle Wasser, doch sie konnten auch nach genauem Hinsehen nichts entdecken, nicht die kleinste Spur.

Nach kurzer Zeit gaben sie die Suche auf, es war alles ruhig und kein Mensch außer ihnen war hier. Toshi wandte sich dann Hitomi zu und fragte: „Kannst du mir jetzt vielleicht mal erklären, was hier eigentlich läuft?!“
Sie erzählte ihm, was sich seit Freitag abend zugetragen hatte. Als sie fertig war, sah er sie für einen Moment noch verwirrter als vorher an, dann schüttelte er nachdenklich den Kopf und meinte: „Das hätte verdammt schief gehen können. Wenn Assayah vorher nicht schon mißtrauisch war, dann ist sie es jetzt ganz sicher. Aber was mir nicht klar ist: was wollte diese Doppelgängerin eigentlich von euch?!“
„Das wissen wir eben auch nicht, aber es würde schon helfen, wenn du mir sagst, was sie von dir wollte.“
„Sie sagte am Bahnhof etwas davon, dass sie mir etwas zeigen wollte, und ich habe sie nicht gefragt was, weil ich dich schließlich kenne. Zumindest dachte ich das, bis sie mir den Arm auf den Rücken verdrehte. Sie wollte von mir das Paßwort für den Safe erfahren, und sie hat mir nicht geglaubt, als ich gesagt habe, dass ich es auch erst morgen erfahre.“
Also hatte ihre Doppelgängerin doch nicht so genau Bescheid gewußt, wie sie gedacht hatten. Zumindest hatte sie nicht geglaubt, dass Toshi das Paßwort wie die anderen Polizisten auch erst morgen erfahren würde. „Aber es kann ihr nicht allein um das Paßwort gegangen sein, wegen eines einzelnen Bildes macht man sich nicht so viel Aufwand. Da steckt noch mehr dahinter.“, meinte nun Hitomi nachdenklich.
Er sah sie jetzt ein wenig besorgt an und meinte: „Aber wenn sie tatsächlich noch lebt, wird sie vielleicht morgen trotzdem versuchen an das Bild eures Vaters heranzukommen, auch wenn sie das Paßwort nicht hat. Seid bloß vorsichtig, sie könnte euch in die Quere kommen.“
Jetzt lächelte sie und meinte: „Mach dir keine Sorgen, wir werden schon vorsichtig sein. Aber du hast recht, man sollte sie wirklich nicht unterschätzen, sie ist ziemlich gut.“ Ein Lächeln legte sich auch über sein Gesicht, als er darauf meinte: „Sie ist dir ähnlicher, als du zugeben willst. Dich sollte man auch nicht unterschätzen. Und ich weiß ganz genau, wovon ich rede, Katzenauge...!“
Er strich ihr sanft eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn und küßte sie, sie legte ihre Hände um seinen Nacken und erwiderte den leidenschaftlichen Kuß. Dann ließ sie ihn mit einem Lächeln wieder los und meinte: „Komm, wir sollten nach Hause fahren. Love macht sich bestimmt schon Sorgen.“
„Aber was ist mit ihr?“, fragte er, während er hinter sich aufs Wasser deutete. „Wir können im Moment nichts tun. Wenn sie wirklich tot ist, wird man sie finden. Das wird dann zwar einige unangenehme Fragen geben, aber das können wir nicht ändern.“
Er nickte zustimmend, hob seine Dienstwaffe vom Boden auf und steckte sie zurück in sein Halfter. Dann verließen beide das menschenleere Gelände. Während sie zu ihrem Motorrad gingen, fragte Hitomi ihn: „Wo hattest du eigentlich dein Handy gelassen, ich habe versucht dich in Osaka zu erreichen.“
Er zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern und meinte: „Ich hatte es den größten Teil der Zeit gar nicht bei mir. In dieser Beziehung bin ich wohl kein sehr profihafter Polizist, oder?!“
„Aber dafür in allen anderen Bereichen.“, meinte sie lächelnd und fügte noch hinzu: „Obwohl du uns nie wirklich erwischt hast.“ Ein leicht schelmisches Grinsen lag bei ihren letzten Worten um ihre Mundwinkel. Er nahm seine Handschellen aus dem Gürtel und ließ die Schellen vielsagend gegeneinander schlagen, dabei meinte er ebenfalls grinsend: „Aber jetzt könnte ich es tun. Immerhin habe ich dich sozusagen in flagranti erwischt.“
Sie schlug ihm leicht einen Ellbogen in die Seite und meinte lächelnd: „Ich hoffe, ich muß jetzt nicht vor dir weglaufen, damit du mich nicht einsperrst.“ Seine Züge wurden ernster, als er antwortete: „Nein, jetzt nicht. Aber morgen wirst du es tun müssen.“
Ja, morgen würde sie als Katze vor ihm stehen und nicht als seine Freundin, zumindest nicht seinen Kollegen gegenüber. Denn natürlich wussten sie beide und ihre Schwestern, wie sie wirklich zueinander standen, aber niemand sonst durfte je davon erfahren, sonst war es nicht nur um die Katzen geschehen, sondern auch um seine Freiheit. Und das durften sie alle nie vergessen. Sie mussten höllisch aufpassen, noch dazu, wo sie jetzt Assayah noch stärker im Genick hatten als vorher.
Doch sie wussten alle, dass sie der Wahrheit um ihren Vater und sein Verschwinden so nah waren wie noch niemals zuvor, und sie mussten sich beeilen um Berger und damit vielleicht auch ihren Vater endlich zu finden, sonst konnte es schon zu spät sein.
Denn es schien fast so, je mehr Zeit seit jenem Tag 1981 verging, desto dünner wurde die Spur, die zu dem Grund um sein Verschwinden und damit auch zu ihm selbst führte. Sie waren sicher, dass er noch lebte, aber allzu viel Zeit um ihn zu finden blieb ihnen nicht mehr. Berger wollte - so schien es - nicht mehr viel Zeit verschwenden. Auch wenn es jetzt schon so lange her war, seit sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte, wusste sie ganz genau, dass sie ihn finden würden. Nur mussten sie ihn lebend finden, diese Chance wurde zwar mit jedem Bild und jedem Hinweis, den sie erhielten, größer, aber auch die Zeit wurde mit jedem Tag knapper.

Diese Gedanken spukten innerhalb weniger Sekunden durch ihr Gehirn, doch Toshi sah ihr genau an, was sie dachte. Auch er wusste, dass den Katzen nicht mehr sehr viel Zeit blieb. Er versuchte ihnen zu helfen, wo er nur konnte, und nichts würde für ihn mehr Belohnung sein, wenn sie es wirklich schaffen würden. Wenn sie ihren Vater wirklich finden würden und die ganze Sache mit Katzenauge endlich beenden konnten. Es war ein verdammt gefährliches Spiel, das die drei Schwestern da spielten, aber er wusste inzwischen, dass es schon seit vielen Jahren kein Zurück mehr gab.

Als er noch einmal genauer darüber nachdachte, erschrak er noch einmal, wie sehr er seine Freundin hatte verwechseln können. Er hatte gedacht, dass sie absolut unverwechselbar war - und er dachte das immer noch. Doch es war erschreckend, wie perfekt diese andere Frau Hitomi hatte kopieren können, nicht nur im Aussehen, sondern auch in der Sprache, dem Gang, der Haltung oder allem anderen.
Aber vielleicht nicht diesen leichten anderen Klang der Wörter, den sie manchmal - meistens ganz unbewußt - in ihre Stimme mit hineinlegte. Früher war ihm das nie aufgefallen, und es konnte auch keinem auffallen, der nicht wusste, um was es sich handelte. Es rührte von ihrer teilweisen deutschen Herkunft her, denn obwohl sie in Japan aufgewachsen war, hatten sie und ihre Schwestern bis zum Verschwinden ihres Vaters noch oft mit ihm deutsch gesprochen. Die drei sprachen untereinander zwar seitdem nicht mehr so häufig in der Landessprache ihres Vaters, aber sie hatten es dennoch nicht verlernt.
Es war manchmal schon komisch - und auch seltsam - was ihm an dieser Frau, die er gemeint hatte so gut zu kennen, auffiel. Was sie ausmachte, wer sie wirklich war. Und dann fragte er sich immer wieder, wie er so blind hatte sein können - und auch hatte sein wollen, das doch eigentlich Offensichtliche nicht zu sehen. Es kam manchmal vor, dass er sie ansah und feststellte, dass sie es wieder geschafft hatte, ihn total zu überraschen. Es war wie eine Entdeckungsreise, die von Tag zu Tag neu begann. Natürlich kannte er sie jetzt schon sehr, sehr gut, obwohl er wusste, dass es noch einiges gab, das er nicht wusste.
Er vertraute ihr so vollkommen, wie er noch niemals einem anderen Menschen vertraut hatte, und sie wusste das.

Gleich darauf saß er hinter ihr auf der Maschine, während sie durch den abendlichen Verkehr fuhren. Sie hatte bei dem Kampf mit ihrer Doppelgängerin auch einiges einstecken müssen, und es war wieder geradezu erschreckend, wie sich diese beiden Personen glichen, selbst in ihren Fähigkeiten. Er war immer noch ziemlich verwirrt, obwohl Hitomi ihm ja erzählt hatte was während der letzten Tage hier vorgefallen war. Er konnte sich gut vorstellen was das für einen Schrecken für sie bedeutet haben musste, als sie urplötzlich ihrem fast perfekten Spiegelbild gegenübergestanden hatte. Sie hatte jetzt sogar mit ihr einen ziemlich heftigen Kampf ausgefochten, auch wenn sie am Ende gewonnen hatte. Doch wenn die andere so gut war, wie Hitomi gesagt hatte, hätte es auch anders kommen können.

Es war so, wie sie erwartet hatten. Love war in heller Aufregung, als sie ihre Schwester mit Toshi zur Tür hereinkommen sah. Sie hatte über den Sender, der immer an jeder ihrer Maschinen angebracht war den Standort des Motorrades orten können, und den Weg, auf dem Hitomi ihre Doppelgängerin quer durch die Stadt verfolgt hatte.
Als sie hörte, was passiert war, zog sie besorgt die Augenbrauen zusammen, und Hitomi wusste, dass sie sich mindestens genauso große Sorgen machte wie sie selbst. Es paßte alles absolut nicht ins Bild, vor allem, weil die entscheidende Fragen ungeklärt geblieben waren. Wer war die Doppelgängerin, warum war sie hier und wer steckte noch hinter dem Ganzen?
Sie hatten keine Ahnung ob sie lebte oder bei dem Sturz umgekommen war. Und wenn sie tatsächlich noch lebte, was würde sie jetzt tun? Sie würde doch nicht einfach nur so herumsitzen und gar nichts tun, jetzt wo ihr vordergründiges Vorhaben gescheitert schien. Doch Hitomi hatte immer mehr das Gefühl, dass die Leute der Gruppe, oder zumindest ihre Handlanger, ihre Finger im Spiel hatten. Weswegen wusste sie nicht, vielleicht waren sie ihnen zu dicht auf den Pelz gerückt. Und das würde bedeuten, dass sie dichter an der Lösung und am Ziel dran waren als sie gedacht hatten. Es war zwar nur eine Vermutung, und sie wusste nicht, ob sie diese plötzliche Aktion der Leute - wenn sie es tatsächlich waren - freute oder sie eher erschreckte.

Später am Abend dachte Hitomi noch einmal über alles nach, was passiert war. Toshi hatte sich verabschiedet, nachdem sie einen Plan für morgen abgesprochen hatten. Sie wusste, dass er sie nicht gerne allein ließ, weil er sich Sorgen um sie machte. Ihm war nur zu gut bewußt, in was für eine Gefahr sie sich zusammen mit ihren Schwestern bei jeder einzelnen Aktion begab. Er wusste auch genauso gut, dass sie damit fertig wurden, selbst wenn es gefährlich war.
Doch das hier war etwas anderes, es war eine andere Art von Gefahr. Sie war dunkler, geheimnisvoller, und damit auf ihre Art gefährlicher als alle anderen Gefahren, denen sie bisher gegenübergestanden hatten. Diese Doppelgängerin war an sich schon ein einziges Rätsel, und die Leute, die vermutlich hinter ihr standen, waren äußerst skrupellos.

Eine ganze Weile saß sie so da und rief dann ihre Schwester und Herrn Nagaishi in Kobe an um ihnen die neusten Ereignisse mitzuteilen. Auch deren beiden Reaktionen waren so, wie sie es erwartet hatte. Es war eigentlich auch nicht schwer gewesen sich die Reaktion auf solche Ereignisse vorzustellen, zumal Hitomi die beiden nun sehr gut kannte.
Die beiden waren noch nicht fertig in Kobe, die entscheidenden Informationen über die nächste in Aussicht gestellte Aktion fehlten noch, schienen aber ganz nah in Reichweite zu sein. Aber sie würden nicht vor Dienstag wieder in Tokio sein können, wenn sie die Sache noch zu Ende bringen wollten. Obwohl alle - besonders Nami, die sich große Sorgen um ihre jüngeren Schwestern machte - nicht glücklich waren mit der Entscheidung, kamen sie überein, dass es alles so verlaufen sollte, wie sie es geplant hatten.

Am selben Abend noch lag Nami auf dem Bett ihres Hotelzimmers in Kobe und dachte über das nach, was ihre jüngere Schwester ihnen am Telefon gesagt hatte. Der Tag war ziemlich anstrengend verlaufen, sie hatten den halben Tag das Ziel beobachtet und die andere Hälfte des Tages damit zugebracht, einen Plan auszuarbeiten.
Ihre Schwester hatte also einen ziemlich heftigen Kampf mit ihrer eigenen Doppelgängerin gehabt, und sie hatte gewonnen. Doch es hätte auch anders kommen können, und unter Umständen sah die Doppelgängerin ihrer echten Schwester so ähnlich, dass der Unterschied dann noch nicht mal jemandem sofort aufgefallen wäre. Das war ein reichlich makaberer Gedanke, aber er barg auch eine gewisse Ironie in sich. Sie machte sich längst nicht so viele Sorgen darum, ob sie das Gemälde ihres Vaters bekommen würden, sondern eher darum, dass etwas gewaltig schief laufen konnte, und dass ihre Schwestern in einer Gefahr waren, die sie alle noch nicht einmal erahnen konnten.
Diese Doppelgängerin könnte von den Leuten geschickt worden sein um...was auch immer zu tun oder zu beobachten. Entweder war sie jetzt wirklich tot und hatte ihren Auftrag nicht mehr ausführen können, oder sie lebte noch, und dann konnte es unter Umständen zu verdammt ernsten Schwierigkeiten kommen. Und die konnten sie noch nicht einmal abschätzen, weil sie alle immer noch keine Ahnung hatten um was es hier eigentlich ging.
Die Sache jetzt hatte Ähnlichkeit mit der Sache um Katzenauge und das Verschwinden ihres Vaters überhaupt. Es war eine Art Puzzlespiel, man musste sorgfältig Stück für Stück des Puzzles zusammentragen und durfte dabei so gut wie keinen Fehler machen. Während man spielte, hatte man immer noch keine genaue Ahnung was am Ende für ein Bild dabei entstehen würde. Und deshalb war es ein so gefährliches Spiel, das war es von Anfang an gewesen. Nur am Anfang hatten sie noch gar nicht richtig abschätzen können, was sie jetzt wussten.
Es hatte Jahre gedauert all ihr Wissen, das sie jetzt hatten, zusammenzutragen. Was sie dabei herausgefunden hatten, war erschreckender als alles andere in ihrem Leben zuvor gewesen. Aber sie konnten noch hoffen, und das war das wichtigste.

Es war Montag nacht, Love sah ihrer älteren Schwester die Anspannung deutlich an - nicht, dass es ihr selbst anders ging.
Bis jetzt war alles ganz ruhig und vollkommen nach Plan verlaufen, nicht ein einziges Zeichen hatten sie von einer eventuellen Anwesenheit der falschen Hitomi bekommen. Doch die Anspannung würde nicht weichen, bis sie die Sache glücklich über die Bühne gebracht hatten. Die Aktion war schon schwierig genug gewesen bevor diese Doppelgängerin aufgetaucht war, und sie durften sich hier keinen Fehler erlauben. Love schnitt mit einem Kabelschneider das letzte Kabel hinter der Wandverkleidung durch, und jetzt begann der eigentliche Teil der Aktion, jetzt wurde es gefährlich.

Einige Zeit später war alles gelaufen. Es hatte einen wilden Aufruhr unter den bewachenden Polizisten gegeben, als die bemerkt hatten, dass sie vollkommen ausgetrickst worden waren - schon wieder. Und beide Schwestern hatten sich mit einem siegesgewissen Lächeln angesehen, als sie, Hitomi das Bild in den Händen, so verschwunden waren, wie sie gekommen waren. Unaufhaltsam.
Aber Toshi war früher als die anderen Polizisten dagewesen. Das war auch kein Wunder, er kannte schließlich ihren Plan. Aber, selbst wenn er das gewollt hätte, auch er hätte sie nicht fangen können. Und er hatte Hitomi, die sich noch kurz zu ihm umgedreht hatte, mit einem Grinsen signalisiert, dass alles in Ordnung war. Ja, soweit war wirklich alles in Ordnung. Bis jetzt.
Bis jetzt war noch rein gar nichts von ihrer Doppelgängerin zu sehen gewesen, aber sie mussten weiterhin auf der Hut sein. Hitomi konnte sich einfach nicht vorstellen, dass, wenn sie überlebt hatte, sie nicht hier sein würde. Sie spannte all ihre Sinne an, während sie ihrer Schwester in den Tunnel folgte, zurück zu ihren Motorrädern, die sie in einem Waldstück unweit von hier stehengelassen hatten. Noch war die Show nicht vorbei, und sie mussten auf alles vorbereitet sein.
Doch nichts geschah. Rein gar nichts rührte sich. Sie kamen unbehelligt zu ihren Maschinen, und es folgte ihnen auch niemand auf ihrem Weg nach Hause. Sie sahen sich mehrmals und gründlich um, aber immer noch war rein gar nichts zu sehen. Und langsam glaubte Hitomi, dass ihre Doppelgängerin wirklich nicht dort gewesen war. Vielleicht war sie doch umgekommen, und man hatte ihre Leiche nur noch nicht gefunden. Aber das war eher unwahrscheinlich. Toshi hatte sich mehrmals bei seinen Kollegen bei der Wasserschutzpolizei erkundigt, aber dort hatte man keine Leiche aufgelesen. Es begann, irgendwie unheimlich zu werden.

Weder Hitomi, noch Love oder Toshi hatten die blitzenden grünen Augen bemerkt, die jeden der Schritte der Katzen überwacht hatten. Sie war ihnen nicht gefolgt, weil sie sowieso wusste, wohin sie wollten. Seit sie von dieser Verladeplattform aus ins Wasser gestürzt war, hatte sie sich versteckt gehalten. Sie hatte in ihren Jahren beim französischen Geheimdienst gelernt, wie man ohne Spuren zu hinterlassen untertauchte, sozusagen verschwand. Das konnte sie so gut, dass nicht einmal diese Leute sie finden konnten. Sie hatte nicht viele Freunde hier in der Stadt, sie war zuvor auch nur ein einziges Mal hier gewesen.
Inzwischen hatte sie ihre ursprüngliche Haarfarbe wieder angenommen und hatte auch die kleinen kosmetischen Tricks, die der Visagist zusätzlich zu ihren operativen Veränderungen angewandt hatte, entfernt. Jetzt sah die Frau mit dunkelblondem Haar, ohne gefärbte Kontaktlinsen und das andere Zeugs dem echten Vorbild schon gar nicht mehr so ähnlich. Obwohl immer noch eine große Ähnlichkeit zwischen ihnen bestand. Es war manchmal schon verwunderlich, was Gott und die Chirurgen alles so bewirken konnten.

Sie hatte nicht damit gerechnet von dieser Frau besiegt zu werden, sie war besser, als sie gedacht hatte. Nachdem sie in dieses um die Jahreszeit schon reichlich kalte Wasser eingetaucht war, hatten ihre in Jahren des Training geformten Instinkte reagiert und sie heil aus dieser Sache rausgebracht. Ihre Instinkte hatten verhindert, dass sie bewußtlos wurde und ertrank. Und sie hatten erreicht, dass sie ohne Luft zu holen unter Wasser weiterschwimmen konnte, bis sie geglaubt hatte in einer sicheren Entfernung zu sein.
Als sie sich dann aus dem Wasser gezogen hatte, hatte sie einige stechende Schmerzen in ihren Rippen und Armen und Beinen gespürt, aber die Schmerzen auf später verschoben. Zuerst hatte sie daran gedacht zurückzulaufen und Hitomi zu überraschen, obwohl sie bezweifelte, dass ihr das bei der Frau gelungen wäre. Sie war auch wirklich zurückgeschlichen und hatte sie mit ihrem Freund, diesem Detective, am Kai stehen sehen. Er schien immer noch unter einem leichten Schock zu stehen, und sie schien ihm etwas zu erklären. Dann hatte sie in ihre Richtung gezeigt, die Richtung, in der sie unter der Wasseroberfläche verschwunden war.
Sie hatten am Kai gesucht, aber natürlich nichts und niemanden gefunden. Sie hatte für sich entschieden, dass sie an diesem Abend und in ihrer Verfassung keinen Kampf mehr mit dieser Katze gewinnen würde. Also hatte sie es bleiben lassen und war in der Dunkelheit verschwunden.

Diese Katzen waren verdammt gut, noch viel besser, als man sagte. Sie hatte sich zwar schon vorher intensiv mit ihnen beschäftigt, aber ihre Aktion heute war selbst für sie etwas ungewöhnliches. Wie waren die bloß auf dieses alte Abflußrohr gekommen, dass doch eigentlich überhaupt nicht existierte und von dem niemand etwas wusste?!
Sie zogen ihre Aktionen auch sehr profihaft ab, auch wenn sie anscheinend einen „Informanten“ bei der Polizei hatten, diesen Detective Uzumi. Sie fragte sich, warum er seine Karriere und seine Freiheit für eine derartige Sache aufs Spiel setzte. Vermutlich war es aus Liebe zu ihrem alter Ego, der wirklichen Hitomi.
Sie hatte stundenlang in ihrem Motelzimmer auf dem Bett gelegen, die Fenster durch die dicken Vorhänge verdunkelt, nur eine einzige Lampe am Nachttisch als Lichtquelle in dem kleinen Raum. Sie hatte sich bei dem Aufprall eine Rippe geprellt. Aber der Arzt, dem sie selbstverständlich einen falschen Namen angegeben hatte, hatte gesagt, das würde schnell wieder heilen. Was ihr erheblich mehr Sorgen gemacht hatte, war die plötzliche und vollkommen unerwartete Wende, die der Fall genommen hatte. Sie konnte sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein, sie war klug genug um das zu wissen. Ihr Auftrag war zwar nicht fehlgeschlagen - zumindest noch nicht - aber sie würde ihn nicht mehr zuende ausführen. Nicht nach dem, was da oben passiert war.

Jetzt bohrten sich ihre grünen Augen in die Dunkelheit und machten schließlich die beiden Schatten aus, die katzengleich aus dem Dickicht zu ihren im Gebüsch verborgenen Motorrädern liefen. Die größere von beiden, Hitomi, trug das Bild unter dem Arm. Die Schwestern schienen beide ihre Sinne bis aufs äußerste angespannt zu haben, aber sie war zu tief und zu gut im Unterholz verborgen. Sie lächelte in sich hinein, nein, heute würden sie sie nicht zu sehen kriegen.

Es war Dienstag, und Hitomi wollte des Gelände der Universität gerade verlassen, als Reiko von hinten auf sie zugelaufen kam. „Hitomi, warte!“ Die Gerufene blieb stehen und wartete, dass ihre Freundin sie erreichte.
Reiko hielt außer ihrer Tasche noch etwas anderes in der Hand, einen Umschlag. Und sie zeigte damit in ihre Richtung, als sie bei ihr ankam.
„Hitomi, jemand hat mir das hier gerade gegeben und gesagt, dass ich es dir geben soll.“ Sie gab ihr einen weißen Briefumschlag, nichts stand drauf, kein Absender, nichts.
„Wer hat dir das gegeben?“, fragte sie, während sie den Brief prüfend in der rechten Hand wiegte.
Reiko zuckte mit den Achseln. „Eine Frau, blonde Haare und eine Sonnenbrille auf. Mehr habe ich von ihr nicht gesehen, sie stand im Schatten.“ Sie schwieg kurz, und als Hitomi nur nickte und nichts erwiderte, fragte ihre Freundin leicht besorgt: „He, ist alles in Ordnung?“
Hitomi nickte geistesabwesend und riß sich dann zusammen und meinte, während sie den Brief immer noch in der Hand wiegte. „Ja, ja, alles in Ordnung.“
Reiko kannte ihr Freundin gut genug, um da nicht weiter nachzuhaken. Wenn sie in Schwierigkeiten steckte, würde sie es ihr schon von selbst sagen. Sie verabschiedete sich und lief schneller, um ihre letzte Vorlesung für diesen Tag nicht zu verpassen.

Hitomi wandte sich auch ab und machte sich auf den Weg zur U-Bahnstation, sie war für heute fertig mit dem Unterricht. Sie öffnete den Umschlag, und fand eine handgeschriebene Notiz darin.
Heute abend
21.00Uhr
Charlie’s Bar, Shibuya
Allein. ES IST WICHTIG!
Dein alter Ego

Hitomi wusste nicht, was sie davon halten sollte. Erst wollte sie sie töten, jetzt mit ihr reden. Das roch förmlich nach einer Falle. Aber noch während sie die Treppen zur U-Bahnstation hinunterstieg, wurde ihr klar, dass sie nur so an Informationen herankommen konnten, über das, was wirklich hier vorging.
Sie wettete, dass Nami nicht allzu begeistert davon gewesen wäre, aber auf jeden Fall wäre sie schließlich zur gleichen Erkenntnis gelangt. Die Ankunft ihrer älteren Schwester und Herrn Nagaishi hatte sich auf Morgen früh verschoben, und sie gedachte nicht, bis dahin tatenlos hier herumzusitzen. Noch dazu, wo es augenscheinlich eine Erklärung für das ganze Spiel liefern konnte.
Sie kannte die Bar, zu der sie kommen sollte, sie war schon einmal dort gewesen. Das war nicht unbedingt die beste Gegend da, eher eine der schlechteren, aber es war anscheinend der einzige Weg an Informationen zu kommen.

Wie sie erwartet hatte, war Love auch ihrer Ansicht, wenn sie sich auch Sorgen um ihre Schwester machte. Das konnte verdammt leicht zu einer tödlichen Falle für ihre Schwester werden, immerhin hatte ihre Doppelgängerin schon einmal versucht sie umzubringen. Aber auch sie sah ein, dass es keinen anderen Weg gab endlich zu erfahren, was hier gespielt wurde.

Hitomi betrat am selben Abend die Bar, in Jeans, Lederjacke und Lederstiefeln. Sie kannte sich hier noch relativ gut aus, und sie hatte ihren letzten Besuch in dieser Bar auch noch besser in Erinnerung, als ihr lieb war. Sie war damals, über ein Jahr war das jetzt her, hier gewesen um Informationen für eine anstehende Aktion einzuholen. Die Infos hatte sie auch bekommen, war aber in eine Schlägerei hineingeraten. Vielmehr hatte sie einem betrunkenen Kerl Manieren beigebracht und hatte sich dann auch noch mit seinen vier Kumpanen auseinandersetzen müssen. Der Wirt hatte ihr geholfen, obwohl sie sie auch allein erledigt hätte. Auch noch einige andere Gäste waren in die Prügelei mit eingefallen, und so hatte sich sehr schnell eine heftige Schlägerei entwickelt. Bis die Polizei ankam, war ein Großteil des Mobiliars von den Betrunkenen in Stücke geschlagen worden, und sie selbst war in der allgemeinen Aufregung unbemerkt aus der Bar verschwunden. Es hätte sicherlich einige verdammt unangenehme Fragen von Toshi gegeben, wenn er von seinen Kollegen erfahren hätte, dass seine Freundin in eine heftige Schlägerei in einer solchen Gegend verwickelt gewesen war.
Heute würde er nur Lächeln, obwohl mit etwas Besorgnis ins seinem Blick. Er wusste, weshalb sie das taten, und er vertraute ihr.

Der Innenraum der dunklen Bar hatte eine neue Möblierung erhalten, die Tische waren relativ gut besetzt, und die Luft war durchzogen von Rauchschwaden und dem Geruch von ziemlich billigem Alkohol. Sie ging quer durch den Raum, der nur ziemlich schwach erleuchtet war von den wenigen Lampen an den Wänden und einigen an der Bar aus poliertem Eichenholz. Und der Mann, der dahinter stand, sah sie mit einem wenig freundlichen und mißtrauischen Blick an, er musterte sie. Er erkannte sie wieder.
„Was wollen Sie?“, fragte er sie mit einer tiefen, alkoholschweren Stimme. Sie lehnte sich gegen den Tresen. „Am Anfang würde mir ein Bier schon reichen.“
Mit einem kurzen Schnauben gab er ihr eine Flasche. Während sie sie zur Hälfte leer trank meinte er: „Was Sie das letzte Mal angezettelt haben, hat mich beinah meine Existenz gekostet.“
„Dann sollten Sie das nächste Mal solche Leute aus ihrem Laden hier fernhalten. Ich habe irgendwie eine Abneigung gegen solche Typen entwickelt.“
Der Wirt sah sie mit einem Blick an, als überlegte er, ob er sie rausschmeißen oder sie zusammenschlagen lassen sollte. Doch zu einer Entscheidung kam er nicht, als nämlich noch eine zweite Person an den Tresen neben Hitomi trat. Auch sie trug eine Lederjacke, und als der Wirt sie sah, klappte er seinen Mund wieder zu, den er gerade zum Sprechen geöffnet hatte. Die eine Frau sah der anderen bis auf die blonden Haare beinah zum Verwechseln ähnlich. Hitomi spannte automatisch die Muskeln an, auch wenn sie eigentlich hier keinen Kampf erwartete. Der Wirt schüttelte den Kopf und wandte sich dann seinen anderen Gästen zu.
Sie wandte sich dann Hitomi zu und meinte: „Die Umgebung hier ist vielleicht nicht ganz passend, aber ich hoffe, dass du mir trotzdem zuhörst.“
„Am Sonntag wolltest du noch kämpfen, jetzt willst du plötzlich reden. Ist irgend etwas passiert in der Zwischenzeit?!“, fragte Hitomi mit einem sarkastischen Hochziehen der Augenbrauen.
Zu ihrer Überraschung wurde die andere nicht wütend, obwohl sie den sarkastischen Ton in ihrer Stimme nicht überhört haben konnte. Es war komisch, sie schien sich innerhalb von Tagen irgendwie verändert zu haben, und das nicht nur in ihrem Aussehen.
Ihr alter Ego sah sie für einen Moment an, dann wandte sie den Blick wieder ab und antwortete: „Ja, es ist etwas passiert, und ich wäre glücklicher, wenn ich meinen Auftrag einfach so hätte erledigen können.“
Aha, sie war also wirklich geschickt worden. Fragte sich nur, von wem. „Und was war dein Auftrag? Mich umzubringen?“
Die andere nickte. „Ja, das auch. Aber das war nur Nebensache, es ging ihnen viel mehr darum, dass ich Katzenauge überwache. Das Bild sollte nur als Köder dienen.“ Warum sollte sie sie überwachen? Und Sie antwortete wieder, als Hitomi diese Frage laut ausgesprochen hatte.
„Ich bin keine Japanerin, das wirst du ja schon gemerkt haben. Ursprünglich komme ich aus Frankreich, und dort habe ich einige Jahre für den französischen Geheimdienst gearbeitet. Dann bin ich von jemandem angesprochen worden, der hat mir diesen Auftrag hier angeboten. Am Anfang war nur von einer Überwachung die Rede, und davon, dass ich dieses Heintz-Gemälde stehlen sollte. Ich habe den Auftrag angenommen, weil ich von dort weg wollte, und das schien sowas wie ‘ne gute Gelegenheit zu sein. Ich habe dann aber herausgefunden, dass ich hauptsächlich ausgesucht wurde, weil ich dir durch irgend einen Zufall ähnlich sehe. Und dass ich dich töten sollte, um unbemerkt deinen Platz einzunehmen, zumindest für eine kurze Zeit. Dann, wenn ich alles herausgefunden hätte, was ihr wißt, und wo ihr diese Gemälde aufbewahrt; dann sollte ich einfach untertauchen und verschwinden, um ihnen Bericht zu erstatten. Damit wäre die Sache gelaufen gewesen.“
Hitomi war jetzt immer noch einigermaßen verwirrt. Es waren noch sehr viele Fragen offen. „Aber wer sind ‘die’?“ Und eine Sekunde später fügte sie hinzu: „Es sind die Leute, die unseren Vater verfolgen, nicht wahr?!“
„Ja, aber das ist mir erst klar geworden, als du es mir auf dieser Plattform gesagt hast. Vorher wusste ich nur, dass ihr denen irgendwie zu dicht auf den Pelz gerückt wart, und deshalb sollte ich euch überwachen und alles rauskriegen, was ihr wißt.“
„Und weshalb führst du deinen Auftrag nicht zuende?“
„Weil ich euren Vater gekannt habe, deshalb. Ich wusste aber nicht, dass ihr seine Töchter seid, ich wusste ja noch nicht einmal, dass er überhaupt Kinder hatte.“
Das hatte gesessen. Hitomi fühlte sich, als hätte ihr jemand mit einem Hammer gegen den Kopf geschlagen. Sie kannte ihn?
„Wie...wie kann das möglich sein?“, fragte sie, noch nicht ganz fähig vollständige Sätze zu bilden. Ihr alter Ego senkte ein wenig den Blick und meinte: „Vor meinen Tagen beim Geheimdienst war ich zwei Jahre genau das, was ihr auch seid. Ein Dieb.“ Sie führte das nicht näher aus, sondern fuhr mit stärkerer Stimme als vorher fort: „Wie auch immer,...in dem Sommer, indem euer Vater verschwunden ist, war ich in Bern auch in einer Nacht bei ihm. Er war ein Sammler, und so...na ja, es bot sich halt an. Aber die Sache ist schief gelaufen, er hat mich erwischt. Er hätte mich der Polizei ausliefern können, aber er hat es nicht getan. Er hat einfach gesagt ich solle verschwinden, dann würde er vergessen, was passiert ist. Wenige Tage später ist er spurlos verschwunden.“
Hitomi war ziemlich verwirrt. Das konnte einen ja verrückt machen. Sie sah ihr selbst nicht nur ähnlich, sondern hatte als Dieb auch noch ihren Vater kennengelernt. Wenn auch in einer etwas seltsamen Lage. Aber damit waren noch nicht alle Fragen beantwortet.
„Und als ich dir gesagt habe, dass er unser Vater ist.“ Sie ließ den Satz unbeendet, und Sie meinte darauf: „...ist mir klar geworden, weshalb ihr das tut, und wer meine Auftraggeber waren.“
Sie sah die Fragen in den Augen ihres Gegenübers und fuhr fort: „Diese Leute verfolgen euren Vater, und das seit sehr langer Zeit.“ Hitomi nickte und ließ sie weiterreden. „Ich weiß, wer diese Leute sind, und wo sie sind, zumindest einige von ihnen. Und wenn sie herauskriegen, dass ich euch das sage und dass ich meinen Auftrag nicht ausführe, werden sie mich töten.“

Während der nächsten Minuten hörte Hitomi immer fassungsloser werdend alles, was Sie über diese Leute wusste. Sie wusste, wo Berger sich aufhielt, wo von Kapp war, und...
„Ich weiß, dass euer Vater wieder in der Schweiz ist. Er ist dicht davor Beweise zu finden, und wenn er die hat, kann er sie überführen. Und sie werden lebenslang hinter Gitter wandern. Auch ihr seid ihnen schon zu dicht auf den Pelz gerückt. Ihr seid nahe dran sie zu finden. Ihr wißt zu viel, und das kann für diese Leute überaus gefährlich werden. Verstehst du?! Diese Leute haben viel zu verlieren, und sie sind absolut skrupellos!...“

Nach einer kleinen Weile, in der Sie ihr alles erzählt hatte, was sie wusste, fragte Hitomi sie: „Warum erzählst du mir das alles? Und woher weiß ich, dass das alles nicht nur dazu dient, uns von der Spur abzubringen?“
„Ich erzähle dir das, weil ich denke, dass diese Leute nicht ungehindert weiter ihre Verbrechen ausführen dürfen. Ich bin zwar eigentlich selber eine Kriminelle, aber die dürfen trotzdem nicht ungestraft davonkommen. Ich weiß, dass ich im Moment die letzte sein dürfte, der du vertrauen willst. Aber alles, was ich dir gesagt habe, ist die Wahrheit. Und ihr habt gar keine andere Wahl als mir zu vertrauen, denn die Zeit für euch und euren Vater wird immer knapper. Wenn ihr diese Chance jetzt nicht nutzt, könnte es vielleicht eure letzte gewesen sein. Michael war solange keine große Bedrohung, bis er jetzt dicht davor ist alle Beweise zusammen zu haben. Und auch ihr seid so dicht an ihnen dran wie nie zuvor, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr von alleine den Aufenthaltsort der Leute und eures Vaters gefunden hättet. Aber die wollen nicht warten, bis ihr bei denen vor der Haustür steht. Deshalb müßt ihr jetzt schnell handeln, um alle noch heil aus der Sache wieder rauszukommen. Das ist vielleicht die letzte Chance, nutzt sie.“
Hitomi liefen Schauer über den Rücken, als ihr die Wahrheit dieser Worte bewußt wurde. Es konnte jetzt wirklich ihre letzte Chance sein, dann war vielleicht schon alles zu spät.
Nach einer kurzen Weile des Schweigens meinte sie: „In Ordnung, ich scheine ja keine andere Wahl zu haben. Und wie soll es jetzt weitergehen?“
„Ich kann euch nur einen Namen nennen. David Baumgartner. Er lebt in Zürich, wendet euch an ihn, er kann euch helfen. Alles andere müßt ihr allein machen, ich habe euch alles gesagt, was ich weiß.“

Wieder ein kurzes Schweigen, dann fragte Hitomi: „Was willst du jetzt machen?“
Ein ironisches Lächeln spielte um die Lippen der anderen. „Na ja, es sieht nicht so aus, als könnte ich in absehbarer Zeit wieder zurück nach Frankreich. Ich werde einfach für eine Weile untertauchen, bis sich alles wieder beruhigt hat.“
Sie legte Hitomi leicht eine Hand auf die Schulter und sah sie noch einmal an. „Ich hoffe, ihr findet, was ihr sucht. Viel Glück, Hitomi.“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und war wenige Augenblicke später in der Dunkelheit verschwunden.

4. Ende?

Freitag, 19. Februar 1988
Zürich, Schweiz

Die Maschine befand sich gerade im Landeanflug auf Zürich. Unter sich konnte Hitomi Wälder, Wiesen und Felder sehen, die jetzt fast vollständig vom weißen Schnee bedeckt waren. Wie kleine Pfade zogen sich die vom Schnee befreiten Straßen durch das Weiß hindurch, sie sah dort unten die Stadt liegen. Die Sonne schien von einem blauen Himmel herunter, die zugeschneiten Bergkuppen in der Ferne wurden von den Strahlen in ein glänzendes Licht getaucht.
Es war das zweite Mal seit vier Jahren, dass sie sich in der Schweiz aufhielten. Damals hatten sie sich unter die Gäste einer größeren Party eines kriminellen Sammlers gemischt und das Gemälde ihres Vaters vor deren Nase weggestohlen.
Diesmal stand alles auf einer Karte, hing alles an einem Faden.
Sie alle wussten, was auf dem Spiel stand. Es ging um das Leben ihres Vaters, und auch um ihr eigenes. Wenn es ihnen jetzt nicht gelang, diese Chance zu nutzen, würden sie vielleicht nie wieder eine bekommen...! Toshi war derzeit in einem wichtigen Einsatz unterwegs, hatte aber versprochen, sobald wie möglich nachzukommen.
Herr Nagaishi hatte schon alles arrangiert, außerdem hatte er Baumgartner ausfindig gemacht. Sie mussten mit diesem Mann sprechen, er war die entscheidende Verbindung zu ihrem Vater. Die Worte ihrer Doppelgängerin gingen Hitomi durch den Kopf. Alles, was in den Monaten und Jahren zuvor passiert war, zählte jetzt nicht mehr. Alles, was jetzt noch wichtig war, war die Rettung ihres Vaters und die Kreuzigung dieser Verbrecher, die ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgten.

Sie wollten gerade den Ankunftsterminal verlassen, als ein Mann in ihren Weg trat. Er hatte eine hohe Gestalt, kurze, schon leicht ergraute Haare und trug einen schwarzen Anzug. Seine blauen Augen blitzten unter seiner Nickelbrille hervor, und er sah sich ständig um, als fürchte er verfolgt zu werden.
„Mein Name ist David Baumgartner. Ihr Freund sagte mir schon, dass Sie kommen würden.“ Er führte sie zu einem Wagen, der auf einem Parkplatz geparkt worden war. „Ich fürchte, man ist mir auf den Fersen. Ich musste vorerst aus meinem Haus verschwinden, da war ich nicht mehr sicher.“, sagte er, während sie einstiegen.

Assayah ging mit den anderen Passagieren der Maschine aus Tokio durch die Paßkontrolle des Züricher Flughafens. Sie hatte nur eine Maschine nach den drei Schwestern genommen, noch einmal wollte sie die drei nicht so einfach davonkommen lassen. Sie hatte zähneknirschend eingesehen, dass sie wirklich der Doppelgängerin von Hitomi auf dem Dach begegnet sein musste, auch wenn sie dadurch nicht von ihrem Ziel abgelenkt worden war.
Es waren inzwischen zu viele Übereinstimmungen auf einmal. Vor vier Jahren waren die drei in der Schweiz gewesen, und genau zu der Zeit hatten die Katzen in Zürich einen Diebstahl begangen. Dann die Sache mit der Doppelgängerin. Sie hatte Hitomi und die andere mit eigenen Augen gesehen, doch das überzeugte sie noch lange nicht von der grundsätzlichen Unschuld Hitomi’s.
Diese Frau war eine der Katzen, das sagte ihr ihr Instinkt. Auch wenn sie noch so unschuldig schien, Assayah hatte sie durchschaut. Der Detective war entweder blind, weil er die Wahrheit nicht sehen wollte, oder er deckte sie. Wie auch immer, sie würde sie hier in Zürich nicht aus den Augen lassen, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie fündig werden würde. Sie würde sie auf Schritt und Tritt überwachen, wenn die Katzen hier einen Diebstahl begehen wollten, dann würde sie sie dabei auf frischer Tat verhaften...!
Sie hatte sich über Polizeiquellen das Hotel ermitteln lassen, in dem die drei sich einquartiert hatten. Sie würden ihr nicht noch einmal entwischen.
Sie verließ den Ankunftsterminal gerade, als sie deutlich spürte, wie ihr von hinten etwas Hartes in den Rücken gehalten wurde. Es war der Lauf eine Waffe, das wusste sie sofort. Der Mann, der sie hielt, war größer als sie selbst, trug einen dunklen Anzug, sie sah aus den Augenwinkeln seine verspiegelte Sonnenbrille. „Bleiben Sie nicht stehen, drehen Sie sich nicht um!“, befahl er ihr auf Japanisch mit rauh klingender Stimme und schob sie weiter, einem schwarzen Wagen mit verdunkelten Fenstern entgegen.
„Lassen Sie mich los...!“, zischte sie zwischen den Zähnen und versuchte, nach ihrer Dienstwaffe zu greifen. Sie spürte, wie etwas sie in den Oberarm stach, es war eine Nadel. Was immer er ihr injiziert hatte, es wirkte schnell. Es begann dunkel um sie herum zu werden, ehe sie einen Ton sagen oder sich wehren konnte. Sie bemerkte gerade noch, wie sie in den schwarzen Wagen gestoßen wurde, dann war alles schwarz...!

„Ich bin Anwalt, wie Sie vielleicht schon wissen.“ Baumgartner stand am Fenster des Hotelzimmers und sah nach unten auf die Straßen der Stadt hinunter. Sie befanden sich im sechsten Stock, und von hier oben hatte man eine gute Aussicht.
Sie drei hörten den Ausführungen des Mannes zu, der womöglich entscheidend war über Leben und Tod ihres Vaters.
„Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als Ihr Vater zu mir kam. Das war 1981, und er machte auf mich den Eindruck, als wäre er auf der Flucht und würde um sein Leben fürchten. Er hat mir gesagt, er wüßte etwas über sehr mächtige Leute, was ihn und seine Kinder in große Gefahr bringen könnte. Und er hat um meine Hilfe gebeten. Er sagte, er bräuchte jemanden, dem er Beweise und Unterlagen anvertrauen könne, die ihn und mich das Leben kosten könnten.“
Er machte eine kurze Pause und fuhr halb zu ihnen, halb zum Fenster gewandt fort: „Dann ist er verschwunden, wollte sich aber wieder melden, wenn es sicher und notwendig für ihn wäre. Einige Monate später hat er sich mit mir in Sao Paulo getroffen, da hat er mich ins Vertrauen gezogen darüber, was er wusste. Er hat mir auch erzählt, warum er nach so langer Zeit jetzt wieder fliehen musste. Er sagte, er sei in Bern von jemandem angesprochen worden, der ihm Beweise für die Verbrechen von Viktor Berger geben wollte. Er hätte ihm einen kleinen Teil des belastenden Materials gegeben, später wollte er ihm den Rest zukommen lassen. Doch bevor er ihm die Beweise geben konnte, hätte man diesen Mann vor seinem Hotel erschossen und die Unterlagen gestohlen. Michael sagte, ich solle mit niemandem darüber sprechen, ganz besonders nicht mit Ihnen. Er fürchtete, dass Sie in die Schußlinie dieser Leute geraten würden. Seitdem sind er und ich in unregelmäßigem Kontakt geblieben, er hat mir alles anvertraut, was er herausbekommen hatte.“
Er wandte sich nun vollends zu ihnen, als er sagte: „Ich musste Ihrem Vater damals versprechen, Sie unter keinen Umständen da mit hineinzuziehen. Sie bedeuten ihm alles, und er vermißt Sie sehr.“
„Wissen Sie, wo er jetzt ist?“, hörte Hitomi ihre an den Türrahmen gelehnte ältere Schwester fragen.
„Er ist hier in Zürich, und er schwebt in großer Gefahr. Die müssen wissen, dass er hier ist, denn die haben mein Haus und mein Büro durchwühlt. Sie haben aber nichts gefunden, weil ich die Unterlagen Ihres Vaters nicht dort aufbewahre.“
„Wo genau ist er jetzt?“, fragte Hitomi, während sie aufstand.
„Die Beweise sind in einer leerstehenden Villa am Zürichsee untergebracht worden, dort wird er vermutlich gerade sein. Aber die sind ihm auf den Fersen...!“
„Worauf warten wir dann noch!?“

Es hatte so lange gedauert, bis sie an diesem Punkt angekommen waren, und jetzt schien alles mit rasender Geschwindigkeit auf sie einzustürzen. Hitomi wusste, dass es heute auf die eine oder anderen Weise zu einer endgültigen Entscheidung kommen würde. Sie hatten eine lange Reise bis zu diesem Punkt hinter sich, sie hatten Jahre voller Gefahren und auch Schmerzen hinter sich, ehe sie das Puzzle endlich vollständig hatten zusammensetzen können. Sie waren ihrem Vater und ihrem Ziel so nahe wie noch niemals zuvor, aber sie hatte gleichzeitig auch Angst. Was, wenn sie es nicht schaffen würden?! Wenn sie zu spät kommen würden...!
Mit aller Macht drängte sie diese Gedanken jetzt aus ihrem Kopf, sie mussten sich auf das Wesentliche konzentrieren, sie mussten so schnell wie möglich zu dieser Villa.

Alles war noch genauso, wie er es vor einigen Monaten zurückgelassen hatte. Niemand schien seit der Zeit hier gewesen zu sein, nicht einmal Baumgartner. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, konnte er in einiger Entfernung zwischen den Büschen und Bäumen hindurch das Boot sehen, wie es auf dem Wasser im leichten Wind des späten Nachmittages hin und her schaukelte. Der Zürichsee war so groß, dass auch im Winter nur Seitenarme und geschützte Buchten zufroren. Die Bäume und die meisten Büsche waren jetzt kahl und von weißem Schnee bedeckt, wie auch der Rasen unter einen dichten Decke aus Schnee verborgen war.
In wenigen Minuten würde er hier verschwunden sein, dann würde die letzte und entscheidende Schlacht geschlagen werden. Er hob die Diele des alten Holzfußbodens an. Darunter kam ein kleiner Hohlraum zum Vorschein, gerade groß genug, dass man einen kleinen Aktenkoffer darin unterbringen konnte. Er holte den Koffer hinaus und öffnete das Zahlenschloß. Alle vorher dort verstauten Unterlagen waren noch da. Die Kopien der Lieferlisten des Goldes an die Schweizer National Bank aus den 40er Jahren, Tonbänder mit abgehörten Gesprächen, Rechnungen, vertrauliche Briefe, und alles trug Unterschriften und Stimmen von den Männern, die ihn verfolgten.
Jetzt tat er die neu dazu gekommenen hinzu. Mit einem zufriedenen Lächeln schloß er den Koffer wieder. Mit dem, was er hier in der Hand hielt, konnte er einige sehr mächtige Leute zu Fall bringen, und das würde er tun. Er war lange genug davongelaufen, hatte sich versteckt. Doch jetzt nicht mehr, jetzt würden sie für ihre Verbrechen bezahlen.
Wenn der ganze Spuk hier erst einmal vorbei war, konnte er zu seiner Familie zurückkehren. Er hatte seine Töchter so lange nicht gesehen, nur über Freunde mit ihnen Kontakt aufgenommen. Und das auch nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Sie waren schon genug in Gefahr geraten seinetwegen.
Er wusste, er konnte im Leben nicht wieder gut machen, was die drei auf sich genommen hatten während der letzten Jahre. Sie hatten sich in endlos große Gefahren begeben, hatten sich selber in die Schußlinie dieser Leute gebracht, aus der er versucht hatte, sie herauszuhalten.
In den letzten Jahren hatte er viel von ihnen gehört, aber immer nur unter dem Decknamen, den sie als Diebe benutzten. Einmal war er kurzzeitig in Frankreich gewesen und hatte dort gehört, dass ein paar Leute sogar schon Wetten untereinander abgeschlossen hatten, wann die Polizei sie fassen würde. Keiner gab der Polizei allzu große Chancen. Obwohl auch keiner von ihnen glauben wollte, dass sie niemals gefaßt würden. Irgend wann würden sie einmal einen Fehler machen, und dann würden sie verhaftet.
Er hatte das damals gehört und gedacht, wie wenig Ahnung diese Leute doch hatten. Sie sahen die Katzen nur als raffinierte Diebe an, und als nichts anderes. Er wusste es besser, denn sie waren seine Kinder. Auch wenn er, als er das erste Mal von Katzenauge hörte, am liebsten nach Japan gefahren wäre und ihnen allen Dreien das Fell über die Ohren gezogen hätte. Sie hatten sich in eine solch große Gefahr begeben, sie hatten mit ihrer Zukunft wie mit Billardkugeln gespielt.
Das war zu einer Zeit, als er keine allzu großen Hoffnungen mehr hatte die Sache noch glücklich beenden zu können. Er war allein, bis auf wenige Freunde, und hatte eine Übermacht im Nacken - so schien es zumindest. Dann hatte er gemerkt, dass er nicht so allein auf weiter Flur stand. Die Katzen waren gut, sie waren verdammt gut. Sie tricksten die Polizei mit links aus, und sie suchten unbeirrt nach ihm. Sie hatten ihn nie aufgegeben und ihm wieder Hoffnung gegeben.
Sie hatten ihm während der letzten Jahre sehr geholfen, auch wenn er nur ahnen konnte, was für einen hohen Preis sie dafür hatten zahlen müssen. Doch diesen letzten Schlag musste er alleine ausführen.

Er schob die Holzdiele wieder an ihren Platz und versicherte sich gewohnheitsmäßig, dass nichts mehr von dem Versteck zu sehen war. Er würde es zwar in der Zukunft wahrscheinlich nicht mehr brauchen, trotzdem konnte man niemals vorsichtig genug sein. Das hatte er inzwischen gelernt.
Er kam auch fast niemals auf dem Landweg zu diesem Haus hier, er nahm sich immer ein Boot und fuhr damit eine Strecke immer in Ufernähe entlang bis zu diesem Grundstück.
Dabei hatte er sich immer wieder nach Verfolgern umgesehen, eine Gewohnheit, die ihm leider schon zu einer zweiten Natur geworden war. Er wusste nicht, ob es ihm jemals gelingen würde, diese Gewohnheit loszuwerden. Ob er jemals vollständig frei und ohne Angst leben konnte.
In den letzten Jahren war er um den gesamten Erdball gereist, von Bern nach Paris, London, Washington, Rio de Janeiro, Manila, die Liste kam ihm beinah endlos vor. In den ersten Monaten war er von Stadt zu Stadt gereist, unter falschen Namen und mit anderen Pässen. Zeitweise hatte er sich seine Haare anders gefärbt oder seinen Bart abrasiert. Er hatte zufällig von dem Züricher Anwalt Baumgartner erfahren, und er wusste, dass er den ganzen Spuk nur mit der Hilfe von anderen ein Ende bereiten und am Leben bleiben konnte.
Ein Jahr war er in Brasilien untergetaucht, hatte bald portugiesisch gelernt und sich im Schutz einer ruhigen Kleinstadt mitten in Brasilien versteckt gehalten. Er hatte sich in Japan zwar sicher gefühlt, hatte sich aber niemals zu sehr in Sicherheit gewiegt und im Laufe der Jahre eine Menge Pläne für den Fall ausgearbeitet, dass es doch einmal nötig wurde zu fliehen. Er hatte gehofft, diese Pläne niemals anwenden und die gefälschten Pässe niemals benutzen zu müssen. Er kannte besonders in den USA und Südamerika eine Menge Leute, die er auf seiner ersten Flucht vor so vielen Jahren kennengelernt hatte und die ihm jetzt geholfen hatten. Er war während der letzten Jahre zu einem Meister des Verschwindens geworden, er wusste, wie man keine Spuren hinterließ. Viele Menschen träumten davon, einfach abzuhauen, zu verschwinden und ein neues Leben zu beginnen, sie träumten von der totalen und grenzenlosen Freiheit. Er wusste, das diese Freiheit oft nichts weiter als eine Illusion war. Er hatte sich immer verstecken müssen, immer auf der Flucht und auf der Suche nach neuen Beweisen, die diese Flucht endlich beenden konnten.
Die alten Holzdielen knarrten unter seinen Schritten, als er an dem staubigen Holztisch und den Stühlen vorbei zur Terassentür hinaustrat. Keine Spuren außer seinen eigenen von gerade eben waren im Schnee zu sehen. Sie führten gerade von dem Bootssteg zum Haus führten, und auf dem selben Weg ging er jetzt zurück. Er hatte das Boot schon fast erreicht, als er harte Schritte von hinten auf dem Holz des Steges hörte.
„Es freut mich, Sie wiederzusehen, Michael...!“ Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem die Stimme gehörte.

Vor dem Hotel fuhren einige Wagen vorbei, einige davon waren Privatwagen, andere Taxis. Baumgartner hatte dem Portier den Wagenschlüssel zugeworfen, der war darauf davongeeilt um den Wagen zu holen. Ihr fiel der schwarze Wagen auch nur auf, weil er langsamer fuhr als die anderen. Und ihre von vielen Stunden auf dem Schießstand geschulten Augen erkannten den Waffenlauf, der sich langsam und scheinbar unauffällig aus dem Fensterschlitz schob. Sie konnte ihn auch nur sehen, weil Hitomi nicht direkt vor ihr, sondern etwas seitlich versetzt ging, sonst hätte sie ihr die Sicht verdeckt. Hitomi hatte die Waffen nicht bemerkt, weil sie in eine andere Richtung sah. Sie warf sich ihrer jüngeren Schwester in den Rücken und riß sie mit sich auf den Boden, als sie den Blitz in der Mündung sah. Es gab keinen Knall, und einen Moment wartete sie verwundert darauf, dass der Schall sie erreichte. Dann erst bemerkte sie, dass es Waffen mit Schalldämpfern sein mussten.
Sie und Hitomi lagen beide hinter einem geparkten Wagen in Deckung, sie hatte gerade noch gesehen, wie Love sich hinter einen anderen Wagen geschmissen hatte als der Kugelhagel um sie herum einschlug. Baumgartner hatte sich hinter einer Häuserecke in Sicherheit gebracht.
Die Kugeln schlugen in die Karosserie des Wagens ein, die Scheiben gingen zu Bruch, doch keine der tödlichen Geschosse traf einen von ihnen. Nami wusste, wenn der so weiter schoß, würde er irgendwann den Benzintank des Wagens treffen, und dann würden sie beide mit in die Luft gehen.

Hitomi lag immer noch halb unter ihrer Schwester, die sich ihr im letzen Moment entgegengeworfen hatte und sie so beide vor den Kugeln zumindest erstmal in Sicherheit gebracht hatte. Sie wusste nicht, wer sie da gerade umbringen wollte, aber wer immer in diesem schwarzen Wagen saß, so einfach würden die sie nicht aus dem Weg räumen.
Sie sah sich nach Love um. Sie sah gerade noch, wie ihrer Schwester der Griff einer Pistole hart über den Kopf gezogen wurde, sie brach zusammen. Immer noch schlugen die Kugeln um sie herum ein, aber das zählte für Hitomi nicht, als sie sah, wie zwei Männer in dunklen Anzügen Love auf den Schultern im Feuerschutz ihres Komplizen mit sich zum Wagen trugen. Mehr sah sie nicht, denn wenige Sekunden später hörte das Feuer plötzlich auf, und sie hörte den Wagen mit quietschenden Reifen starten.
Ohne nachzudenken kam sie hoch, um den Wagen davonrasen zu sehen - mit ihrer Schwester.
Kein weiterer Gedanke wurde verschwendet als sie hochschoß und über die Kühlerhaube des Wagens auf die Straße sprang. „Fahrt! Ich verfolge sie!“, rief sie den beiden anderen zu ohne sich umzudrehen, während sie hinter dem Wagen hinterher rannte, der sich schon in beträchtlicher Entfernung befand. Sie durfte die nicht davonfahren lassen...!
Sie machte eine harte Kurve nach rechts, als sie aus den Augenwinkeln den Mann sah, der gerade seine Maschine am Seitenstreifen parken wollte. Überraschung und Schreck erschienen in seinem Gesicht, als er von ihr kurzerhand von der Maschine gerissen wurde. Eine Sekunde später war sie auf das Motorrad gesprungen und jagte dem Wagen hinterher.

„Hitomi!“ Nami sah ihre Schwester auf der Straße, sah, wie der völlig überraschte Fahrer des Motorrades auf dem Asphalt landete und Hitomi im nächsten Moment um die Ecke verschwunden war, hinter dem Wagen her.
Sie richtete sich auf, es war ein Wunder, dass der Wagen noch nicht explodiert war. Sie sah sich um, Baumgartner lugte um die Ecke und kam dann zu ihr gelaufen. Einige Sekunden sahen beide wie erstarrt dem schon längst verschwundenen Wagen und Hitomi hinterher.
Dann nahm er ihren Arm und zog sie mit sich. „Kommen Sie, wir haben nur noch wenig Zeit, wenn wir Ihren Vater noch retten wollen!“
„Aber wir können die beiden doch nicht einfach...!“ Nami sträubte sich dagegen, ihm zu folgen und ihre Schwestern möglicherweise ihrem Schicksal zu überlassen.
„Wir können ihnen im Moment nicht helfen. Los, wir haben keine Zeit mehr!“, rief er ungeduldig, während er sie am Arm hinter sich her um die Ecke zerrte. Der Portier hatte den Wagen geholt, hatte sich aber in Angst an die Mauer gedrückt gehalten.
Schon während sie einstiegen, hörten sie die Polizeisirenen, darum konnten sie sich im Augenblick aber nicht weiter kümmern. Baumgartner startete den Wagen, innerhalb weniger Sekunden waren sie auf dem Weg zur vielleicht letzten Chance, die sie jemals bekommen würden.
Sie überschritten die Geschwindigkeitsbegrenzung sicher um einiges, als der Anwalt den Wagen durch die Straßen aus der Stadt herausfuhr, und es war ein Wunder, dass sie nicht von der Polizei verfolgt wurden oder irgendeinen Unfall verursachten. Sie waren gerade knapp einem Anschlag entgangen, und das bewies
nur noch mehr, dass sie sich jetzt beeilen mussten. Hoffentlich kamen sie nicht schon zu spät...!
Die Fahrt dauerte zwar im Grunde nicht allzu lange, aber trotzdem wurde sie mit jeder Sekunde, die verstrich, unruhiger. Und nicht zu wissen, was mit ihren beiden Schwestern geschehen war, machte die Sache nicht eben erträglicher.

Schließlich stoppte Baumgartner den Wagen in einem kleinen Kiesweg. Man konnte von hieraus die spiegelnde Oberfläche des Sees sehen, der hier nicht zugefroren war. Kahle Laubbäume rahmten die Straße ein, in einiger Entfernung konnten sie das Haus sehen.
Zwei dunkle Wagen standen vor dem Eingang auf einer speziellen Einfahrt aus Kies. „Wir sind zu spät gekommen...!“ Es konnte nicht anders sein, die beiden Wagen waren Zeichen genug. Angst schien sie momentan einzufrieren, als sie erkannte, dass sie vielleicht die allerletzte Chance nicht genutzt hatten.
„Das ist noch nicht sicher!“, sagte Baumgartner, als sie ausstiegen. „Kommen Sie.“ Er führte sie in einem Bogen an das leerstehende Haus heran. Sie schlichen geduckt durch von den Sträuchern gedeckt durch den Schnee.
„Sehen Sie, dort...!“ Während sie hinter einem der Sträucher im Schnee kauerten, zeigte er mit einem Finger auf die beiden Gestalten, die an einem der Wagen lehnten und sich unterhielten. Sie schienen nicht mit ungebetener Gesellschaft zu rechnen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät, und wenn es so war, sollten die nicht so einfach davonkommen...!
Sie erklärte dem Anwalt, was sie vorhatte, und wenige Sekunden später war sie mit einem Sprung auf den untersten Ästen der großen Eiche, die ihre Äste über die kleine Straße streckte. Es war nicht ganz einfach auf den zum Teil mit Schnee beladenen Ästen das Gleichgewicht zu halten, ohne sich zu früh zu erkennen zu geben oder auszurutschen und zu fallen. Außerdem hatte sie nicht ihren Anzug an, sondern nur Stiefel, Jeans und eine Jacke. Doch sie hatte nicht umsonst jahrelange Erfahrung in solchen Sachen, auch wenn ihr Herz schneller schlug als jemals bei einer ihrer Aktionen. Hier ging es um alles, und sie durfte sich noch viel weniger als sonst einen Fehler erlauben.
Sie war nahe genug an den beiden dran, sie hatten sie noch nicht bemerkt, obwohl sie nur wenige Meter über ihnen war. Ohne Vorwarnung sprang sie. Wie ein Blitz kam sie über die beiden überraschten Männer, riß den einen mit der Wucht des Sprunges zu Boden und hatte den anderen sofort danach schon mit einem Fußtritt seinem Kumpanen hinterher geschickt. Sie ließ sie keinen weiteren Laut von sich geben, als zwei gezielte Schläge in die Nacken der beiden sie augenblicklich bewußtlos zusammenbrechen ließen.
Sie winkte Baumgartner, der in diesem Moment schon geduckt auf sie zu gelaufen kam. Sie nahm sich die Waffe des einen Mannes und gab ihm die zweite. Er nahm sie und wies dann auf das verlassene Haus, dessen Scheiben schon vielfach kaputt oder vom Staub und Schmutz verdunkelt waren.
„Dort drin sind sicher noch mehr denen. Kommen Sie!“, flüsterte er ihr zu, während er vorsichtig um den Wagen herumlugte.
Im Schutz des zweiten Wagens erreichten sie das Haus und schlichen sich an der Außenseite entlang um eine Ecke. Die Putz war vielfach schon abgeblättert, darunter kam das nackte Mauerwerk aus Ziegelsteinen zum Vorschein. Der ehemals sicher sehr schöne Vorgarten war inzwischen verwildert, soweit man das unter dem dichten Schnee noch sehen konnte.
Sie kamen an einen Anbau, eigentlich war es mehr ein Bretterverschlag, aber er hatte eine hölzerne Tür, die augenscheinlich nach drinnen zu führen schien. Die Tür war nicht verschlossen, und Baumgartner öffnete sie geräuschlos. Der Raum schien einmal als Lagerraum für alles mögliche gedient zu haben, einige leere Kisten standen noch in dem kleinen Raum, an dessen hinteren Wand eine weitere Tür ins Innere des Hauses führte. Sie waren so leise, wie es auf den Dielen aus Holz eben nur ging. Sie konnten aber niemanden sonst hören, aber Nami war sich so gut wie sicher, dass noch welche im Haus waren.

Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit. Licht fiel durch ein kleines Fenster auf den Boden eines Raumes, der einmal eine Küche gewesen war. Staub lag auf dem Boden und tanzte glitzernd in den Sonnenstrahlen.
In der Küche war niemand, es gab überhaupt keine Spur, dass jemand während der letzten Jahre diesen Teil des Hauses betreten hatte.
Beide hörten die Stimmen, die sich ihnen aus dem anderen Teil des Hauses her näherten, als Nami um die
Ecke in einen der alten Wohnräume spähte. Schnell zog sie den Kopf zurück. Mit einer Hand zog sie den Anwalt gegen die Wand und entsicherte mit der anderen leise ihre Waffe.
„Warum haben sie nicht geantwortet?“, fragte jetzt eine der Stimmen, während sich die Schritte auf den Holzdielen ihnen immer weiter näherten.
„Ich weiß nicht. Laß uns lieber einmal nachsehen.“, antwortete der eine. Sie waren anscheinend nur zu zweit.
In dem Moment, als der erste um die Ecke kam, hinter der sie standen, wurde er von einer Hand nach hinten gezogen. Er stieß einen überraschten Hilfeschrei aus, der aber sofort erstickte, als ihm der Griff einer Pistole hart ins Genick geschlagen wurde. Er sank zu Boden, gerade als der andere seine Waffe zog.
Seine MP wurde von ihrem Fuß aus der Hand geschlagen, sie landete mit einem dumpfen Laut in einiger Entfernung auf dem Fußboden. Er warf sich auf sie, doch Nami wich ihm aus. Sie hielt ihn dabei am Kragen fest und riß ihn herum. Ihre Hand landete in seinen Nacken und ließ ihn genau wie seinen Kameraden mit einem schmerzhaften Stöhnen auf dem Boden zusammensinken.

Als sie den Kopf zur Seite wandte, erstarrte Nami bei dem Anblick. Durch das dreckverschmierte Fenster sah sie in einiger Entfernung zwischen den Büschen und Bäumen hindurch zwei Gestalten auf dem Bootssteg am Wasser stehen. Ein Boot war dort vertäut worden und schaukelte ein wenig auf den leichten Wellen.
Der eine Mann stand mit dem Rücken zu ihnen, hatte einen schwarzen Anzug an. Das Gesicht des anderen konnte sie sehen. Eine hohe Gestalt, zerschlissene Jeans und eine blaue Jacke, das schwarze Haar von wenigen grauen Strähnen durchzogen, der Schnurrbart auch schon leicht grau, die grünen Augen blitzten im Sonnenlicht. Er stand am Steg, dicht am Wasser.
Einen Moment schien die Zeit zu stoppen, als sie ihn dort stehen sah. Er hatte sich wenig verändert in den letzten Jahren. Der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters war der eines hilflosen Mannes. Sie sah, wie der Anzugmann außer einem kleinen, schwarzen Aktenkoffer noch eine Waffe auf ihn gerichtet hielt.
Als sie das sah, fuhr sie aus ihrer Erstarrung hoch.
„Ich muss zu ihm! Kümmern Sie sich um die anderen.“ Ohne den Anwalt anzusehen war sie in der nächsten Sekunde schon auf dem selben Weg aus dem Haus, auf dem sie gekommen waren. Sie musste ihm jetzt helfen. Sie faßte die Waffe in ihrer Hand fester, das kühle Metall gab ihr ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit, während sie durch den Schnee die andere Seite des Hauses erreichte.
Die Sonne war schon recht nahe am Horizont und sandte ihre Strahlen über den See und die verschneiten Flächen. Als sie vorsichtig um die Ecke blickte, sah sie die beiden immer noch stehen, sie schienen miteinander zu reden. Sie konnte noch nicht genau verstehen, was sie sagten, sie war noch zu weit entfernt.
Vor ihr lag der tiefverschneite ehemalige Garten des alten Hauses, in der Nähe des Steges stand eine alte Bretterbude, die einmal als Bootshaus gedient haben mochte. Eine alte, halb eingefallene Mauer führte von hier bis zum alten Bootshaus, sie war wohl einmal Grundstücksbegrenzung gewesen. Sie war zwar nicht mehr als einen Meter hoch, doch die davor angepflanzten und inzwischen verwilderten Sträucher gaben ihr zusätzlichen Schutz. Sie dachte daran, die Waffe anzulegen und den Mistkerl im schwarzen Anzug einfach von hier aus über den Haufen zu schießen, doch das war ein zu unsicheres Ziel, zumal noch einige Bäume dazwischen standen. Sie entsicherte die Waffe ein zweites Mal und lief geduckt durch den Schnee die niedrige Mauer entlang. Nein, so einfach würden sie nicht davonkommen. Sie würden dafür bezahlen...!

„Sie sind uns jahrelang immer wieder entkommen. Aber diesmal haben Sie sich verrechnet!“ Die Genugtuung sprach aus der Stimme des Mannes, der nach wie vor mit angelegter Waffe vor ihrem Vater stand.
„Sie werden damit nicht durchkommen. Es gibt Leute, die wissen, was ich weiß. Sie sind am Ende, Kapp,
auch wenn Sie mich jetzt umbringen!“
Es tat gut, seine Stimme wieder zu hören, auch wenn sie jetzt voller ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit war.
Kapp lachte höhnisch auf. „Wer immer Ihre Freunde sind, sie werden nichts beweisen können ohne das hier...!“ Er hob den Koffer, den er in der linken Hand hielt, leicht an und fuhr dann fort: „Ich denke, das dürften Sie genauso gut wissen wie ich.“
Sie hatte sich dicht an die Bretterwand des Bootshauses gedrückt und sah um die Ecke. Es waren nur wenige Meter, die sie jetzt noch von ihrem Vater und Kapp trennten. Sie hatte ihre Waffe bereit, und sie wusste, sie würde schießen ohne zu zögern.
Michael erwiderte auf die Worte seines Gegenübers nichts, er blieb stumm, ballte nur eine Hand zur Faust. Er hatte seine würdevolle, gerade Haltung nicht verloren, auch wenn er dem Tod ins Auge blickte.
Kapp hob die Waffe an. Das Grinsen war ihm aus der Stimme herauszuhören. „Und ich werde jetzt endlich das Vergnügen haben, Sie zu töten!“

„Lassen Sie das fallen!“ Ihre scharfe Stimme schnitt durch die kalte Winterluft, als sie aus ihrem Versteck hinter Kapp und ihrem Vater trat. Sie sah das Aufblitzen in den Augen ihres Vaters, als er sie augenblicklich erkannte. Kapp erstarrte in der Bewegung, machte aber sonst keine Anstalten ihren Worten zu folgen.
Nami sah ihren Vater jetzt nur aus den Augenwinkeln heraus, all ihre Aufmerksamkeit war auf Kapp gerichtet. Sie hatte die Waffe im Anschlag, sie würde abdrücken, sobald er auch nur die kleinste falsche Bewegung machte.
„Sofort!“ Ihre Stimme war mehr ein drohendes Zischen, als sie von hinten näher an ihn herantrat. Er ließ die Waffe fallen, sie landete im Schnee auf dem Steg. Sie war jetzt dicht hinter ihm und schlug die Pistole mit dem Fuß von ihnen weg, die Waffe rutschte über den Schnee hinweg vom Steg und fiel mit einem dumpfen Laut ins Wasser.
Kapp sagte nichts, er hatte den kleinen Koffer immer noch in der Hand. „Geben Sie ihm den Koffer!“
Diesmal gehorchte er ihrem Befehl sofort und stellte den Koffer vor ihren Vater hin, der ihn wieder an sich nahm.
Sie packte ihn mit der anderen Hand an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Sie hielt ihm den Lauf der Pistole hart unters Kinn, während sie ihn am Kragen festhielt. Einige Sekunden sahen sie sich nur an. In den Augen dieses Mannes sah sie Machtgier und Verbitterung, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war inzwischen der Angst gewichen. Dieser Mann war einer der Haupttäter, er war verantwortlich, dass ihr Vater sich praktisch sein ganzes Leben lang verstecken musste.
„Nennen Sie mir nur einen Grund, warum ich Sie nicht sofort erschießen sollte...!“ Wut und Haß sprachen aus ihrer eiskalten Stimme, als sie den Mann, der kleiner war als sie selbst, nur noch härter am Kragen packte.
Ein Rufen und Schritte. Sie kamen von weiter hinten, und Nami drehte den Kopf. Sie sah einen von Kapp’s Männern auf sie zurennen, doch plötzlich wurde er von jemandem angefallen und nach unten in den Schnee gezogen. Es war Baumgartner, der sich auf den letzten noch verbleibenden Wachmann gestürzt hatte.
Gerade noch sah sie, wie er ihm einen Hieb verpaßte, als sie spürte, wie ihr die Waffe hart aus der Hand geschlagen wurde. Sie hörte den Warnschrei ihres Vaters, doch es war schon zu spät. Kapp stieß sie von sich weg, so dass sie in dem Schnee beinahe gestürzt wäre.
„Sie werden mich nicht aufhalten, Katze!“ Sie sah nur, wie er etwas in der Sonne aufblitzen ließ und damit auf sie zukam. Sie sah seine Armbewegung, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Ein kurzer Schmerz durchzuckte sie, und sie sah etwas Blut ihren rechten Arm herunterlaufen, dort, wo das Messer sie getroffen hatte. Einen hatte er, mehr würde er nicht bekommen.
Ein Schrei, und er kam mit gezücktem Messer auf sie zugerannt. Sie wich ihm aus, er setzte nach. Plötzlich stand ihr Vater hinter ihm, hielt mit einer Hand den Arm fest, mit dem Kapp das Messer hielt. Kapp wollte sich dagegen wehren und den Angreifer abschütteln, aber Michael packte ihn nur noch fester. Das gab ihr genügend Spielraum, um Kapp das Messer mit einem Tritt aus der Hand zu schlagen. Eine Sekunde später taumelte er zur Seite, als er von ihrem heftigen Faustschlag getroffen wurde.
Sie setzte nach, und er stürzte zu Boden, in den Schnee. Sie war jetzt über ihm, zog ihn mit einer Hand am Kragen hoch. Blut lief ihm aus der Nase, er war halb bewußtlos.
Sie hielt ihn auf halber Höhe, er war zu benommen um sich noch ernsthaft zu wehren. Ihre Faust fuhr hart auf seine Schläfe nieder, er sackte vollständig bewußtlos zurück in den Schnee. Sie blickte einige Sekunden auf den gefallenen Mann hinunter.
Erst als sie hoch sah, wurde ihr bewußt, dass es vorbei war. Sie sah ihren Vater dort stehen, gerade aufgerichtet, den Blick genauso stumm wie sie selbst auf sie gerichtet.
Sie waren am Ziel. Sie hatten so viel hinter sich, bis sie hier her gekommen waren, aber sie hatten niemals die Hoffnung aufgegeben. Sie sah nur seine Augen, als sie sich langsam aufrichtete. Alles andere wurde in diesem Moment unwichtig. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, in der sie sich gegenüberstanden, keiner sagte er ein Wort. Er tat einen Schritt auf sie zu. „Nami...!“
Das war das einzige, was er sagte. Aber dieses eine Wort, dieser Name beinhaltete all die Gefühle, die sich in seinen Augen widerspiegelten.
Dann brach das Eis. Sie lag in den Armen ihres Vaters. Sie wusste, dass jetzt alles wieder in Ordnung kommen würde. Egal, welche Schwierigkeiten noch auftauchen würden.

Sie war dem schwarzen Wagen quer durch die ganze Stadt hindurch gefolgt und hatte immer einen Abstand von einigen Wagen zwischen sich und ihm gelassen, war aber auch vorsichtig gewesen ihn nicht zu verlieren. Sie durfte sich nicht von ihm abhängen lassen, das Leben ihrer Schwester hing möglicherweise davon ab. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was die wollten oder was sie vorhatten. Sie wusste nur, dass
es die Leute der Gruppe - die Verfolger ihres Vaters - sein mussten, die den Anschlag verübt hatten. Vielleicht hatten sie, als sie gemerkt hatten, dass ihre Kugeln sie nicht treffen würden, beschlossen ihre Schwester zu entführen. Oder das war von Anfang an so geplant gewesen, und dann musste sie noch viel mehr auf der Hut sein vor ihrem teuflischen Plan.
Sie kannte sich in Zürich nicht gut aus, sie war auch nur einmal zuvor hier gewesen, aber sie merkte bald, wohin die Fahrt ging. Es war nicht schwer, dem Wagen auf der Autobahn, die aus Zürich hinausführte, unbemerkt zu folgen. Sie fuhren in Richtung Flughafen. Und sie hoffte, dass sie sie daran hindern konnte, in ein Flugzeug zu steigen und mit ihrer Schwester davonzufliegen. Sie musste ihr helfen, das musste sie ganz einfach.
Doch bald merkte sie, dass der Wagen nicht die notwendige Ausfahrt zum Flughafen nahm, sondern ein Stück weiter eine andere. Die Straße führte in das weit gefächerte Industriegebiet rund um den Flughafen. Alle möglichen Firmen hatten sich hier angesiedelt, Lagerhallen und Werkstätten verteilten sich über die Flächen.
Sie sah aus sicherer Entfernung heraus, wie der Wagen in eine Einfahrt einer Lagerhalle fuhr. Es schien hier ein wenig benutzter Teil des Gebietes zu sein, zumindest sah sie keine anderen Menschen um die Halle und die Nebengebäude herumlaufen. Das Gelände insgesamt war auch nicht sehr groß, von ihrer gegenwärtigen Position aus konnte sie drei Nebengebäude und eine Fabrikhalle zählen. Sie wiesen nicht darauf hin, was hier einmal hergestellt worden war oder immer noch wurde. Vorsichtig fuhr sie die Maschine noch ein Stück weiter heran. Den Wagen oder die Fahrer konnte sie nicht mehr sehen, weil sie hinter einer Ecke eines Nebengebäudes verschwunden waren, das ihr noch die freie Sicht auf das Lagerhaus nahm.
Sie stellte die Maschine ab und schlich sich näher an die Ecke heran. Als sie vorsichtig den Kopf um die Ecke schob, sah sie den Wagen dort vor einem Eingangstor stehen. Im Hintergrund bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein paar aufgestapelte Paletten und wenige Meter von sich selbst entfernt waren einige rote Fässer aufgestapelt worden.
Sie ballte die Hand zur Faust, als sie sah, wie einer der Männer ihre bewußtlose Schwester auf die Schulter hob und seinem Komplizen folgte, der auf die Tür neben dem großen Tor zusteuerte. Sie hatte keine Ahnung, was dieses ganze Szenario zu bedeuten hatte, aber sie würde es sicher bald herausfinden.
Sie sah den Blitz in der Mündung der Waffen erst, als die erste Kugel dicht neben ihrem Kopf in die Mauerecke einschlug. Sie riß den Kopf zurück, dann erst sah sie, woher die Kugeln kamen. Sie hatte hier keine Deckung mehr. Sie bemerkte das und hatte dann keine Zeit mehr, um sich Gedanken darüber zu machen.
Sie warf sich vorwärts, landete hart auf dem asphaltbedeckten Boden. Ein Luftzug an ihrem Kopf, ein stechender Schmerz an ihrem linken Arm. Im Liegen sah sie das Blut von ihrem Arm laufen, es war nur ein Streifschuß. Sie lag hinter den Fässern in Deckung, zumindest würden sie ihr für den Moment Schutz bieten können. Denn die Kugeln schlugen immer noch um sie herum ein, das war nun schon das zweite Mal heute, dass sie knapp den tödlichen Geschossen entging.
In einem entfernten Gedanken dachte sie an ihre ältere Schwester, die ihr vorhin zum inzwischen wiederholten Male das Leben gerettet hatte. Ob sie und der Anwalt es geschafft hatten? Ob sie ihren Vater noch rechtzeitig hatten retten können?
Ein Symbol tauchte direkt vor ihren Augen auf, es sah aus wie eine große, gefährliche Flamme. Darunter waren merkwürdige kleine Zahlenkombinationen geschrieben. Immer noch kamen die Kugeln, sie kamen wie kleine, pfeifende Boten des Todes von scheinbar allen Seiten auf sie zu und trafen sie doch nicht. Die roten Fässer türmten sich vor ihr auf wie eine riesige Schutzwand, vielleicht das einzige, was sie momentan vor den Kugeln schützte.
Aber da stimmte etwas nicht. Das Rot der Fässer wurde größer, die große Flamme, die sie eben noch gesehen hatte, wurde plötzlich riesig, sie schien überall zu sein. Zu spät erkannte sie das Symbol für Benzin auf den Fässern. Die Hitze und der Druck der Explosion schleuderten sie zurück, und sie landete mit dem Rücken hart auf dem Boden. Im ersten Moment schien es ihr alle Luft aus der Lunge zu ziehen. Der Knall der Explosion schien alles andere in ihrem Bewußtsein zu verschlingen, zumindest für einen Augenblick.
Es dauerte einige Sekunden, bis die Hitze nachließ und sie endlich wieder atmen konnte. Die Luft brannte sich wie Feuer in ihre Lunge, sie roch den Geruch von verbranntem Benzin und geschmolzenem Kunststoff. Der riesige Feuerball vor ihr hatte sich verkleinert zu einzelnen Flammen, die unsichtbaren Feinde hatten aufgehört zu feuern.
Es kam ihr in den Sinn, dass sie nun keine Deckung mehr hatte, als sie gerade noch sah, wie die zwei Männer mit ihrer Schwester im Inneren der Halle verschwanden. Die Tür schloß sich hinter ihnen, sie konnte sie nicht mehr sehen.
Ohne noch über irgendwelche Gefahren nachzudenken, richtete sie sich aus der kleinen Deckung auf, die ihr die brennenden Fässer noch gaben, und lief in gebückter Haltung quer über den Platz. Sie wusste, wer immer noch da war, der auf sie geschossen hatte, hatte jetzt ein bequemes Ziel, doch das kümmerte sie im Moment überhaupt nicht. Sie musste zu Love, das war das einzige, was für sie zählte.
Sie schien die Feinde überrascht zu haben, denn die Kugeln flogen weit an ihr vorbei. Sie hatten anscheinend nicht damit gerechnet, dass sie nach der Explosion noch im Stande war zu Laufen. Tatsächlich hatte sie nur den einen Streifschuß am linken Oberarm davongetragen, ansonsten war sie in Ordnung.
Schon hatte sie die Deckung des schwarzen Wagens erreicht. Ein dritter Mann stieg aus der Fahrertür, ein Kick von ihr sandte ihn mit einem überraschten Schrei zurück ins Wageninnere. Eine Sekunde später wurde er aus dem Wagen gezerrt, ein weiterer Schlag ließ ihn bewußtlos auf dem Boden zusammensacken. Sie ging in die Knie, als sie wieder die Kugeln um sich herum einschlagen hörte. Sie nahm dem niedergeschlagenen Fahrer seine Waffe aus dem Gürtel. Die anderen schienen jetzt sparsamer mit ihrer Munition umzugehen, denn sie legten eine kurze Feuerpause ein. Sie lugte durch die inzwischen zerschossenen Fenster des Wagens und zog den Kopf sofort zurück, als sie das Blitzen der Mündung sah. Die Kugel verfehlte sie, aber jetzt wusste sie zumindest, wo einer von ihnen stand.
Sie kroch an dem auf dem Boden Liegenden vorbei, als ihr etwas auffiel, das er in der Hand hielt. Die untergehende Sonne spiegelte sich glitzernd darin und ließ sie aufmerksam werden. Sie nahm es ihm aus der schlaffen Hand. Es war eine gläserne Ampulle, sie war leer. Auf dem Etikett stand eine medizinische Fachbezeichnung, die sie nicht verstand, aber sie vermutete, dass es irgendwelche Drogen gewesen sein mochten, die man ihrer Schwester gegeben hatte. Auch dafür würden sie bezahlen müssen...!
Grimmig ließ sie die Ampulle zu Boden fallen und packte ihre Waffe fester. Als er das nächste Mal schoß, konnte sie den Standort des einen Schützen genau feststellen. Er stand auf einer erhöhten Position. Ein grimmiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie sah, was er da direkt neben sich stehen hatte.
Eine gezielte Kugel von ihr genügte, die Fässer neben dem Schützen in einem ohrenbetäubenden Knall in die Luft fliegen zu lassen. Sie hörte seinen Schrei, der in dem Brüllen der Explosion beinah unterging, und sah, wie er schwer auf den Boden stürzte.
Sie zog den Kopf zurück, als die Kugeln des zweiten Schützen neben ihr einschlugen. Es waren nur zwei von ihnen, das hatte sie inzwischen herausgefunden. Sie hatte keine Zeit mehr, sich um den Ersten zu kümmern, der würde sowieso für eine Weile außer Gefecht gesetzt sein. Sie fürchtete, dass ihr die Zeit davonlief. Was immer sie mit ihrer Schwester vorhatten, sie musste es verhindern.
Wieder sah sie das Blitzen der Mündung der MP, als der Schütze sich zum Zielen leicht aus seiner Deckung hervortraute. Die Kugeln verfehlten sie alle.
Einige Kugeln von ihr in seine Richtung waren die Antwort, doch sie wusste, dass sie nicht treffen würde. Als er sich das nächste Mal vorbeugte, schmetterte ihr eine Kugel die Waffe hart aus der Hand und durchschlug seinen Handknochen. Sie hörte seinen schmerzhaften Aufschrei. Sie hatte jetzt keine Zeit mehr sich um ihn zu kümmern, sie musste in die Halle hinein.

„Was wollen Sie überhaupt von mir?!“ Assayah war außer sich vor Wut, als sie von den beiden Männern in dunklen Anzügen den Gang entlang geführt wurde. Ihr waren die Hände mit Stricken hinter dem Rücken zusammengebunden, einer der Schränke hinter ihr hielt ihr eine Hand auf die Schulter, so als wollte er sie selbst jetzt noch am Fliehen hindern.
Sie bekam keine Antwort, sondern wurde nur mit noch mehr Eile den Gang entlang geschoben. Es hatte keinen Sinn sich zu sträuben, die Kerle waren zu stark für sie. Auch sie als nahkampferprobte Polizistin war mit gefesselten Händen und ohne ihre Waffe, die sie ihr während ihrer Bewußtlosigkeit abgenommen hatten, hilflos. Das machte sie um so wütender, je weiter diese Männer alle ihre Fragen ignorierten.
Sie hatten das Ende des dämmerigen Ganges erreicht, sie betrat einen Teil einer Lagerhalle, wie es schien. Die Decke war nicht sehr hoch, es war wohl nur ein Nebenraum. Er war leer bis auf einige Kisten und Werkzeuge.
„He, lassen Sie das...!“, zischte sie zwischen den Zähnen hervor, als sie von der kräftigen Männerhand in den Raum gestoßen wurde und beinah gestolpert wäre.
„Sie hätten sich da nicht einmischen sollen!“ Sie blieb stehen und sah in die Richtung der Stimme, die aus dem hinteren Teil des Raumes zu kommen schien.
Aus dem Dämmerlicht trat ein hagerer, alter Mann hervor. Die Züge waren von Alter und Bitterkeit gekennzeichnet, in seinen Augen lag eine Kälte und eine Art Dunkel, das sie momentan leicht schaudern ließ. Sein weißes, schütteres Haar war dünn geworden, die Gestalt steif aufgerichtet. Aus diesen Augen blitzte es wie eine dunkle Vorahnung eines Gewitters.
„Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie es wagen...!“ Weiter kam sie nicht, als sie aus den Augenwinkeln zwei weitere Männer den Raum betreten sah.
Als sie den Kopf wandte, sah sie, dass einer der beiden eine Person auf der Schulter trug. Sie bewegte sich nicht, sie war bewußtlos.
„Love?!...Verdammt, was haben Sie...!“
„Sie haben sich da in eine gefährliche Sache eingemischt, das kann tödlich für Sie werden!“, sagte der Hagere und winkte dabei dem Mann, der die junge Frau immer noch auf der Schulter trug. Alle zuckten sichtlich zusammen, als sie von draußen die Schüsse und das Schreien hörten.

„Sie scheint ja einfach nicht aufzugeben...!“ Der Hagere sprach die Worte grimmig, aber auch mit einer gewissen Achtung in der Stimme. Er winkte die beiden Männer, die sie hier her geführt hatten.
„Übernehmt ihr beiden sie. Sie wird es nicht schaffen, alleine alle meine Männer in Schach zu halten!“ Die beiden Männer zogen ihre Waffen und stürmten durch die Tür davon.
Die beiden Männer mit Love auf der Schulter verschwanden ebenfalls durch eine weitere Tür. Der Hagere und sie waren als einzige in dem kleinen Raum verblieben. Er trat zu ihr heran und machte eine
Bewegung ihnen zu folgen.
„Sie werden damit nicht ungestraft davonkommen.“ Obwohl Assayah die Angst spürte, die sich in ihrer Brust zu formen begann, war ihre Stimme kalt und klar. „Glauben Sie, Sie können eine Polizistin so einfach...!“
Er ließ sie nicht ausreden, denn er lachte auf und unterbrach sie. „Aber, aber, ich werde Sie doch nicht töten...!“ Sie gingen wieder durch einen kleinen Gang, bis sie schließlich in den großen Hauptraum der Lagerhalle kamen. Hier stapelten sich Kisten und Kästen, doch die Halle war längst nicht vollständig voll. Sie sah zwei Wagen nahe einem Tor stehen, in einigen Metern entfernt sah sie einen der Männer die junge Frau mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt von seiner Schulter laden.
„Sie wird es tun!“ Der Hagere machte eine Handbewegung zu der Bewußtlosen hin.
Assayah musste ein Lachen unterdrücken. „Sie!?“
„Kommen Sie!“ Der Hagere führte sie vor sich her mit einer Hand an ihrem Arm. Einer der Männer beugte sich über die Bewußtlose und gab ihr eine Spritze mit irgendeiner Droge darin. Der Hagere zwang sie, sich einige Meter neben ihr an die Wand gelehnt zu setzen, er nahm ihr die Fesseln ab. Assayah sah sehr wohl den zweiten Mann mit auf sie gerichteter Waffe dort stehen, keine Chance zu entkommen. Wenige Augenblicke später band der Hagere sie mit den festen Nylonstricken an ein Eisengeländer, das fest in die Wand eingelassen worden war.
In einer wütenden und hilflosen Geste zerrte sie an ihren Fesseln, konnte aber natürlich nichts gegen sie unternehmen. Das Lachen der Männer machte sie nur noch um so wütender.
„Geben Sie sich keine Mühe, Sie werden hier nicht lebend herauskommen...!“
Sie wollte sie anschreien, dann sah sie, wie die Bewußtlose langsam wach wurde. Der eine Mann kniete neben ihr und sprach in einem leisen Flüsterton auf die noch halb Ohnmächtige ein. Sie schien gefangen von seinen Worten, die Assayah nicht verstehen konnte.
„Was soll das alles? Was wollen Sie von ihr?“ Sie hatte irgendwie das unangenehme Gefühl, dass sie in eine Sache geraten war, die viel gefährlicher war, als sie hatte ahnen können.
„Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Sie haben sich da in eine Sache eingemischt, die Sie nicht einmal annähernd verstehen!“, antwortete der Hagere. Der Mann richtete sich von der inzwischen vollständig wach gewordenen Love auf. Assayah bemerkte, dass man sie nicht gefesselt hatte.
„So, wir werden Sie beide jetzt alleine lassen. Es gibt noch genügend andere Probleme, um die wir uns kümmern müssen.“ Mit diesen Worten verließen die Männer die Halle durch die Seitentür, durch die sie hier hereingebracht worden war.
Assayah sah sich jetzt wieder nach Love um, die inzwischen aufgestanden war. „Love, holen Sie mich aus diesen Fesseln raus, schnell! Ich kann sie vielleicht noch...!“ Ihre Stimme erstickte in ihrer Brust, als sie den Ausdruck in den Augen der jungen Frau sah, die einige Meter vor ihr stand und auf sie hinunterblickte.
„Mein Gott,...was haben sie mit Ihnen gemacht...?!“, flüsterte sie entsetzt.

Einige Sprünge über mehrere Kistenstapel und ein letzter Sprung brachten Hitomi auf das Dach der Lagerhalle. Das Dach war leer und mit feinem Kies bedeckt, in einiger Entfernung schien eine Treppe ins Halleninnere zu führen. Sie lief in gebückter Haltung auf diesen Eingang zu, stoppte aber augenblicklich, als sie hinter sich schwere Schritte im Kies hörte.
Sie wich dem Mann mit der durchschossenen Hand aus, als er sich schreiend auf sie stürzte. Er hatte keine Waffe mehr, seine rechte Hand konnte er nicht mehr gebrauchen. Ein Tritt von ihr ließ ihn aufstöhnend in die Knie gehen, mit dem nächsten Tritt lag er ohnmächtig auf dem Dach.
Sie hatte keine Ahnung, wie viele von denen noch da waren. Sie wirbelte auf dem Absatz herum, als sie hinter sich gedämpfte Stimmen hörte. Sie kamen näher.
Als der erste der beiden Männer gerade aus der Tür zum Dach treten wollte, sandte ihn ein Kick von ihr schreiend rückwärts. Er riß seinen Komplizen mit sich in die Tiefe. Sie hörte, wie die beiden schreiend die Treppe hinunterfielen und dann hart auf einer Plattform landeten, von wo aus eine Treppe weiter nach unter
führte.
Keine Zeit zum Nachdenken, sie zog die Waffe aus dem Gürtel und war durch die Tür verschwunden. Sie hielt die Waffe auf die beiden liegenden Gestalten gerichtet, die sich nicht mehr rührten. Sie überprüfte sie vorsichtig, sie waren nur bewußtlos und würden es auch noch für eine Weile bleiben.
Jetzt sah sie sich zum ersten Mal um. Sie befand sich auf der Treppe einige Meter über dem Boden, in einem kleinen, vom Rest der Halle augenscheinlich abgetrennten Teil. Es waren Kisten aufgestapelt, an der einen Wand sah sie eine Tür.
Sie behielt die Waffe in der Hand. Das hier war alles andere als Routine, und sie musste jeden Augenblick darauf gefaßt sein, dass wieder von irgendwoher die Kugeln flogen. All ihre Nerven und Muskeln waren bis in die kleinste Faser angespannt. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie mit angelegter Waffe langsam und vorsichtig die noch verbleibenden Treppenstufen hinunterstieg.
Doch alles schien still, nichts rührte sich. Sie hörte keinen Laut mehr außer dem Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem Metallgitter der Treppenstufen.

Sie bemerkte die Anwesenheit eines anderen Menschen im Raum früher als den Knall der Waffe. Sie stand jetzt auf festem Boden und warf sich hinter eine der Kisten in Deckung. Noch im Liegen legte sie die Waffe an und feuerte auf die Stelle, wo sie eben den Mündungsblitz gesehen hatte.
Mit einem schmerzhaften Schrei ging der Angreifer zu Boden. Sie wusste nicht, ob sie ihn lebensgefährlich verletzt hatte, aber das war ihr im Moment auch egal.
Sie lag immer noch auf dem Betonfußboden. Plötzlich drehte sie den Arm und feuerte auf den Schatten hinter ihr. Mit einem Schrei wurde auch ihm die Waffe aus der Hand geschlagen, aber er trug keine weiteren Verletzungen davon. Er stürzte sich auf sie. Nur aus einem Reflex heraus packte sie den Angreifer beim Kragen und schmiß ihn über sich hinüber. Er landete krachend in einem der Kistenstapel und wurde von den Kisten begraben.
Sie hatte ihre Waffe aus der Hand verloren, aber das kümmerte sie nicht. Immer in Deckung der Kisten lief sie geduckt die wenigen Meter bis zu der Tür, die aus dem Raum hinausführte.

Dicht an die Wand gedrückt öffnete sie mit einer Hand die Tür, die ohne einen Laut aufschwang. Als sie vorsichtig um die Ecke lugte, sah sie vor sich den Hauptteil der Halle. Hier waren ebenfalls Kisten teilweise bis unter die Decke aufgestapelt. Weiter hinten, in der Nähe des großen Haupttores, standen zwei dunkle Wagen. Allerdings schien sich hier drin niemand sonst aufzuhalten.
Sie schlich sich weiter, ihre ganzen Sinne angespannt, auf jede noch so kleinste Bewegung und jedes noch so kleinste Geräusch achtend. Sie zuckte zusammen, als sie eine gedämpfte Stimme aus dem hinteren Teil der Halle hörte. Das konnte doch gar nicht sein. Hinter einem Kistenstapel verborgen beobachtete sie mit angehaltenem Atem das Schauspiel, das sich ihr in einigen Metern Entfernung bot.
Sie sah Unterinspektor Assayah mit Stricken an eine in der Wand eingebetteten Stange gefesselt am Boden sitzen, vor ihr stand ihre Schwester mit einer auf sie gerichteten Pistole. Sie konnte nicht glauben, was sie
sah und hörte, das konnte doch nur ein schrecklicher Alptraum sein.
„Sie hätten sich früher überlegen müssen, mit wem Sie sich anlegen!“ Die Stimme ihrer Schwester war eiskalt, fremd. Sie hatte etwas mörderisch entschlossenes an sich, und Hitomi fuhr unwillkürlich schaudernd zusammen. Das da konnte nicht ihre Schwester sein, obwohl sie im selben Moment einsehen musste, dass sie es eben doch war. Was hatten sie mit ihr gemacht? War das Zeug aus den Ampullen dafür verantwortlich?
„Ich weiß, dass Sie das nicht wirklich tun wollen, Love. Hören Sie mir zu...!“ Assayah’s Stimme verriet ihre Angst, hatte aber die Entschlossenheit der Polizistin noch nicht ganz verloren. Sie wurde von einem Schlag ins Gesicht unterbrochen.
„Seien Sie still! Sie bringen mich nicht davon ab!“, zischte Love und entsicherte die Waffe.
Eine Karte flog blitzartig auf sie zu und riß ihr die Pistole aus der Hand. Die Karte bohrte sich weiter hinten in das Holz einer Kiste, die Waffe schlitterte außer Reichweite. Mit einem Schrei wirbelte Love herum.
„Ich kann dich das nicht tun lassen!“ Hitomi hatte keine Ahnung, wie sie die Worte so ruhig herausbrachte, als sie langsam aus ihrer Deckung hervortrat.
Der Ausdruck in den Augen ihrer Schwester hatte nichts Warmes an sich, er war kalt, fremd. Ihre Augen funkelten in Haß, Kälte und Hohn auf sie und ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Einen solchen Ausdruck hatte sie noch niemals gesehen, etwas derartig Fremdes...
Mit einem kalten Hochziehen eines Mundwinkels, das sehr an das Zähnefletschen eines Tigers erinnerte, erwiderte Love: „Du warst in meinem Plan nicht vorgesehen, Schwesterchen...!“
„Das ist nicht dein Plan! Das ist Berger’s Plan, oder?!“
Die beiden Schwestern standen sich einige Momente schweigend gegenüber, sie schienen alles andere um sich herum vergessen zu haben. Wieder grinste Love. „Gut, dann werde ich dich eben auch töten...!“
„Ich weiß nicht, was sie mit dir gemacht haben. Aber du musst dagegen ankämpfen! Ich weiß, dass du noch da drin bist, du bist kein Mörder...!“
Die beiden begannen im Kreis zu gehen, den anderen nicht eine Sekunde aus den Augen lassend. Hitomi wusste, sie musste ihre Schwester zur Vernunft bringen, sah aber ihre Chancen mit jedem kalten Blick schwinden, sie mit Worten von der Wirkung dieser Drogen zu befreien.
„Berger hat dir das angetan, stimmt’s?! Wenn er es bei Vater nicht schafft, will er zumindest uns zerstören...!“
Love bückte sich, ohne ihre Schwester dabei aus dem Blick zu lassen. Sie hatte eine Eisenstange in der Hand, die sie zum Zuschlagen bereit hielt. Hitomi war klar, dass sie nicht zögern würde, auf sie damit loszugehen. Diese Drogen schienen die Person, die sie sonst war, zu unterdrücken und durch eine völlig neue zu ersetzen.
„Ich werde nicht mit dir kämpfen, Love.“
Ein eiskaltes Aufblitzen in den Augen ihrer Schwester. „Dann stirbst du eben ohne Kampf!“ Sie stürmte auf sie zu, die Stange gegen ihren Kopf gerichtet.
Hitomi wich ihr aus, hörte das Holz der Kiste splittern, als die Eisenstange über ihren Kopf hinwegschlug. Love drehte sich blitzschnell um und schlug ein zweites Mal zu. Auch diesmal verfehlte sie sie. Aber Hitomi merkte, welche Kraft hinter den Schlägen steckte. Sie hätte ihr sofort den Schädel zertrümmert, wenn sie getroffen hätte. Die Drogen schienen ihre Kräfte auf eine merkwürdige Art und Weise zu mobilisieren.
„Love, komm wieder zu dir!“ Sie wich einem erneuten Angriff nur knapp aus, spürte den harten Luftzug an ihrem Kopf. „Die haben dir Drogen gegeben!“
Die einzige Anwort war ein Schrei, wieder sah sie die Stange auf sich zurasen. Wieder wich sie aus und hatte in der nächsten Bewegung die Stange mit beiden Händen gepackt. Beide hielten jetzt die Stange, es war ein Kräftemessen. Es war unglaublich, wie die Drogen die Kräfte ihrer Schwester vervielfacht hatten. Beiden rangen miteinander.
Sie spürte, wie sie zurückgedrängt wurde, wie sie dieses stumme Kräftemessen zu verlieren begann. Die Wunde des Streifschusses von gerade eben hatte sie zusätzlich geschwächt, sie wusste nicht, welche Kraft sie noch von ihrer Schwester zu erwarten hatte.
Die Stange wurde ihr mit einem Ruck aus den Händen gerissen. Sie sah noch, wie die Stange herumgeschwungen wurde und duckte sich instinktiv. Ein kurzer, stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf, der ihre Nervenbahnen entlangraste. Sie spürte das Blut an ihrer Stirn herablaufen, für Augenblicke begann sich ihr Blick zu vernebeln. Sie verlor leicht das Gleichgewicht, ihre Gedanken schienen auf eine merkwürdige Art und Weise eine Zeit lang wie eingefroren zu sein.
Sie sah wie in Zeitlupe, wie die Stange ein zweites Mal auf sie zukam. Ihre jahrelang trainierten Instinkte übernahmen die Kontrolle über ihren Körper, sie trat ihr die Stange mit einem harten Kick aus der Hand. Sie hörte den Stahl einige Meter weit von ihnen entfernt mit einem Klirren auf den Boden schlagen. Love wich leicht zurück, ließ sie aber keine Sekunde aus den Augen.
„Ich bin nicht dein Feind...! Du darfst dich nicht von ihm unter Kontrolle halten lassen.“
„Du sagst mir nicht, was ich tun soll...!“, wurde sie von Love knurrend unterbrochen. Das kalte Funkeln in ihren Augen wurde zu einem offenen Feuer, das alles vernichtete, das wagte in seinen Weg zu treten. Hitomi sah sich momentan von diesen Augen gefangen, es war, als hätten sie eine eigenartige Wirkung, die sie in ihren Bann zog. Sie wollte sich von diesem Blick losreißen, doch sie konnte nicht. War das so etwas wie Hypnose, die sich nun auch auf sie übertrug? Mit einem entfernten Gedanken dachte sie an die Polizistin, die immer noch an die Wand gefesselt war. Der Gedanke verschwand jedoch so schnell, wie er gekommen war, als sie Love einen Schritt auf sich zutreten sah, und immer noch konnte sie ihren Blick nicht aus dem ihrer Schwester loslösen.
„Das hast du lange genug getan...!“, zischte Love. Hitomi sah sie wie in Zeitlupe auf sie zukommen, sie schien von ihren Augen noch immer festgehalten zu werden, denn sie konnte sich einfach nicht bewegen. Sie sah den Schlag kommen, doch sie konnte nichts tun, um ihm auszuweichen, sie schien auf den Boden festgezaubert worden zu sein. Erst der Schmerz rüttelte sie aus ihrer Erstarrung wieder wach, sie taumelte von der Wucht des Schlages gezwungen nach hinten, das Blut lief ihr aus dem Mundwinkel.
Ungläubig wischte sie sich das Blut vom Gesicht, dann blieb ihr keine Zeit mehr zum Nachdenken. Sie hörte mehr den Luftzug des Schlages, als dass sie die Faust wirklich sah. Ihre Hand schnellte hoch, sie packte Love’s Handgelenk und hatte sie im nächsten Moment mit Hilfe ihrer zweiten Hand weit von sich geschmissen. In dem Stoß lag eine solche Wucht, dass die Überraschte einige Meter entfernt auf dem Boden landete.
Für einen kleinen Moment schien das Feuer in den Augen ihrer Schwester zu versiegen, als sie dort auf dem Boden lag und sie sich sekundenlang wieder nur ansahen. Wieder hatten die Instinkte Kontrolle über ihren Körper genommen. Hitomi hatte keine Ahnung, was sie gerade eben an den Blick ihrer Schwester gefesselt hatte, aber so einfach würden die nicht damit durchkommen.
„Das bist nicht du! Wenn du mich umbringen willst, musst du mich schon holen...!“ Mit diesen Worten sprang sie hoch in die Luft, landete auf einem Kistenstapel, sprang auf einen weiteren und war in der nächsten Sekunde auf dem Metallgitter des von der Decke her angebrachten Ganges gelandet. Die vermutlich für die Arbeiter angebrachten Fußsteige unter der Decke zogen sich beinah durch die ganze Halle, immer am Rand entlang. An einigen Stellen führten Treppen nach unten, an einer Stelle auch nach oben aufs Dach.
Sie sah, wie sich ihre Schwester mit einem kalten Grinsen um die Mundwinkel vom Boden aufrichtete. Mit wenigen Sprüngen über die Kistenstapel war sie bei ihr. Sie stieg über das Geländer ohne sie dabei ein einziges Mal aus den Augen zu lassen.

Hitomi sah wieder das Feuer in den Augen ihrer Schwester, während sie sich beide auf dem schmalen Gitter des Ganges gegenüberstanden. Links und rechts war das Geländer, über ihnen die Decke, einige Meter unter ihnen lag die Halle mit ihren aufeinandergestapelten Kisten.
Es gab hier keinen Weg an der Konfrontation vorbei, aber sie war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob sie es überhaupt noch vermeiden konnte, mit ihr zu kämpfen. Sie schien mit Worten bei ihr nichts zu erreichen. „Na..., merkst du, dass ich besser bin als du, Schwesterchen?!“ In Love’s Stimme lag eiskalter Hohn, sie trat einen Schritt vor. Hitomi wich unter ihrem stechenden Blick unwillkürlich zurück.
„Du wirst nichts tun können, um mich aufzuhalten...!“, fuhr Love lachend fort, es klang wie das Lachen eines Raubtieres kurz vor dem Sprung.
Hitomi wartete keine Sekunde länger. Völlig unerwartet sprang sie hoch in die Luft und dann mit einem Salto über Love hinweg. Sie landete hinter ihr, ihre Schwester wirbelte herum.
„Wenn du mich haben willst, musst du schon schneller sein!“
Love schmiß sich ihr mit einem Schrei entgegen. Das kam so unerwartet, dass Hitomi keine Zeit mehr zum Ausweichen blieb, sie wurde von der Wucht mit ihrer Schwester zusammen nach unten auf die Metallgitter geworfen. Sie landeten hart auf dem Gitter, der Schmerz des Aufpralls fraß sich momentan durch ihre Nervenbahnen.
Eine Sekunde lang sah sie die Blitze sprühenden Augen über sich, dann wurde sie von einem Faustschlag getroffen, der ihren Kopf hart gegen den Stahl knallen ließ.
Der Schmerz flammte in ihrem Gehirn auf wie ein leuchtend rotes Warnfeuer, für Momente konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Ihre Instinkte reagierten selbst für sie ungewöhnlich heftig, als sie mit ihrer freien Hand Love einen Kinnhaken verpaßte, die mit einem schmerzlichen Zischen den Griff um ihr anderes Handgelenk lockerte. Das verschaffte ihr den Raum, ihr rechtes Bein zu benutzen, um die über ihr Liegende mit einem heftigen Stoß zurückzuschlagen.
Love kam dadurch wieder auf die Beine, es entstand ein Raum von mehreren Metern zwischen ihnen. Das ließ Hitomi die Zeit selber wieder aufzustehen. Sie fühlte sich von dem Schlag benebelt und spürte das warme Blut an ihrem Kinn hinablaufen, doch sie schaltete das jetzt alles aus.
Sie standen sich beide schwer atmend gegenüber, der Blick in den Augen ihrer Schwester machte Hitomi von Sekunde zu Sekunde mehr Angst. Aber noch viel mehr Angst machte ihr ihre eigene Reaktion. Sie spürte, wie sie zusehends die Kontrolle verlor. Sie durfte nicht vergessen, dass das immer noch ihre Schwester war, mit der sie da kämpfte, auch wenn die jetzt eine völlig Andere geworden zu sein schien.
„Siehst du denn nicht, dass Berger dich benutzt, uns beide benutzt?!“ Sie wischte sich dabei das Blut vom Kinn und trat einen Schritt auf Love zu. „Er ist der Feind, nicht ich...! Er ist der, der uns unseren Vater genommen hat!“
Sie hatte gehofft, dass die Erwähnung ihres Vaters zumindest irgend etwas in ihrer Schwester auslösen würde. Sie musste die Kontrolle wiedergewinnen, wenn eine von ihnen beiden sie schon verloren hatte, durfte sie sie nicht auch noch verlieren.
„Du lügst! Das ist nicht wahr!“, knurrte ihr Gegenüber und kam einen Schritt näher. Die Distanz zwischen ihnen hatte sich auf Armeslänge verringert.
„Das ist es, oder?! Er hat deine Erinnerung nicht irgendwie gelöscht, er hat die Wahrheit verdreht...!“
Sie sah die Augen ihrer Schwester wieder gefährlich aufflammen und machte sich dazu bereit, einem erneuten Angriff zu entgegnen.
„Wahrheit...!“, schnaubte Love. „Was ist denn schon Wahrheit in unserem Leben?! Die ganzen letzten Jahre haben wir nach einer Lüge gelebt!“
Sie griff wieder an, doch Hitomi parierte den Schlag und hielt ihr Handgelenk wie mit einer Eisenklammer, ihre andere schloß sich um die Schulter ihrer Schwester. Ihre Augen verfinsterten sich, sie zog die Augenbrauen zusammen.
„Sie hetzen uns gegeneinander auf, merkst du das nicht?! Was immer sie dir gesagt haben, es ist nicht wahr!“
„Nein!“ Es war ein zorniger Aufschrei, mit dem sich Love ruckartig aus ihrem Griff befreite. Von einem harten Faustschlag getroffen wurde Hitomi gegen das Geländer zurückgeschleudert. „Was weißt du denn schon von Wahrheit?!“
Ein weiterer Schlag ließ sie fast in die Knie gehen. Über sich sah sie das vor Zorn zu einer steinernen Maske gewordene Gesicht. „Du hast alle belogen, selbst Toshi! Also erzähl’ mir nichts von Wahrheit!“
Hitomi benutzte ihr rechtes Bein um ihr beide Beine wegzufegen, Love stieß einen überraschten Schrei aus. Sie ließ ihre Faust hart gegen Love’s Kinn fahren, so dass ihre Schwester zur Seite auf das Geländer stürzte. Sofort war Hitomi wieder auf den Beinen. Alles in den letzten Sekunden hatte sich automatisch abgespielt, sie fühlte, wie sie wieder die Kontrolle über sich verlor. „Ja, ich habe gelogen. Genau wie wir alle den Preis gezahlt haben.“
Love lag immer noch auf dem Gitter und kam jetzt langsam wieder hoch.
„So einfach werde ich es ihm nicht machen!“ Mit diesen Worten sprang Hitomi über das Geländer auf einen Kistenstapel und dann mit einem Salto auf festen Boden.


Assayah sah Hitomi wieder auf dem Boden landen, sie schien den Sprung scheinbar mit Leichtigkeit zu schaffen - sie hatte ihn in den letzten Jahren sicher auch mehr als einmal ausgeführt.
Das war Wahnsinn, was hier vor ihren Augen ablief. Diese ganze Situation war wahnsinnig, noch immer spürte sie die beängstigen Augen von Love sich in ihre brennen. Da war nichts gewesen außer Finsternis und Haß.
Sie selbst war hier an die Wand gefesselt und musste hilflos mit ansehen, wie die beiden Schwestern sich halb zu Tode schlugen. Sie fing einen kurzen Blick von Hitomi auf, der ihr sagte, wie viel Angst sie um ihre Schwester hatte. Sie sah die Angst, die Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren auf ihrem Gesicht geschrieben, bevor der Blickkontakt zwischen ihnen abriß. Love war inzwischen auch hinuntergesprungen, sie standen sich wieder gegenüber.

Neben ihnen beiden türmten sich einige der Kisten zu Stapeln auf. Das Blut lief Love am Kinn hinunter, sie schien es nicht zu bemerken. Hitomi dachte daran, dass sie dafür verantwortlich war, und ihr liefen Schauer den Rücken herunter. Die Augen ihrer Schwester waren noch genauso angsteinflößend, kalt und fremd, aber gleichzeitig von einem unheimlichen Feuer.
Sie sah etwas in ihrer Hand aufblitzen, im nächsten Augenblick sah sie es auch in Love’s Augen wieder aufblitzen. Sie kam einen Schritt auf sie zu, Hitomi wich zurück, jeden kleinsten Teil ihres Körpers angespannt.
Love verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. „Hast du etwa Angst vor mir, große Schwester?!“
„Du musst aufhören damit...!“ Sie wich einen weiteren Schritt zurück. „Weißt du noch, was für ein Gefühl es war, Vater zu verlieren? Nicht zu wissen, ob er noch lebt, oder ob sie ihn umgebracht haben...! Berger ist all die Jahre damit durchgekommen, und er kommt wieder damit durch, wenn wir ihn diesmal nicht stoppen!“
Sie blieb stehen, fixierte den Blick ihrer Schwester. Diesmal würde sie die Kontrolle behalten, Berger konnte sie nicht zerstören...!
„Du bist schlau, aber das wird dir jetzt nichts mehr nützen...!“
Hitomi sah, wie Love ihr scheinbar in Zeitlupe entgegenflog, die Klinge blitzte in ihrer Hand, sie war gegen sie gerichtet. Sie blockte den Arm ab, die Klinge des Springmessers war nicht weit von ihrer Kehle entfernt. Für eine halbe Ewigkeit sahen sie sich an, sie sah in den Augen ihrer Schwester den Haß lodern, den unkontrollierten Spaß am Töten...!
Lange würde sie das mit ihrer Armverletzung nicht mehr durchhalten, sie spürte, wie sie zurückgedrängt wurde, sie hatte keine Wahl als dem enormen Druck nachzugeben. Die Schmerzen waren vergessen, wieder war sie in ihren Augen gefangen.
„Merkst du, wie du verlierst?!“, grinste Love höhnisch.
Das riß Hitomi aus ihrem Bann. Mit einem wütenden Knurren verdrehte sie ihr den Arm plötzlich und so heftig, dass diese mit einem überraschten und schmerzhaften Aufschrei die Waffe fallen lassen musste. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihr den Arm gebrochen. Sie erwartete fast das Knacken von Knochen zu hören. Mit der zweiten Hand packte sie ihre Schulter, die andere behielt Love’s Arm in einem eisernen Griff.
Mit einem Schrei schleuderte sie sie weit von sich. Love wurde dadurch hart gegen einige Kisten geworfen, sie hörte das Holz splittern. Einige Sekunden lang war alles still. Sie sah ihre Schwester dort zwischen den Kisten liegen, sie richtete sich nur langsam wieder auf.
Sie hatte schon wieder die Kontrolle verloren. Ihr erster Impuls war, zu ihr hin zu laufen und ihr zu helfen. Als sie sich daran erinnerte, dass Love nicht mehr sie selbst war, blieb sie stehen. Sie stand einfach nur da und sah zu, wie Love mit etwas Mühe wieder auf die Beine kam.
Als sie ihren Blick hob und ihr in die Augen sah, erschrak Hitomi. Das Blut lief ihrer Schwester die Schläfe hinab, der Mund war wieder zu einem Grinsen verzogen.
„Endlich fängst du mal richtig an zu kämpfen...! Na los, komm schon, zeig, was du drauf hast, Katze...!“ Sie kam langsam einige Schritte auf sie zu, sie hinkte leicht, aber das schien sie nicht zu stören.
„Wir müssen aufhören damit, wir beide...! Wir müssen die Kontrolle behalten!“ Hitomi wich einen Schritt zurück, während Love immer näher kam.
„Aber es macht Spaß die Kontrolle zu verlieren, nicht wahr?!“
Plötzlich warf sie sich ihr mit einem Schrei entgegen. Hitomi kam es so vor, als würde sie für unendliche Sekunden in der Luft schweben, als würde der Schrei für eine Ewigkeit zwischen ihnen hängen. Sie spürte, wie sie auf einmal das Messer in der Hand hatte, Love wich mit einem Schrei zurück.
Sie sah eine Mischung aus Überraschung, Schmerz und Unglauben in ihren Augen, und zuerst wusste sie nicht, was passiert war.
Erst als Love zurückstolperte, sah sie den Griff des Messers aus ihrer Brust ragen.
Die Zeit stoppte, alles stoppte. Ihre Blicke waren miteinander verschlungen, alles andere hörte auf zu existieren. Wie in einem Traum sah sie Love den Griff mit beiden Händen umfassen, sie zog die Klinge heraus. Das blutige Messer landete mit einem Klirren auf dem Boden, das in ihren Ohren laut und schrecklich klang.
Sie konnte sich nicht bewegen, keinen einzigen Muskel, ihre Gedanken schienen still zu stehen, sie stand wie angewurzelt da. Sie war in ihrer Bewegung erstarrt, sie sah das T-Shirt ihrer Schwester rot werden vom Blut. Love taumelte weiter zurück. Der kalte, fremde Blick schwand aus ihren Augen, aber das Blut war immer noch da. Hitomi sah den Schock in ihren Augen, Love betrachtete ungläubig das Blut an ihren Händen. Schließlich sank sie an einem Kistenstapel zu Boden.
Jetzt endlich fand Hitomi die Kraft einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das konnte nur ein schrecklicher Alptraum sein, das durfte einfach keine Realität sein...! Sie war bei, kniete neben ihr.
„Hitomi..., was passiert mit mir?!“ Ihre Stimme hatte den fremden Klang verloren, es war nur ein Flüstern. Hitomi hielt ihre Schwester in den Armen, fürchterliche Angst und tiefer Schock in ihren Augen
„O Gott, was...was hab’ ich getan?!“, stammelte sie. Sie wollte nicht, konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war.
Love berührte mit einer Hand ihre, Hitomi spürte das warme Blut daran. „Nicht deine Schuld...meine...!“ Sie sprach noch leiser und begann, die Augen zu schließen. „Müde...!“ Es war nur noch ein schwaches Flüstern.
„Nein, bleib’ wach! Bleib’ hier, Love...!“ Kalte Angst packte sie, als sie ihre Schwester sterben sah.
„Kann nicht...!“ Es war fast nur ein Hauch, ihre Augen waren beinah ganz geschlossen.
Für eine Ewigkeit war alles still, alles war gestoppt und eingefroren. Nichts um sie herum hatte mehr eine Bedeutung. Sie sah auf das Gesicht ihrer Schwester in ihren Armen nieder. Sie sah dort die furchtbare Gewißheit, dass sie ihre eigene Schwester umgebracht hatte...!
„Nein!!!“

Der Schrei hallte tausendfach in ihren Ohren wieder und zerriß die Stille mit grausamer Gewalt. Mit ihrem Taschenmesser hatte Assayah es endlich geschafft, sich von den Fesseln zu befreien. Sie war aufgesprungen und stand jetzt stocksteif da.
In einiger Entfernung sah sie Hitomi auf dem Boden knien, ihre Schwester in den Armen haltend. Die Polizistin fühlte sich leicht benommen, das hätte nicht so passieren dürfen. Wer immer der Hagere war, und was immer er von ihnen wollte, er hatte gewonnen. Er hatte die beiden Schwestern bewußt gegeneinander aufgehetzt und hatte sie selbst zur hilflosen Zeugin des unheimlichen Schauspiels werden lassen.
Sie hatte es geschafft, sie war endlich am Ziel. Sie hatte Katzenauge endgültig enttarnt, aber im Moment war ihr nicht nach Feiern zu Mute. Sie spürte keinen Triumph, keine Befriedigung, sie fühlte sich, als hätte sie gewonnen, aber dennoch verloren.
Langsam trat sie auf die beiden zu. Hitomi hob den Kopf, ihr Gesicht war überströmt von Tränen und Blut, ihre Augen leer und ausdruckslos. Assayah erschrak, das hatte sie so nicht gewollt...!
Vorsichtig ließ Hitomi den leblosen Körper ihrer Schwester zu Boden gleiten und richtete sich auf. Ihr Hemd war auch voller Blut, sie hatte getrocknetes Blut an ihrem Arm von der Wunde eines Streifschusses. Die Haare hingen ihr wirr in die Stirn, aber das furchteinflößendste waren ihre Augen. Da war nichts, sie waren absolut leer. Sie sah sie auch gar nicht direkt an, sondern an ihr vorbei.
„Jetzt können Sie mich als Dieb und als Mörder verhaften...!“ Ihre Stimme war tonlos und genauso leer wie ihre Augen.
Assayah stand immer noch regungslos da, sie brachte keinen Ton heraus. Hitomi ging an ihr vorbei, die Augen dabei die ganze Zeit auf etwas hinter ihr gerichtet. Erst als die Polizistin sich umdrehte, sah sie den Hageren dort vorne im dämmerigen Licht stehen.

Obwohl Hitomi ihn niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie sofort, wer es war. Sie hatte alles andere vergessen, die Polizistin, einfach alles. Sie wusste nur, dass er dafür verantwortlich war. Er hatte ihren Vater seit Jahrzehnten gejagt, er hatte sie dazu gebracht, dass sie ihre Schwester...!
Sie ging auf ihn zu, kam ihm Stück für Stück näher. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, schlugen mit voller Wucht auf sie ein, kamen immer wieder. Sie hatte kein Chance ihnen auszuweichen, vor ihnen zu fliehen, und je öfter sich die Gedanken in ihrem Kopf wiederholten, desto willenloser wurde sie ihnen gegenüber. Sie hatte ihren Entschluß schon längst gefaßt.
Sie wusste nicht wie, aber plötzlich hatte sie die Waffe in der Hand, diejenige, die sie ihrer Schwester vorhin aus der Hand geschmettert hatte. Ihr Kampf flimmerte noch einmal in sekundenschnelle an ihr vorbei, das „vorhin“ schien eine Ewigkeit entfernt zu sein. Das schwere Metall fühlte sich gut an, es gab ihr die Kontrolle wieder, die sie unbedingt wiederbekommen wollte.
Berger stand alleine und unbewaffnet völlig ruhig da, er bewegte sich auch nicht, als sie die Waffe entsicherte und auf ihn anlegte. Der Lauf war auf seine Brust gerichtet, es wäre so einfach jetzt abzudrücken. Sie merkte nicht einmal mehr, wie ihre Füße den Boden berührten, sie sah nichts außer dem Metall der Waffe vor ihren Augen und das Ziel, auf das sie gerichtet war.
Berger schwieg noch immer, je länger sein kalter, gleichgültiger Blick auf ihr lag, desto wütender wurde sie.
Sie hatte ihn erreicht, die Waffe berührte schon fast seine Brust. Sie standen nur stumm da und sahen sich an.
Sie sah sich selbst abdrücken, ein, zwei, drei Mal. Sie hörte den Knall der Waffe, sah den entsetzten Ausdruck in seinen Augen. Als er sich mit schmerzverzogenem Gesicht an die Brust griff, war das Blut an seinen Händen genauso rot wie das ihrer Schwester. Sie sah den alten Mann zusammenbrechen und verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln.
Plötzlich fror alles in der Bewegung ein, sie stand immer noch da, die Waffe auf den vor ihr Stehenden gerichtet. Es dauerte eine Sekunde, bis ihr bewußt wurde, dass sie nicht abgedrückt hatte. Einige Augenblicke lang war Stille.
„Na los, Katzenauge, drücken Sie schon ab! Nach all der Zeit haben Sie ein Recht dazu.“ Seine Stimme war vollkommen ruhig. Er wusste, er hatte so oder so schon gewonnen, er hatte sie zerstört.
Ein harter Schlag von ihr ließ ihn in die Knie gehen, Blut lief ihm aus einem Mundwinkel. Sie stand über ihm, die Waffe an seiner Stirn.
„Sie hatten das von Anfang an geplant, nicht wahr?! Alles hat hervorragend in ihren Plan gepaßt...!“ Ihre Stimme war eiskalt, aber auch voller Wut, Schmerz und Haß. Dieser Bastard verdiente nichts anderes als den Tod!
„Sie haben ihn niemals in Ruhe gelassen, Sie haben ihn die ganzen 40 Jahre gejagt!“
Er wischte sich das Blut vom Kinn und stand langsam wieder auf. „Sie können mich erschießen, wenn Sie wollen. Ich bin ein alter Mann, ich habe meine Zeit gehabt. Sehen Sie mich an, alles, was ich jetzt noch habe, ist ein bißchen Macht.“
Ein weiterer Faustschlag traf ihn. „Was hat er Ihnen denn getan?!“, schrie sie.
„Er existiert.“ Er machte eine kurze Pause. „Es wäre alles gut gegangen, aber dann tauchte Ihr Vater in Bern wieder auf.“ Langsam kam er hoch, sie hielt die Mündung der Waffe immer noch auf ihn gerichtet.
„Er hätte es niemals ohne Sie geschafft, Sie waren der Schlüssel seiner Stärke. Wenn also die Töchter von Heintz zerstört sind, wird auch er zerstört sein!“
„Nein...!“ Mit diesem wütenden Schrei schlug sie ihn ein weiteres Mal. Er taumelte zurück, blieb aber auf den Beinen.
„Vielleicht haben Sie uns zerstört, aber ihn werden Sie niemals kriegen!“ Eiskalte Wut lag in ihrer Stimme, sie holte kurz aus und schlug ihm den harten Metallgriff der Waffe ins Gesicht. Er wehrte sich immer noch nicht.
Er ging vom Schmerz gezwungen in die Knie, ein Fußtritt ließ ihn rückwärts auf den Betonboden schlagen. Sie kümmerte sich nicht darum, ob sie ihn zu Tode prügelte oder nicht. Dieser Kerl war für jede einzelne Sekunde der Sorge und der Angst der letzten Jahre verantwortlich, er hatte ihrer Schwester diese Drogen gegeben. Bilder der letzten Minuten ihres Kampfes mit ihr rasten in Fetzen durch ihren Kopf. Der ungläubige Ausdruck in Love’s Augen, als sie das Messer fallen ließ. Wie sie die Augen schloß.
Sie sah Berger vor sich liegen, sah im Geiste noch einmal diese ruhige Gewißheit des Sieges in seinen Zügen. Sie trat zu, hörte das dumpfe Geräusch, als ihr Stiefel hart mit seinen Rippen kollidierte. Er krümmte sich zusammen vor Schmerzen.
Schon war sie über ihm, zog ihn hoch und stieß ihn rückwärts gegen die Wand. Sofort hatte sie ihn am Kragen gepackt, die Waffe lag an seiner Schläfe. Sein Gesicht war blutüberströmt, er war fast bewußtlos.
Sie hatte gedacht, dass es schwieriger wäre, jemanden umzubringen. Jetzt schien es so leicht, so einfach. Immer wieder sah sie das Gesicht ihrer Schwester vor sich, sah das Blut an ihren eigenen Händen. Sie war auf einmal ganz ruhig. Der Schmerz hämmerte zwar immer noch in ihrem Kopf, aber er war jetzt leichter zu ertragen. Sie war bereit abzudrücken, und sie wusste, das würde sie auch...!

Eine Seitentür wurde aufgestoßen, sie fuhr herum, hielt Berger dabei weiter am Kragen gepackt vor sich. Eine Gestalt erschien in der Tür und trat jetzt langsam näher. Sie erstarrte, als sie ihren Vater erkannte. Es konnte nicht sein, das war nicht real.
Er kam Schritt für Schritt näher, sein Blick lag nur auf ihr und Berger, der immer noch nicht wieder richtig bei Bewußtsein war. Er war kaum gealtert, er sah beinah noch genauso aus wie vor sechseinhalb Jahren. Dann stand er da, nur wenige Meter von ihnen entfernt.
„Hitomi...!“ Es war so lange her, seit sie seine Stimme das letzte Mal gehört hatte. Es war doch alles nur ein Traum, oder?
„Vater?!“ Es war eine ungläubige Frage, sie konnte immer noch nicht recht glauben, dass das wirklich wahr sein konnte.
„Hitomi, bitte laß die Waffe fallen.“ Er trat langsam einen weiteren Schritt auf sie zu.
Sie hatte die Mündung immer noch an Berger’s Schläfe, ihre andere Hand hielt mit unverminderter Härte seinen Kragen gepackt.
„Ich...ich kann nicht...!“
„Doch, du kannst.“ Seine Stimme war sanft und fest. „Wirf dein Leben nicht weg wegen ihm, er ist es nicht wert.“
„Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Love ist tot! Ich hab’ sie umgebracht!“, schrie sie. Ihre letzten Worte trafen sie selbst am allerschlimmsten. „Ich hab’ sie umgebracht...“, wiederholte sie leise.

Assayah hatte alles verfolgt, was in den letzten Minuten geschehen war. Plötzlich ließ sie etwas den Kopf drehen, sie hatte etwas wahrgenommen, wusste aber nicht, was es war oder woher es stammte. Erst eine Sekunde später bemerkte sie, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie kniete bei Love nieder; ihr Hemd war noch genauso rot vom Blut wie vorher, ihre Augen waren geschlossen, aber etwas war anders. Da war es wieder, ein leichtes Klopfen, eher ein Kratzen. War da noch Leben?
Hoffnung keimte in ihr, als sie sofort den Puls untersuchte. Er war sehr schwach, dennoch war er da. Auch die Atmung war flach, aber sie lebte!
Sie sah, wie Love eine Hand bewegte, der Zeigefinger fuhr auf dem rauhen Betonboden entlang und erzeugte dieses kratzende Geräusch. Sie war zwar nicht bei Bewußtsein, aber...!

„Sie ist am Leben!“ Als sie das hörte, drehte Hitomi augenblicklich den Kopf zur Seite. Was war das gewesen? Sie sah die Polizistin bei ihrer Schwester auf dem Boden knien. Assayah sah jetzt hoch.
„Sie lebt noch, aber wir müssen ihr schnell helfen!“
Hitomi schwankte zwischen neuer Hoffnung und Unglauben. Sie sah wieder ihren Vater an, der noch genauso da stand wie zuvor. Immer noch hielt sie Berger die Waffe an die Schläfe, sie glaubte, er wäre auf dem Boden zusammengesunken, würde sie ihn nicht aufrecht halten.
Ihr Vater hielt ihr eine Hand entgegen. „Hitomi, gib’ mir die Waffe...!“, wiederholte er sanft. „Es ist noch nicht zu spät.“
Berger bewegte sich leicht, automatisch verstärkte sich ihr Griff an seinem Kragen. „Wir können ihn jetzt nicht so einfach davonkommen lassen,...nach allem, was er dir angetan hat.“
„Er wird nicht davonkommen, diesmal nicht. Er oder die anderen aus seiner Gruppe werden nie wieder ein Verbrechen begehen. Es ist vorbei, Hitomi.“
Sie warf einen weiteren Blick zu ihrer Schwester und der daneben knienden Polizistin hinüber, beinahe so, als erhoffe sie sich dadurch irgendeine Antwort. Es war so oder so zu spät, egal was sie jetzt tat. Assayah würde sie hinter Gitter bringen, sie hatte genug gesehen und gehört um sie zehnmal zu verhaften.
Sollte es tatsächlich so enden? Sie hatten alles gewonnen, alles erreicht, wofür sie die ganzen Jahre gekämpft hatten. Selbst wenn ihre Schwester noch lebte, sie hatten doch alles gewonnen und im selben Moment alles verloren.
Sie sah ihren Vater wieder an. Ob ihm klar war, dass er seine Töchter wieder hatte nur um sie gleich darauf zu verlieren? Was machte es dann noch für einen Sinn? Ob Berger jetzt starb oder seinen Prozeß bekam, war doch egal. Wenn er wegen seines Alters überhaupt verurteilt würde, die wenigen Jahre, die er danach im Gefängnis verbringen würde, könnten niemals das aufwiegen, was er ihnen allen angetan hatte. Also war doch der Tod die einzige angemessene Strafe für seine Jahrzehntelangen Verbrechen, oder?

Wenn du ihn jetzt erschießt, hat er gewonnen, antwortete die andere Stimme in ihr. Er will doch, dass du ihn umbringst. Das ist sein Plan, sein allerletzter Versuch, dich für seine Zwecke zu manipulieren. Wenn du ihm helfen willst, seiner Strafe zu entgehen und gleichzeitig dich selbst zu zerstören, dann nur zu, drück’ ab...!
Dieser Streit in ihrem Inneren schien eine Ewigkeit zu dauern, so dass sie kaum bemerkte, wie sie Berger die Waffe von der Schläfe nahm. Sie ließ ihn los, er taumelte nach vorne. Der Metallgriff der Waffe traf ihn in den Nacken, er sackte ohne einen Laut bewußtlos auf dem Boden zusammen. Sie hatte gar nicht richtig mitgekriegt, was sie in den letzten Sekunden getan hatte, als sie die Waffenmündung auf den Boden haltend ihrem Vater gegenüber stand.
Sie hörte kaum das Klirren, als sie die Waffe zu Boden fallen ließ. In der nächsten Sekunde hielt er sie in den Armen, sie wäre zu Boden gesunken, würde er sie nicht festhalten. Nur wie aus weiter Ferne hörte sie seine beruhigende Stimme, sie wusste nicht, wie viel Zeit verging.

Sie hatte auch die Martinshörner des Krankenwagens wie aus einer unwirklichen Welt kommend gehört. Die Ärzte hatten sie gleich mit behandeln wollen, aber das Blut auf ihrem Hemd war nicht ihres gewesen, ihre Schwester hatte deren Hilfe viel dringender gebraucht. Zumindest hoffte sie, dass sie ihnen das klar gemacht hatte. Sie hatten gesagt, Love hätte eine Menge Blut verloren, aber es gäbe gute Chancen, dass sie durchkommen würde. Die Fahrt war ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit, jede Sekunde konnte über Leben und Tod ihrer Schwester entscheiden. Die Gedanken an die Polizistin und das unvermeidliche Danach hatte sie aus ihrem Bewußtsein gedrängt, alles, was im Augenblick gezählt hatte, war das Überleben ihrer Schwester gewesen.
Die Gedanken kamen aber wieder, als sie jetzt neben ihrem Vater in einem Wartezimmer des Krankenhauses saß. Der Arzt hatte gesagt, wenn ihre Schwester den OP überleben würde, würde alles gut werden.
Was immer „gut werden“ in unserem Leben noch bedeutet, dachte sie mit einem zynischen Hochziehen der Mundwinkel. Sie hatte Assayah in dem ganzen Trubel aus den Augen verloren. Sie wusste immer noch nicht, wie die Polizistin eigentlich in diese Halle gekommen war. Es konnte nur zum teuflischen Plan Berger’s gehört haben, sie auf jeden Fall zu zerstören, auf die eine oder andere Weise. Auch wenn er selbst dabei auf der Strecke geblieben war, er hatte sein Ziel doch erreicht.
Michael sah seiner Tochter an, was sie dachte. Er wusste nicht, wer diese andere Frau in der Halle gewesen war, aber er konnte es sich denken. Er hatte die verschiedenen Gefühle in Hitomi’s Augen flackern sehen, als sie Berger die Pistole an die Schläfe hielt. Da waren Haß, Angst, Gleichgültigkeit und totale Verlorenheit gewesen, und er hatte Angst um sie bekommen. Er kannte sie so gut, aber er wusste nicht, ob er sie nach einer so langen Zeit noch richtig einschätzen konnte. Er wusste nur, wäre er an ihrer Stelle gewesen, hätte er vermutlich abgedrückt.
Er hatte sofort geahnt, wohin man Love gebracht hatte, als Nami ihm von der Entführung erzählt hatte. Seine älteste Tochter war bei Baumgartner geblieben und hatte ihm geholfen, während er in einer fürchterlichen Vorahnung dessen, was er vorfinden würde, zu der Lagerhalle gefahren war. Er kannte die Halle, sie war eines der vielen Verstecke der Gruppe. Er kannte Berger inzwischen lange genug, und wenn der das endgültige Ende drohen sah, würde er alles aufbieten, um doch noch zu gewinnen. Er wusste, seine Töchter würden Berger als Mittel dienen um ihn zu treffen.
Er sah jetzt hoch, als er Schritte hörte. Die Sorge und die Angst waren Nami ins Gesicht geschrieben, als sie auf sie zukam. „Vater, Hitomi,...was ist passiert? Sie haben mir nur gesagt, dass...!“ Sie stoppte, als sie ihre Schwester genauer ansah und das Blut bemerkte.
„Hitomi,...was zum Teufel haben sie mit dir getan?!“, fragte sie, während sie ihre Schwester umarmte und ihr besorgt eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn strich. Noch bevor Hitomi oder Michael irgend etwas antworten konnten, kam ein Arzt auf sie zu.
„Sie hat großes Glück gehabt.“, meinte er auf Deutsch. „Die Klinge ist an ihrem Herz vorbei gegangen und hat keine irreparablen Schäden verursacht. Wir konnten den Blutverlust wieder wettmachen, sie wird zwar noch eine ganze Menge Ruhe brauchen, aber sie wird keine bleibenden Schäden davontragen.“
Hitomi fühlte sich, als wäre das Damoklesschwert, das über ihrer aller Köpfe - besonders über ihrem - gehangen hatte, in allerletzter Sekunde zurückgezogen worden. Sie war beinah zur Mörderin ihrer eigenen Schwester geworden, egal, ob sie aus Notwehr gehandelt hatte oder nicht. Sie hatte kaum bemerkt, wie ihr Vater gerade eben aufgestanden war und hörte ihn jetzt auch nur kaum fragen: „Können wir zu ihr?“ Der Arzt nickte.

Die Sonne war schon längst untergegangen, Assayah’s Uhr zeigte 21 Uhr. Seit einigen Minuten schon stand sie mit verschränkten Armen am Geländer der steinernen Brücke und sah auf die zugefrorene Fläche des kleinen Sees hinaus. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft in den Park, in dem sich auch um diese Uhrzeit noch Menschen außer ihr selbst aufhielten.
Ihr war sofort klar gewesen, was Hitomi vorhatte, als sie die Waffe auf den Hageren anlegte. Sie hatte gewußt, sie hätte sie nicht aufhalten können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte irgendwie nicht das Recht gehabt, da einzugreifen, auch wenn sie es als Polizistin eigentlich unter allen Umständen hätte verhindern sollen. Sie hatte den leblosen, blutigen Körper von Love auf dem Boden liegen sehen, und sie war stehen geblieben. Was immer da zwischen den Schwestern und dem Hageren sein mochte, Hitomi musste ihre Entscheidung allein treffen.
Als der Hagere den Namen Heintz genannt hatte, war ihr für einen Moment der Atem gestockt. Also waren die Katzen, diese drei Schwestern, wirklich die Töchter dieses Malers...! Hatte der Detective also doch recht gehabt mit seiner Vermutung? Ja, das hatte er wohl. Vielleicht wusste er es sogar genau, vielleicht hatte er schon vor einer ganzen Weile Hitomi und ihre Schwestern als Katzen erkannt. Wenn dem so war, deckte er sie nicht nur, sondern half ihnen auch bei ihren Diebstählen.
Sie war hier her gekommen, um Katzenauge endgültig zu enttarnen, doch die Dinge hatten irgendwie eine seltsame Wendung genommen. Hitomi hatte selbst zugegeben, dass sie gelogen hatten, doch der springende Punkt war, warum sie gelogen hatten. Hitomi hatte etwas davon gesagt, dass der Hagere ihren Vater 40 Jahre lang gejagt hätte. Vielleicht war er deswegen verschwunden, und seine Töchter waren zu Kriminellen geworden, um ihn zu suchen. Das Rätsel war nur, warum Heintz gejagt wurde.
Doch das war für sie auch eigentlich unwichtig, denn sie hatte, was sie hatte haben wollen. Die drei würden sich der Verhaftung nicht widersetzen, sie würden nicht mehr leugnen, das wusste sie. So einfach war es aber nicht, das wurde ihr in diesem Moment klar. Vielleicht war es der hilflose, angsterfüllte Ausdruck, den sie in Hitomi’s Blick während des Kampfes mit ihrer Schwester gesehen hatte, vielleicht waren es ihre leeren und ausdruckslosen Augen, als sie Love für tot gehalten hatte, vielleicht war es auch nur die Tatsache, dass die Katzen nicht bloße Diebe, sondern sehr viel mehr waren.
Hitomi schien nicht nur die raffinierte Diebin zu sein, für die sie sie bis jetzt gehalten hatte, sondern vor allem wie ihre Schwestern die Tochter eines Vaters, die alles tun würde, um ihn wiederzufinden. Sie hatte vermutlich niemals gern gelogen, besonders nicht Detective Uzumi gegenüber, aber den Weg, den sie alle drei gegangen waren, war dennoch falsch gewesen. Jedoch hatten sie am Ende gefunden, was sie gesucht hatten, und, wenn sie richtig annahm, gleichzeitig Jahrzehntelange Verbrechen ans Tageslicht gebracht.

Sie schüttelte ärgerlich über sich selbst den Kopf. Die ganzen Überlegungen halfen ihr nicht, sie saß weiterhin in einer Zwickmühle. Sie konnte jetzt zum Krankenhaus fahren und die beiden Schwestern verhaften, es war sogar ihre Pflicht als Polizistin. Nahm sie dabei aber nicht Heintz seine Töchter in dem selben Augenblick weg, in dem er sie wieder hatte? Durfte sie solche gefährlichen Gedanken überhaupt haben? Wenn sie sie nicht verhaftete, wenn sie die Diebe schützte, die sie nun schon seit zweieinhalb Jahren verfolgte, machte sie sich dann nicht zur Mitschuldigen?
Oder würde sie sich besser fühlen, wenn sie die beiden abführte und Heintz damit seine Töchter wegnahm?

Als Hitomi durch die Tür trat, sah sie ihre Schwester dort liegen. In dem Raum standen ein Bett, und viele medizinische Geräte - ein EKG, eine Lungenmaschine und noch einiges mehr. Sie gaben ein leises, konstantes Piepsen von sich, das anzeigte, dass mit dem Menschen, der in dem Bett lag, zur Zeit alles in Ordnung war. Zumindest so lange sie an die Maschinen angeschlossen war.
Sie war sich sicher gewesen, dass sie ihre Schwester umgebracht hatte, bis Assayah gerufen hatte, dass sie noch am Leben war. Egal, warum sie plötzlich das Messer in der Hand gehalten hatte, sie hatte es getan. Sie war dafür verantwortlich, dass ihre Schwester jetzt hier lag. Sie hatte sich nur verteidigt, aber das löschte nicht das schreckliche Bild ihrer regungslos auf dem Boden liegenden Schwester, das sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatte.
Sie blieb stehen und starrte einige Sekunden lang ins Nichts.
„Wer hat das getan?“ Sie hörte die Stimme ihrer älteren Schwester kaum, sah auch nur aus den Augenwinkeln, wie diese eine Hand zur Faust ballte. Sie hatte ihren Zorn verdient, mehr noch haßte sie sich selbst. Dafür, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Dafür, dass sie keinen anderen Weg gefunden hatte, um ihre Schwester zur Vernunft zu bringen. All ihre Kampferfahrung, ihre Kraft und ihre Schnelligkeit hatten ihr nichts genützt, sie hatte sich die Kontrolle nehmen lasen, hatte Berger genau in die Hände gespielt.
„Ich...ich habe sie fast umgebracht...!“ Ihr war kaum bewußt, dass sie das sagte. In ihrem Kopf wiederholten sich die Szenen von vorhin, der Schrei ihrer Schwester hallte noch einmal in ihrem Ohr wieder. Ihr eigener Schock und ihre Weigerung, das zu glauben, was vor ihren Augen geschah.
Erst die Stimme ihrer Schwester brachte sie in die Gegenwart zurück. „Was?!“
Hitomi wagte weder dem Blick von Nami oder ihrem Vater zu begegnen, als sie eine Hand in einer hilflosen Geste leicht hob, sie zu einer Faust schloß und wieder öffnete.
„Ich hab’ das Messer in der Hand gehalten, und...!“ Ihre Stimme verlor sich, sie trat auf die bewußtlos daliegende Love zu. Sie schien so friedlich, fast so, als wären die letzten Stunden nie geschehen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah sekundenlang nur geradeaus.
Sie spürte die Hand ihrer Schwester auf ihrer Schulter und sah zu ihr hoch. Sie bemerkte die Tränen in ihren eigenen Augen kaum. Konnte sie ihr das verzeihen, konnte sie sich das selbst verzeihen? Sie sah wieder geradeaus, während sie ihnen erzählte, was sich in der Halle abgespielt hatte.

Nachdem ihre Schwester fertig war, sah Nami für einige Sekunden aus dem Fenster, an dem sie inzwischen stand. Die Gedanken in ihrem Kopf waren ein einziges Chaos. Sie waren am Ziel, sie hatten es geschafft. Aber zu welchem Preis? Sie hatten beinahe ihre Schwester verloren. Sie war zwar am Leben, aber für was? Assayah würde kommen und sie verhaften. Sie waren der Katastrophe schon öfter sehr nahe gewesen, doch nur einmal so nahe wie jetzt. Toshi hatte damals Hitomi enttarnt, der Fall hatte jedoch eine Wende genommen, weil er Hitomi wirklich liebte und das Risiko einging, sie zu decken.
Assayah war schon immer die größte Gefahr gewesen, die ihnen von Seiten der Polizei gedroht hatte. Sie wartete nur auf die Gelegenheit, die Schlinge um ihren Kopf zuziehen zu können.
„Es ist endgültig vorbei, Vater.“, sprach Hitomi in diesem Moment aus, was sie selbst dachte. „Wir sind verantwortlich für das, was wir getan haben. Es gibt keinen Weg daran vorbei.“
Michael stand auf. „Nein,...ich habe euch schon einmal verloren. Ich lasse nicht zu, dass sie mir meine Töchter noch einmal wegnehmen!“
Er sah zwischen ihnen beiden hin und her. In seinen Augen waren die Angst, die Entschlossenheit und die Weigerung zu sehen, das zu akzeptieren, was sie selber schon längst als letzte Konsequenz akzeptiert hatten.
„Sie hat recht. Wir haben das, was am Ende passieren kann, von Anfang an gewußt.“, meinte Nami und wandte ihren Blick vom Fenster ab.
„Aber ihr habt das Ganze nur wegen mir getan. Ich hätte es niemals ohne euch geschafft. Ihr seid keine Kriminellen, das müssen die doch berücksichtigen!“
„Sie werden es berücksichtigen.“ Hitomi holte bei ihren Worten eine ihrer Karten aus der Tasche und hielt sie so zwischen zwei Fingern, als wollte sie sie werfen.
„Aber das ändert nichts daran, dass wir die Gesetze gebrochen haben. Egal mit welchem Motiv, wir sind immer noch Diebe. Assayah ist seit Jahren hinter uns her, aber wir waren am Ende immer besser als sie. Diesmal waren wir es nicht...!“

„Nein, diesmal nicht.“ Niemand von ihnen hatte die Person bemerkt, die auf der Türschwelle stand und Hitomi’s Worte wiederholt hatte.
Hitomi war inzwischen aufgestanden, einige Sekunden sahen sich die beiden nur an. Beide waren sich zum selben Zeitpunkt bewußt, dass sie jeweils einem alten Gegenspieler gegenüberstanden. Irgendwann hatte es zu diesem Punkt kommen müssen, alle Kämpfe der letzten Jahre hatten zwangsläufig auf diese endgültige Konfrontation hinauslaufen müssen.
Die Stille schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Hitomi schließlich dieses eigenartige Schweigen unterbrach. „Worauf warten Sie noch?!“ In ihrer Stimme lag Bitterkeit, sie wandte ihren Blick nicht von dem Assayah’s ab, während sie die Karte immer noch in der gesenkten Hand hielt.
Die Katzen waren geschlagen, sie alle wussten das. Trotzdem stand sie ihr jetzt so aufrecht gegenüber. Sie hatte das Gefühl, etwas anderes hätte die Polizistin von ihr auch gar nicht erwartet.
Assayah erwiderte nichts, sondern trat nur wortlos an Hitomi vorbei und an die bewußtlose Love heran. „Es tut mir leid, dass das so passiert ist.“ Ihr Blich ruhte unverändert auf der Bewußtlosen.
Das hatten die beiden Schwestern am wenigsten als Reaktion von ihr erwartet. Sie wirkte nicht so kaltblütig wie sonst, sondern irgendwie anders. Schließlich wandte die Polizistin ihren Blick ihrem Vater zu, der bis jetzt stumm das Geschehen verfolgt hatte.
„Ich habe Sie immer für einen Geist gehalten.“ Sie drehte sich zu Hitomi um und zog eine der Karten der Katzen aus der Tasche, sie betrachtete sie einige Sekunden wortlos.
„Wer hätte das gedacht.“, meinte sie anschließend fast wie zu sich selbst. Sie legte die Karte auf einen kleinen Tisch und sah Hitomi wieder an, die immer noch schweigend dastand.
„Ich habe die Karte mitgenommen, bevor irgend jemand sie bemerkt hat. Niemand wird die Katzen mit dem Vorfall in Verbindung bringen. Ich kehre nach Tokio zurück,...passen Sie auf sich auf.“
Bevor irgend einer reagieren konnte, war sie aus der Tür und verschwunden. Die Schwestern sahen sich an, die Verwirrung stand beiden ins Gesicht geschrieben. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet.

Auf dem Gang holte Hitomi die Polizistin ein. „Warum tun Sie das?“
Assayah blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Einen Moment lang sahen sie sich wieder nur an. „Ich weiß es selbst nicht.“, antwortete sie schließlich. „Ich habe damals dem Detective mit seiner Theorie um Ihren Vater nicht geglaubt. Ich hätte es wohl besser getan. Er war vielleicht der einzige, der zumindest versucht hat zu verstehen. Wenn ich Sie jetzt nicht verhafte, dann nur deswegen, weil ich zum ersten Mal in den Katzen die Töchter eines Vaters sehe. Das soll aber nicht heißen, dass das alles Bisherige entschuldigt, und ich schwöre Ihnen, wenn die Katzen noch einen einzigen Diebstahl begehen, werde ich Sie verhaften.“
Damit wandte sie sich um, blieb aber noch einmal stehen und sah sie an. „Der Detective weiß es, oder?“
Hitomi nickte nur. Assayah schien nicht sonderlich überrascht zu sein. „Ich dachte es mir.“

Es war später Abend, fast schon Mitternacht. Sie waren so lange bei Love geblieben, wie man es ihnen erlaubt hatte. Michael saß in einem Stuhl, zeitweise lugte der Mond hinter der Wolkendecke hervor und schien durch das Fenster hinein, an dem er saß. Seine beiden Töchter waren gleich nachdem sie im Hotel angekommen waren erschöpft in einen tiefen Schlaf gefallen. Er selbst war auch müde, aber er wollte sich nicht hinlegen. Zu große Angst hatte er davor, dass sie nicht mehr da sein würden, wenn er aufwachte. Dass alles nur ein Traum gewesen sein könnte.
So saß er also hier und sah auf die beiden friedlich daliegenden Frauen. Er wusste, Hitomi fühlte sich schuldig am Zustand ihrer jüngeren Schwester. Er war nicht dabei gewesen, aber nach allem, was sie ihnen erzählt hatte, war es ein Unfall gewesen. Trotzdem wusste er, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie darüber hinweg kommen würde.
Die drei hatten sehr genau gewußt, was für Gefahren sie eingingen und welche Opfer sie würden bringen müssen, als sie Diebe wurden. Doch sie hatten niemals die dunkle, grausame und abgrundtiefe Wahrheit ahnen können, die sie noch erfahren würden. Niemals hätten sie das bizarre Szenario erahnen können, in das Berger sie gezwungen hatte.
Er haßte ihn dafür, dass er seinen Töchtern so etwas angetan hatte. Er haßte ihn für die Ungewißheit, die Angst und den Schmerz der letzten Jahre. Berger würde sein Urteil bekommen, er würde für den Rest seines kläglichen Lebens keinen Fuß in die Freiheit setzen.
Das alles war vorbei, das alles lag hinter ihnen. Das Leben auf der Flucht war vorbei. Fast schon kam es ihm komisch vor. Obwohl es noch eine Weile dauern würde, bis er sich nicht mehr bei jedem kleinsten Geräusch umsehen würde, konnte er jetzt wieder anfangen, ein normales Leben zu führen.
Er wusste, das würde nicht einfach werden. Er hatte so viel nachzuholen, so vieles über seine eigenen Töchter zu lernen. Die letzten Jahre hatten sie sicher in mehr als einer Hinsicht verändert. Sie hatten für ihn alles aufs Spiel gesetzt, ihr Leben, ihre Freiheit...! Er konnte nur versuchen zurückzukehren und ihnen wieder ein guter Vater zu sein - etwas, was er die letzten sechseinhalb Jahre lang nicht hatte sein können.

Was wäre gewesen, wenn es nicht so glücklich geendet hätte? Wenn diese Polizistin seine Töchter verhaftet hätte, wenn man sie in Handschellen abgeführt hätte...! Das hätte er nicht ertragen.
Er hatte vorhin die Resignation in den Augen seiner beiden Töchter gesehen, sie waren bereit gewesen, die Konsequenzen zu tragen. Jedesmal, wenn sie eines seiner Stücke stahlen, war diese Gefahr dicht neben ihnen gewesen.
Er wusste, sie wollten nicht, dass er sich für ihre Entscheidung damals verantwortlich fühlte. Aber Tatsache
war und blieb, dass ohne ihn nichts von alledem passiert wäre.

Sein Blick fiel wieder auf die friedlichen Gesichter der beiden. Oh hör’ auf, du alter Narr...!, dachte er dabei, und ein Lächeln trat in sein Gesicht. Du bist zurück bei ihnen, das alleine zählt.
Sie waren wahrhaftig um so vieles älter geworden, sie waren erwachsen geworden. Es war für einen Vater nicht einfach, so einen riesigen Schritt in so kurzer Zeit zu tun. Doch er wusste, dass er es schaffen würde, mit ihrer Hilfe.

Die Sonne schickte gerade ihre ersten Strahlen über den Horizont, als Hitomi die letzten hundert Meter bis zum Krankenhaus zu Fuß lief. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, war sie vor ihrer Schwester und ihrem Vater aufgewacht. Sie hatte eigentlich keine Ahnung, warum sie nach den ganzen Anstrengungen der letzten Tagen um diese frühe Stunde schon auf den Beinen war, aber sie konnte nicht mehr schlafen und musste irgendwie Klarheit in ihren Kopf bekommen.
Auf einmal schien es vorbei zu sein, all die ganze Unsicherheit der letzten Jahre war mit einem Mal nicht mehr existent. Sie hatte ihren Vater gerade eben gesehen, in seinem Gesicht war ein Ausdruck von Frieden gewesen. Sie wäre am liebsten den ganzen Tag so stehen geblieben und hätte ihn nur angesehen, nachdem sie ihn so lange Jahre nur in ihrer Erinnerung und auf Fotos gesehen hatte, aber sie musste jetzt erst mit sich und den Erinnerungen von gestern ins Reine kommen. Mehr unbewußt hatte sie die Richtung zum Krankenhaus eingeschlagen. Als sie es merkte, fürchtete sie sich fast vor dem Zusammentreffen mit ihrer jüngeren Schwester. Zwar würde Love wahrscheinlich noch nicht wach sein, aber schon ihr fragender Blick, als das Messer zwischen ihren Rippen hervorragte, und der sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatte, reichte.
Wenige Minuten später stand sie am Fensterrahmen gelehnt und blickte gedankenverloren auf das Gesicht ihrer immer noch bewußtlosen Schwester. Sie drei waren im Laufe der Jahre schon so oft in Lebensgefahr geraten, man hatte sie gefangen genommen, gejagt oder mit allen möglichen Waffen und Fallen angegriffen, und sie waren immer entkommen. Mehr als einmal waren sie in den letzten Jahren über die eine oder andere Sache in Streit geraten, aber sie hatten am Ende immer zusammen erreicht, was sie sich vorgenommen hatten. Berger hatte das gewußt und genau das gegen sie verwendet. Ihre Schwester hätte sie niemals freiwillig angegriffen, also hatte er sie dazu gezwungen. Sie hatte das Gefühl, als würden die Bilder niemals aus ihrem Kopf verschwinden, als würde sie immer noch diese lähmende Erkenntnis spüren, dass sie zur Mörderin an ihrer eigenen Schwester geworden war. Sie wusste zwar im selben Moment, dass jetzt alles wieder in Ordnung kommen würde, doch das löschte die Erinnerung nicht.
Sie saß inzwischen neben der Schlafenden. „Ich wäre fast zum zweifachen Mörder geworden da drin...!“, meinte sie leise und zu niemandem direkt. „Innerhalb einer Sekunde hat sich alles verändert.“
„Du wirst mir doch jetzt nicht sentimental werden, oder?“, riß sie jäh aus ihren Gedanken. Hörte sie jetzt schon Stimmen? Als sie den Kopf drehte, sah sie ihre jüngere Schwester zu ihr blicken, der Ausdruck in ihren Augen war klar und wieder völlig normal. Einige Sekunden lang sahen sie sich beide nur an, dann grinste Hitomi erleichtert: „Du würdest selbst im Tod noch solche Sachen sagen...!“
„Ich bin ja nun doch noch nicht tot.“, grinste ihre Schwester mit gespielt empörtem Tonfall zurück.
Hitomi wandte ihren Blick ab. „Nein,...aber fast wärst du es gewesen....!“
Die letzten Sekunden ihres Kampfes liefen in Gedanken an ihr vorbei, und sie schloß, wie um diese schmerzvollen Erinnerungen zu vertreiben, für einen Moment die Augen. Dann stand sie auf und trat zum Fenster hin. Während sie hinaussah, den Anblick aber kaum wahrnahm, meinte sie leise: „Wie man es auch sieht, ich habe dich beinah umgebracht...!“
„He, immerhin war ich es, die mit einer Stange und einem Messer auf dich losgegangen ist.“
„Ja, aber du standest auch unter Drogen.“ Sie stockte kurz. „Ich habe zu spät erkannt, was Berger vorhatte. Ich habe genau das getan, was er wollte,...ich habe die Kontrolle verloren...!“
„Du hast dich nur verteidigt, gib dir nicht die Schuld.“
Hitomi fuhr herum. „Doch, ich hätte verhindern können, dass es so weit gekommen ist! Durch all die Jahre, die wir jetzt schon Katzen sind, hätte ich genügend Erfahrung haben müssen!“
„Nichts und niemand hätte dich auf das vorbereiten können...!“ Nach einigen Sekunden der Stille fuhr sie fort: „Ich habe versucht, mich gegen diese fremde Stimme in meinem Kopf zu wehren, die sie mir irgendwie gegeben haben, aber sie war zu stark. Ich...ich konnte nichts gegen sie tun, ich konnte nur daneben stehen und zusehen. Es war, als hätte nicht mehr ich, sondern jemand anderes die Kontrolle über mich,...und ich musste mit ansehen, wie ich dich ein ums andere Mal angriff...! Du hast die ganze Zeit versucht, mich zur Vernunft zu bringen. Berger ist der Schuldige, nicht du.“
Hitomi senkte den Blick. „Als ich dachte, du wärst tot,...da hab ich Berger fast umgebracht...! Ich konnte nur daran denken, dass er für alles verantwortlich war...und hab ihn beinah erschossen.“
Ihr wurde erst jetzt richtig bewußt, wie haarscharf sie am Überschreiten der endgültigen Grenze drangewesen war.
„Was ist mit Vater?“ Die Frage riß sie aus ihren dunklen Gedanken, lächelnd trat sie wieder zu ihrer Schwester heran und setzte sich neben sie auf den Stuhl.
„Ihm geht es gut, wir sind noch rechtzeitig gekommen. Alles ist in Ordnung.“
Die überraschte und übermütige Freude standen ihrer Schwester ins Gesicht geschrieben. Wenn ihr gegenwärtiger Zustand das erlaubt hätte, wäre sie vor Freude durch den Raum gesprungen, das sah Hitomi ihr deutlich an.
Im selben Moment verfinsterte sich das Gesicht ihrer Schwester aber auch wieder. Sie senkte den Kopf und meinte leise: „Es ist vorbei, oder? Assayah hat uns gesehen, sie wird uns verhaften...!“
Hitomi lächelte. „Nein, es ist nicht vorbei.“ Als Love erstaunt den Kopf hob und sie ungläubig ansah, fuhr sie fort: „Ich kann immer noch nicht richtig begreifen, warum sie es getan hat, aber Assayah verhaftet uns nicht.“
„Wieso sollte sie das tun,...nach allem, was passiert ist?“
„Sie sagte etwas davon, dass sie zum ersten Mal in den Katzen die Töchter eines Vaters sähe...!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Warum auch immer sie uns beschützt, wir sollten dankbar dafür sein.“

„Der Skandal um die Schweizer Nationalbank und die damit in Verbindung stehende Unterschlagung von Nazigold in den 40er Jahren zieht immer weitere Kreise. Das FBI wurde ebenfalls hinzugezogen, was eine globale Verzweigung immer wahrscheinlicher werden läßt. Nachdem vor knapp zwei Wochen schon Geschäfts – und Büroräume, sowie zahlreiche Privathäuser im In – und Ausland durchsucht wurden, gestanden heute angesichts einer erdrückenden Beweislast die führenden Köpfe der kriminellen Vereinigung, über deren Mitglieder und weitere Verbrechen immer noch keine detaillierten Angaben gemacht wurden. Wegen der vor zwei Wochen verhängten Nachrichtensperre, die immer noch in Kraft ist, wurden ebenfalls noch keine genaueren Angaben über den oder die Informanten gemacht. Aus Gründen der persönlichen Sicherheit des oder der Informanten, sei auch damit zu rechnen, dass er oder sie unter Zeugenschutz gestellt würden, das heißt, die Öffentlichkeit würde den wahren „dritten Mann“ niemals zu Gesicht bekommen...“
Michael faltete lächelnd die Zeitung zusammen, als er seine Töchter kommen sah. Die letzten zwei Wochen waren die besten und glücklichsten gewesen, die er seit sechseinhalb Jahren erlebt hatte. Es war zwar am Anfang für ihn und – so vermutete er – auch für die drei etwas schwierig gewesen, richtig zu realisieren, dass es vorbei war. Er war nicht mehr auf der Flucht und sie nicht mehr auf der Suche. Baumgartner hatte alle Dinge in die Hand genommen, er war auch der geheimnisvolle Informant, von dem die Zeitungen sprachen. Er hatte ihm versprochen, weder seinen noch den Namen seiner Familie preis zu geben. Er würde das dem Anwalt niemals vergessen, der schon seit sechseinhalb Jahren für ihn Kopf und Kragen riskierte. Es wurde nicht nur in den Zeitungsberichten viel spekuliert über den Informanten und was für ein Verhältnis er zu der Gruppe hatte, aber trotz der vielen Thesen, die inzwischen schon aufgestellt worden waren, würde niemals jemand hinter das Geheimnis des Malers und seiner Töchter kommen. Und die, die es wussten, schwiegen.
Genauso wie der junge Detective, der den dreien nun schon seit über drei Jahren auf den Fersen war. Hitomi hatte ihm von dem Ereignis erzählt, das ihn die Wahrheit über die Katzen hatte erkennen lassen. Er hatte in den letzten Wochen auch Zeit mit dem Detective verbracht, der ihm einiges über seine Töchter und die Katzen erzählt hatte. Die drei waren die ganzen Jahre durch die Hölle und zurück für ihn gegangen, und dabei war Hitomi immer zwischen dem Detective, den sie liebte, und ihm, ihrem Vater, hin- und hergerissen gewesen.
Er kam mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück, als Love zu Toshi, der neben ihnen stand, meinte: „Ich frage mich, wie eure Leute die ganzen Wochen ohne unsere Mithilfe überstanden haben...!“
In Toshi’s Blick war gespielte Entrüstung zu sehen. „Willst du etwa sagen, dass wir ohne euch nicht in der Lage gewesen wären, die Typen zu schnappen, die ihr uns geliefert habt?!“
Ein dreifaches, gleichzeitiges „Ja!“ war die Antwort. Gegen diese Übermacht konnte er nichts ausrichten und zuckte nur grinsend mit den Schultern, während Michael amüsiert den Wortwechsel beobachtete.
„Was immer ihr sagt, was immer ihr sagt...!“ Mit diesen Worten wandte er sich ihnen voraus dem Eingang zum Flugsteig zu. Ihre Maschine würde in einer halben Stunde Schweizer Boden verlassen, und dann konnten sie endlich wieder anfangen, ein halbwegs normales Leben zu führen. Was immer normal mit diesen dreien auch heißen mochte.

Ende

Yep, das war meine vielleicht etwas abwegige Vorstellung, wie es nach der 73. Folge hätte weitergehen können. Wenn’s euch gefallen hat, oder wenn ihr irgend welche Kritik habt, schickt mir ‘ne mail nach merbama.globisch@nwn.de

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